Nach dem Chaos

Film Michel Franco zeigt in „New Order“ den ziemlich ungemütlichen Übergang von einer alten in eine neue Weltordnung
Ausgabe 32/2021

Grün ist die Farbe der Revolution. Zunächst verfärbt sich verdächtig das Wasser im Luxusbadezimmer, dann erscheint der erste verstörte Partygast mit entsprechenden Flecken auf dem teuren Kleid. Es sind sichtbare Zeichen dafür, dass sich draußen, in der Welt der Armen, etwas zusammenbraut. Zu hören sind zu diesem Zeitpunkt nur Polizeisirenen sowie hin und wieder der Lärm von Helikoptern, die über der Stadt kreisen. Schließlich fahren die ersten grün beschmierten Karosserien vor, die es gerade noch durch die Tumulte zur Party geschafft haben. Aber noch immer fühlt sich die politische und finanzielle Elite sicher in ihren von privaten Wachdiensten beschützten Villen. Obwohl doch jeder weiß, dass der Anfang vom Ende gekommen ist.

New Order beginnt mit einer illustren Hochzeit, vermutlich weil eine solche Feier etwas Schönes bedeuten soll und sich damit zugleich ein Hedonismus illustrieren lässt, der das erträgliche Maß sprengt. Also feiert eine Familie mit Hunderten Gästen auf ihrem Anwesen im Reichenviertel von Mexiko City die Vermählung der Tochter. Marianne (Naián González Norvind) tanzt im roten Hosenanzug irgendwie aus der Reihe, während die indigenen Bediensteten, weil sie ihr Leben lang nichts anderes getan haben, routiniert für das Wohl der Gäste sorgen.

Missliebige Störungen wiederum sorgen für Anspannung, etwa als ein ehemaliger Angestellter plötzlich in der Einfahrt steht und um Geld bittet. Seine Frau brauche dringend eine Herzoperation, weshalb für ihn ein wenig gesammelt wird. Die empathische Braut, der diese halbherzige Charity-Aktion zu wenig ist, lässt sich daraufhin zur Patientin bringen. Es ist jener Augenblick, in dem die „neue Ordnung“, von der Autor und Regisseur Michel Franco im nun einsetzenden zweiten Teil des Films erzählt, die Herrschaft übernimmt. Sie ist brutal, gewalttätig, schockierend und spielt in einer, wie es so schön heißt, nahen Zukunft.

Was zunächst nach dem bekannten Modell einer Zwei-Klassen-Dystopie aussieht, in der die Armen gegen eine vom Militär gestützte Elite zum Angriff blasen, entwickelt sich in New Order jedoch in eine andere Richtung: Neben der Darstellung von Eskalation und Plünderungen, von Gewaltexzessen und abgrundtiefer Unmenschlichkeit interessiert sich Franco, wie sich zunehmend herausstellt, nämlich vor allem für die staatlich legitimierten Gegenmaßnahmen. Also letzten Endes für die Herrschaft einer Militärdiktatur, auf die seine holzschnittartig konstruierte Erzählung hinsteuert und die bald in groben Strichen ausgemalt wird. Eine Diktatur als Ergebnis dessen, was oft fälschlicherweise als Anarchie bezeichnet wird.

Der Film soll Warnung sein

Regisseur Michel Franco will seinen Film als Warnung verstanden wissen. „Wenn Ungleichheit und Ungerechtigkeit nicht mit zivilisierten Mitteln angegangen und alle abweichenden Stimmen zum Schweigen gebracht werden, wird das Chaos losbrechen.“ Nun könnte man sich fragen, ob Francos Warnung wohl darin besteht, dass er uns plakativ ein solches Chaos als Folge unzivilisiert angewandter Mittel präsentiert. Das wäre dann quasi die gut gemeinte Schockläuterung für jene, die meinen, man könne ewig auf Kosten anderer – also der politisch und ökonomisch Unterdrückten – genüsslich in den Tag hinein leben. In dieser Hinsicht funktioniert der Film erstaunlicherweise wie ein auf schlanke 86 Minuten komprimierter Öko-Desaster-Blockbuster: Seht, was passiert, wenn die soziale Katastrophe über uns hereinbricht.

Tatsächlich aber wäre, um die Ursache für ein solches Szenario glaubhaft zu machen, eine andere filmische Strategie vonnöten. Eine, die nicht aus der Lust an der Angst und am Vorurteil ihren Profit schlägt, sondern von einem präzisen Blick auf die Verhältnisse und Charaktere bestimmt ist. Doch New Order interessiert sich in keiner Weise für die Lebensumstände jener, die hier zur Waffe greifen, auch nicht für die politisch verursachte Armut und das daraus resultierende Elend. Ein solcher Blick würde auch der Drastik der Bilder entgegenstehen, auf die Franco stattdessen vertraut. Weshalb sich der blanke Hass, in den die lange unterdrückte Wut der Armen umschlägt, letztlich nicht von den Rachefantasien eines zerstörungsfanatischen Mobs wie in der Horrorserie The Purge unterscheidet.

Dass der Staat zu unserem Schutz existiert, kann glauben, wer noch keine gegenteilige Erfahrung gemacht hat. Denn natürlich kann es vor allem auch der Staat sein, der darüber entscheidet, wer überlebt – und wer nicht. Oder wem gerade so viel zum Überleben bleibt, dass er nicht den „sozialen Frieden“ gefährdet. New Order skizziert, als das Militär für eine „neue Ordnung“ sorgt, einen als paramilitärische Organisation auftretenden Staat im Staat. Weil aber zwischen Freund und Feind nicht mehr unterschieden werden kann, wähnt sich auch Marianne nach gelungener Flucht nur in scheinbarer Sicherheit.

Vor knapp zwei Wochen initiierte der mexikanische Präsident López Obrador ein umstrittenes Referendum: Die Bevölkerung sollte darüber abstimmen, ob gegen fünf seiner Vorgänger Ermittlungen wegen Korruption eingeleitet werden sollten. Weil sich 90 Prozent dafür aussprachen, aber nur knapp acht Prozent an der Abstimmung beteiligten, blieb diese ohne Ergebnis. Eine Strategie, die einem bekannt vorkommt: Auch New Order möchte weniger auf real existierende Probleme aufmerksam machen als für Aufsehen sorgen.

Info

New Order Michel Franco Mexiko/Frankreich 2020, 86 Minuten

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