Der Glockenturm ist der schönste Ort des Klosters. Und der gefährlichste. Hoch ragt er zum strahlend blauen Himmel auf, nach allen Seiten hin offen, die schneebedeckten Gipfel des Himalaya zum Greifen nahe. Doch blickt man in den Abgrund, tut sich eine schier bodenlose Tiefe auf. Hier entscheiden nicht Götter, sondern die Menschen selbst mit einem einzigen Schritt über ihr Schicksal.
Als in Black Narcissus die ehrgeizige Schwester Clodagh (Gemma Arterton) im Jahr 1934 von der Oberin Dorothea (Diana Rigg in einer ihrer letzten Rollen) losgeschickt wird, um im Hochgebirge eine Mission zu errichten, weiß sie noch nicht, dass sie neben der dunklen Vergangenheit des ehemaligen Tempels ein Mannsbild von Verwalter (Alessandro Nivola) erwartet, das für erregende Gedanken sorgt, die nur durch Selbstzüchtigung mit der Rute im Zaum gehalten werden können.
Black Narcissus basiert lose auf Rumer Goddens Roman, der durch die Verfilmung mit Deborah Kerr von 1947 berühmt wurde, die ihrerseits wegen der Kamera-Arbeit von Jack Cardiff Legendenstatus hat: Er schuf einen der schönsten Technicolor-Filme aller Zeiten. Wenig erstaunlich also, dass sich für die Miniserie die dänische Kamerafrau Charlotte Bruus Christensen (Am grünen Rand der Welt) des Stoffes annahm und ein Seelendrama inszenierte, in dem Licht und bedeutungsschwere Farben verhängnisvoll auf die Figuren einwirken.
Black Narcissus ist eine jener Produktionen, mit denen der Streamingdienst Disney+ seine neue Plattform Star lanciert. Diese tritt seit Februar als Erwachsenenschiene des Konzerns an, der nach wie vor traditionell als Familienunterhaltung wahrgenommen wird. Im Disney-Universum verschmelzen bekanntlich mittlerweile nicht nur Marvel, Pixar, Lucasfilm, Fox und National Geographic, sondern der Maus-Konzern ist auch Mehrheitseigentümer der US-Plattform Hulu, deren geplante internationale Platzierung nun durch Star ersetzt wurde. Womit das Unternehmen neben seinem bereits existierenden Streamingdienst Disney+ (der soeben die marketingstrategisch wichtige Zahl von 100 Millionen Abonnements überschritten hat) mit einer weiteren Plattform zum Angriff auf Netflix und Amazon bläst. Spätestens jetzt drängt sich die Frage auf: Wer soll sich das noch anschauen? Und, nachdem viele Titel mittlerweile auf verschiedenen Plattformen zu sehen sind, wo am besten?
Auch Warner streamt
Die entscheidende Frage aber müsste lauten: Was bedeutet das für Hollywoods ohnehin schon vor der Pandemie einsturzgefährdetes Tentpole-System, bei dem hoch budgetierte Produktionen den schwächelnden Rest stützen sollen?
Es ist eine Frage, die sich mit der zunehmend mühsamen Diskussion über den Gegensatz von Streaming und Kino nicht so einfach beantworten lässt. Die Ankündigung des Filmstudios Warner Bros., seine Produktionen in den USA nicht mehr wie bisher zuerst im Kino, sondern gleichzeitig auf der hauseigenen Plattform HBO Max – voraussichtlich in der zweiten Jahreshälfte 2021 auch in Europa erhältlich – zugänglich zu machen, kam branchenintern jedenfalls einem Erdbeben gleich. Nicht nur, weil damit in der durch die Corona-Pandemie verursachten Krise die klassischen Vertriebsstrukturen ausgehebelt werden, sondern weil sich die anvisierte Parallelverwertung unmittelbar darauf auswirkt, welche Filme man überhaupt noch zu sehen bekommt. Denn das Angebot ist, wenig überraschend, in erster Linie eine Frage des Geldes.
Disneys neuer Star-Kanal, der „Entertainment für jede Stimmung“ (sic!) verspricht, ist sozusagen ein typisches Kind seiner Zeit: Mehr als 270 Filme, für die auf die eigene Backlist zugegriffen wird, über 50 teils klassische Serien, eine Handvoll neuer Vorzeigeproduktionen zum Start – neben Black Narcissus hat man sich David E. Kelleys prestigeträchtige Thrillerserie Big Sky geangelt – und die Ankündigung von nationalen Koproduktionen, wie sie etwa Netflix bereits praktiziert. Das klingt so, als würde strategisch alles richtig gemacht werden, verschärft jedoch jenes gravierende Problem, das Disney/Star mit der Konkurrenz aus derselben Liga teilt: Man verkauft keine Serien und schon gar keine Filme, sondern nach wie vor Abonnements.
Großproduktionen, die zuletzt für die „Rettung“ des Kinos nominiert wurden, wie Christopher Nolans Tenet oder das bereits mehrmals verschobene Bond-Abenteuer No Time to Die, werden zukünftig kaum im Wohnzimmer mit überwältigenden Ton- und Bildeffekten klotzen – und zwar nicht nur deshalb, weil im Heimkino da und dort vielleicht ein halbes Dutzend Dolby-Atmos-Boxen fehlt, sondern weil derartige Filme für das Flatrate-System der Streamingdienste schlicht zu teuer sind. Da mögen Apple und Netflix, wie kolportiert, mehrere Hundert Millionen US-Dollar für die angeblich fieberhaft erwartete Streaming-Premiere des 25. Bond-Films geboten haben: Kein Streamingdienst der Welt kann die Kosten eines solchen Films – egal ob eigenproduziert oder zugekauft – durch ein Abonnementsystem amortisieren, wenn der Vorsprung durch die Kinoverwertung, bei der pro Kopf kassiert wird, wegfällt. Das Ende der 50-jährigen Ära des Blockbusters?
Einiges deutet zumindest darauf hin. Die derzeit kursierende Idee vom Programmkino als staatlich subventioniertem Museum, das die Filmkultur wie ein Fels in der Streaming-Brandung hochhält, ist immerhin nett gedacht. Dann könnte ja Black Narcissus als Fernsehdreiteiler zu Hause gestreamt werden, während die Technicolor-Farben von damals in altem Glanz auf der Leinwand strahlen.
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