Ganz die gestrenge Mutter der Nation hat Angela Merkel in ihrer Neujahrsbotschaft den Europäern noch eine lange Zeit der Austerität in Aussicht gestellt. Die Deutschen hörten das ungerührt, in ihrer großen Mehrheit halten sie den Sparkurs samt Reformpaketen für angebracht und richtig. Die Finanzkrise gilt als Problem der anderen, die sich mit ihrem „Über-die-Verhältnisse-Leben“ selbst eingebrockt haben, was sie nun auslöffeln sollen.
In der Eurozone und darüber hinaus jedoch beginnen Ökonomen und Marktanalysten, das völlig anders zu sehen, auch wenn Hoffnungen auf eine von der sozialistischen Regierung in Paris ausgelöste Trendwende schwer enttäuscht worden sind. Aus dem Internationalen Währungsfonds (IWF), der Weltbank und der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit (OECD) kommen häufiger und lauter skeptische bis höchst kritische Töne. Zuerst wagte sich im neuen Jahr IWF-Direktorin Christine Lagarde hervor und warnte zum wiederholten Mal vor den Folgen exzessiven Sparens in der Euro-Gemeinschaft. Dann kam der Paukenschlag: Im trockenen Ton, mit allem ökonometrischen Zierrat behängt, kam von Olivier Blanchard, Chefökonom des IWF, das Eingeständnis, sich geirrt zu haben. Nicht nur ein bisschen, sondern gewaltig. Im Kern ging es um ein technisches Detail – die Größe des sogenannten Fiskalmultiplikators. Damit soll gemessen bzw. prognostiziert werden, wie stark die Auswirkungen staatlicher Ausgabenpolitik auf Konjunktur und Wachstum sind. Je höher dieser Multiplikator, desto größer die konjunkturellen Effekte, die durch ein Ausgaben-Plus oder -Minus bewirkt werden. Der Wert ändert sich im Konjunkturverlauf, ist empirischer Natur und verständlicherweise nicht für alle Zeiten und Länder gleich. Er wird in der Regel ermittelt, wenn Konjunkturzyklen abgeschlossen sind.
Über 30 Prozent Arbeitslose
Blanchard musste nun zugeben, dass er diesen Multiplikator systematisch viel zu niedrig angesetzt habe. Tatsächlich war diese Quote in den beobachteten Krisenländern Südeuropas real dreimal höher als die angenommenen 0,5 Prozent. Entsprechend fielen die negativen Effekte der Sparpolitik aus. Es gab den bekannten Teufelskreis: Je mehr gespart wurde, desto stärker fiel das Wachstum, desto rascher sanken die Steuereinnahmen, desto heftiger stiegen die Staatsschulden. In Griechenland, Spanien, Portugal und Irland sind die öffentlichen Verbindlichkeiten seit Beginn des großen Sparens im Jahr 2010 um sagenhafte 25 bis 28 Prozent gewachsen. Gleichzeitig schoss die offizielle Arbeitslosigkeit – besonders bei unter 25-Jährigen – in die Höhe und war Indikator für das Ausmaß des sozialen Elends, das Sparpolitik anrichten kann. Neu ist das freilich nicht. Gerade der IWF musste wissen, was nach stets wiederkehrendem Muster verordnete Restrukturierungsprogramme in Krisenländern anrichten. Vor zehn Jahren bereits publizierte dessen Unabhängiges Evaluierungsbüro (IEO) einen Report über 133 fiskalische Sparprogramme, die der Währungsfonds einzelnen Staaten zwischen 1993 und 2001 oktroyiert hatte. Mit anderen Worten: Die IWF-Ökonomen wussten, worauf sie sich einließen, als sie 2010 von Angela Merkel zu Kronzeugen ihrer Austeritätspolitik berufen wurden.
Auch die EU-Kommission hat mit dem jüngsten Sozial- und Beschäftigungsbericht gleich kübelweise Essig in den Wein der Austeritätsfreunde geschüttet. Was Sozialkommissar László Andor am 9. Januar vorgelegt hat, dokumentiert eine schier unüberwindliche Spaltung des Kontinents. Es driftet auseinander, was angeblich zusammengehört. Hier die Nordregion mit Deutschland, Österreich, den skandinavischen EU-Mitgliedern und den Benelux-Staaten – dort der Rest von Frankreich bis Zypern in jähem Sinkflug. Der EU-Sozialreport konstatiert, dass öffentliche Leistungen gerade dort verloren gingen, wo sie in der Krise dringend gebraucht würden – in der Gesundheitsfürsorge und Arbeitsförderung. Wenn aber Patienten in Griechenland um vieles schlechter (wenn überhaupt) behandelt werden als Kranke in Deutschland, wenn junge Spanier keine Aussicht auf Ausbildungs- oder Arbeitsplätze haben, ist es um die Integrationskraft der EU geschehen.
2013 wird in Griechenland die Erwerbslosigkeit jenseits der 30-Prozent-Marke liegen. Überall brechen die Einkommen der Normalverdiener und Lohnabhängigen ein, wiederum am stärksten in Griechenland. Um 17 Prozent in diesem Jahr, wird prophezeit. Unweigerlich entsteht eine Armutsbevölkerung, als sei man ins 19. Jahrhundert zurückgekehrt. Kein Wunder, dass EU-Kommissar Andor nach einem „Programm sozialer Investitionen“ ruft. Aber wer hört ihn schon?
Kanzlerin Merkel gefiel sich im November bei ihrem Auftritt vor dem Europäischen Parlament darin, Kritiker ihrer Austeritätsschwüre als verantwortungslos abzukanzeln. „Sie versündigen sich“, rief sie – ganz protestantische Pfarrerstochter – den Abgeordneten zu. Ob es von gutem christlichen Brauchtum zeugt, eine ganze Generation junger Europäer einem unsinnigen, vielfach widerlegten ökonomischen Dogma zu opfern, darf bezweifelt werden.
Kein Heimspiel
Ende des Monats kommen in Davos die Mächtigen der Welt zum World Economic Forum (WEF) zusammen, um sich dem Thema Elastische Wirtschaftsdynamik zuwidmen. Für die deutsche Regierungschefin dürfte es kein Heimspiel vor wärmendem Kaminfeuer werden. Zwar bleiben die Honoratioren unter sich, dafür ist gesorgt. Aber Zweifler und Gegner der Austeritätspolitik wie Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz, IWF-Chefökonom Olivier Blanchard und andere dürften diesmal mehr Gehör finden. Ändern wird das freilich wenig. Denn zu den Strukturreformen, die jetzt nötig wären, um den Karren aus dem tiefsten Dreck zu ziehen, bräuchte es Mut und Ideen. Die WEF-Klientel vertraut auf das „Weiter so“ und lässt sich von einem verlorenen Jahrzehnt nicht beirren. Verzweifeln dürfen die anderen.
Michael Krätke beschrieb zuletzt die Rentenpolitik in den Staaten der Eurozone
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