Der Aufschwung ist da, die Ökonomen jubeln über unverhofft stolze Wachstumsraten im zweiten Quartal. Doch Vorsicht ist geboten, zunächst einmal geht es nur um Quartalszahlen – bezogen auf die ersten drei Monate des Jahres 2010, nicht etwa das Vorjahresquartal. Messbares Wachstum hat im zweiten Quartal angezogen – in einigen Exportbranchen kräftig. Würde das so bleiben, könnte die deutsche Wirtschaft den kolossalen Einbruch von 2008/09 bis Ende 2011 wettmachen. Doch was spricht dafür?
Bei dem schwachen Kurzzeitgedächtnis deutscher Spitzenpolitiker und Wirtschaftsjournalisten überrascht es nicht, dass sie den angeblichen „Aufschwung“ vom Dezember 2009 schon vergessen haben: Damals schraubte sich das Wachstum plötzlich auf ein Plus von drei Prozent im Vergleich zum Vormonat. Großes Schulterklopfen bei Schwarz-Gelb, nur kam ab Januar der Schwung aus ähnlichen Gründen abhanden, die auch jetzt zur Zurückhaltung mahnen. Deutschland lebt vom Export und von der Konjunktur der anderen.
Keine Konjunktur irgendwo
Mehr denn je gilt der Außenhandel als Wundertäter, weil einheimische Exportunternehmen dabei sind, einen Teil des Einbruchs aus dem Vorjahr von fast einem Fünftel der Ausfuhren zu kompensieren. Nur sollte man nicht vergessen, Deutschland ist von allen exportstarken Industrienationen die exportabhängigste mit einer Ausfuhrquote von mehr als 40 Prozent – im Maschinen- und Fahrzeugbau, in der pharmazeutischen und Elektroindustrie sogar von 50 bis 60 Prozent.
Dieser so genannte „Offenheitsgrad“ ist drei mal höher als bei Japan oder den USA, doppelt so hoch wie in Frankreich oder Großbritannien. Keine Konjunktur irgendwo muss sich mehr den Schwankungen des Weltmarkts anpassen als die in Deutschland. Anders als in den USA, in Frankreich, in Großbritannien, ja selbst in Japan ist in der Bundesrepublik der Anteil des Außenbeitrags (Nettoexports) am Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) ständig höher als der Anteil der Binnennachfrage. Und diese Außenhandelsabhängigkeit ist während der zurückliegenden Jahre rasant gestiegen.
Daraus folgt: Es „brummt“ bei uns nur, solange sich Absatzmärkte bieten. Daraus folgt weiter: Kein Land kann sich eine Wirtschaftspolitik auf Kosten seiner Partnerländer so wenig leisten wie Deutschland. Es müsste Vorreiter einer europäischen und internationalen Wirtschaftskooperation sein. Weil das Spiel aber Kapitalismus heißt, sind die Handelspartner zugleich Konkurrenten. Frankreich als Nr. 1, dann folgen mit Abstand die Niederlande und fast gleichauf die USA und Großbritannien. Vier Plätze weiter residiert China (bei den Einfuhren Deutschlands zweitwichtigster Handelspartner, noch vor Frankreich/s. Übersicht). Vor der Weltrezession 2008/09 hielten die Vereinigten Staaten als Abnehmer deutscher Exporte noch Rang zwei, China rangierte seinerzeit auf Position elf.
Sichert die EU Deutschland die nötige Ausfuhrstabilität, weil auch deren Mitgliedsstaaten einen Aufschwung erleben? In Griechenland sorgt die Sparpolitik der eisernen Hand erwartungsgemäß für Depression, um mindestens 1,5 Prozent schrumpft dessen Ökonomie in diesem Jahr. Die Regierungen in Paris, London, Den Haag, Madrid oder Rom sparen wie die Teufel, lassen ihre Konjunkturprogramme spätestens 2010 auslaufen und schröpfen ihre Binnenmärkte. Davon abgesehen bemühen sich Franzosen und Briten nach Kräften, den Deutschen Anteile am Weltexport abzujagen – ganz im Sinne der Lissabon-Strategie. Und da die hiesige Exportindustrie bis auf einige Ausnahmen (etwa in den Branchen Solar-und Windenergie) bei den Hochtechnologie-Ausfuhren keineswegs dominiert, wird ihnen das auch gelingen. Im Moment nämlich wird der so genannte Lagerzyklus absolviert, werden konjunkturfördernd Warendepots aufgefüllt und Ersatzinvestitionen getätigt. Die industrielle Produktion in der Eurozone aber schwankt mit einem Abfall im Juni und einem Aufwärts im Juli – ein stabiler Aufschwung sieht anders aus.
Vor dem zweiten Taucher
Und die USA? Sehen sie sich (s. Übersicht) vor einer Erholung oder dem zweiten Taucher in rascher Folge? Rezession statt Konjunktur – trotz Barack Obamas Konjunkturprogramm von 787 Milliarden Dollar, das im Vorjahr aufgelegt wurde?
150 US-Banken mussten 2009 schließen – in diesem Jahr sind es per 1. August bislang über 100 Institute. Der gesamte Wohnungsmarkt stagniert oder schrumpft, der für Gewerbeimmobilien bleibt die erhoffte Regeneration schuldig. Im gesamten Land werden Räumungen und Zwangsverkäufe fortgesetzt, ganze Nachbarschaften brach gelegt, so dass nach den Industriezentren die Vorstädte verfallen. Überschuldete Privat-Haushalte sparen, was das Zeug hält – und die Jobkrise geht ungebremst weiter.
Was die US-Unternehmen derzeit tun: erstens Kapital im Ausland anlegen, zweitens rationalisieren (also Arbeitsplätze abbauen), drittens ihre eigenen Aktien aufkaufen, um sich vom Kapitalmarkt abzukoppeln. Keine Überraschung, dass die Jobverluste rascher wachsen als alles andere. Anfang 2010 wurden 180.000 neue Arbeitsplätze gefeiert, was man durchaus tun kann, falls die acht Millionen verdrängt werden, die seit Beginn der Krise abhanden kamen. Jeden Monat wackeln derzeit in den USA bei den Erstanträgen auf Arbeitslosengeld die Rekorde (im Juli waren es fast eine halbe Million, Tendenz steigend). Weitere 131.000 Jobs sind nach den jüngsten Zahlen im Juli verloren gegangen, über 15 Millionen offiziell, de facto aber handelt es sich um mehr als das Doppelte.
Die Sorge um eine sich erneut global auswirkende Wachstumsschwäche der US-Ökonomie ist keinem Konjunkturpessimismus geschuldet, sondern dem Ausfall des Katalyators Staat. Der darf ein Haushaltsdefizit von zehn Prozent, gemessen an der Wirtschaftsleistung, nicht weiter in die Höhe treiben, wollen die USA das Schicksal Griechenlands vermeiden.
Bankrott wie Kalifornien
Vor vier Wochen ließ ein heftiger Streit zwischen den drei großen Rating-Agenturen weltweit die Eingeweihten hochschrecken: Eine chinesische Agentur hatte die Kreditwürdigkeit der USA gleich um zwei Stufen auf AA herabgesetzt. Sollte man sich dem anschließen oder nicht? – Zahlreiche US-Bundesstaaten und -Kommunen stehen schließlich kurz vor der Pleite oder sind schon bankrott wie Kalifornien. Bis 2013 wird das Volumen der Finanzhilfen aus der US-Bundeshauptstadt für die klammen Mitglieder der Föderation auf mindestens eine Billion Dollar geschätzt. Das dürfte – an den verfügbaren Zahlen gemessen – viel zu wenig sein, da in Hochschulden-Staaten wie New Jersey, Nevada, New Mexico und Ohio die Steuereinnahmen schon jetzt vom Tilgungs- und Zinsendienst aufgefressen werden. Dem Internationalen Währungsfonds (IWF) blieb nichts anderes übrig, als in seinem Jahresbericht 2009 die Vereinigten Staaten für bankrott zu erklären. Denn um deren strukturelles Defizit auf Dauer zu decken, müssten binnen kurzem die Steuereinnahmen verdoppelt werden. Wer rechnet ernsthaft damit angesichts einer Jobkrise, die den Binnenmarkt stranguliert, den mit weitem Abstand wichtigsten Wachstumsfaktor für die US-Ökonomie? Weitere Konjunkturprogramme sind für Barack Obama politisch nicht durchsetzbar und noch weniger finanzierbar.
So bleibt für Deutschland nur China als zuverlässiger Partner. Die Regierung von Ministerpräsident Wen Jiabao hat das größte Konjunkturprogramm aller Zeiten aufgelegt, so dass die deutsche Wirtschaft mehr denn je von der Absorptionskraft des chinesischen Marktes profitiert – vom dortigen Straßenbau und Eisenbahnboom, vom inzwischen größten Automarkt der Welt, von der Ausgabenfreude einer prosperierenden Mittelklasse an der Ostküste. Je mehr Einkommensmillionäre in China, desto besser für die deutsche Autoindustrie. Nur wird die Exekutive in Peking auf Dauer nicht mitspielen, tut sie doch alles, um den Boom im eigenen Land zu dämpfen und eine ausufernde, vor allem einseitige Exportfixierung zu vermeiden.
Um sich aus der Abhängigkeit von Einfuhren aus beziehungsweise Ausfuhren nach Europa und Nordamerika zu befreien, haben Chinesen, Inder, Brasilianer und Russen zwischenzeitlich eine gemeinsame Strategie. Zwischen diesen BRIC-Staaten wird die wirtschaftliche Kooperation ausgebaut, mit Weitsicht und langem Atem. Russland und China, einst verfeindete sozialistische Länder, haben noch nie so intensiv miteinander gehandelt wie heute; ganz ähnlich stellen sich die Wirtschaftskontakte zwischen Indien und China dar. Immerhin ist in Asien vor wenigen Monaten die weltgrößte Freihandelszone entstanden, ähnlich wie das den Brasilianern für Lateinamerika vorschwebt.
Erfreulich wäre es, wenn die schwarz-gelbe Regierung in Berlin auch nur ansatzweise eine vergleichbare Wirtschaftsstrategie vorweisen könnte.
Michael R. Krätke ist Professor für Ökonomie und Finanzwirtschaft an der Universität Lancaster
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