Die sozialdemokratischen Klassiker

Brasilien Amtsvorgänger Lula da Silva hat während seiner achtjährigen Präsidentschaft den aktiven Staat wiederentdeckt. Nachfolgerin Dilma Rousseff wird ihn verändern müssen

Als der Gewerkschafter Luis ­Inácio „Lula“ da Silva im Januar 2003 erster linker Präsident seit dem Ende der Militärdiktatur 1985 wurde, sahen seine Anhänger ihre teilweise überspannten Erwartungen zunächst enttäuscht. Lula setzte auf die gleiche Geld- und Finanzpolitik wie sein Amtsvorgänger Cardoso, doch brauchte eine Neun-Parteien-Koalition Kompromisse, um zu überleben.

So kam die Landreform kaum voran, Korruption und organisierte Kriminalität blieben virulent – es wurde erkennbar, dass die Regierung das Land mit einer Mischung aus Sozialpolitik für die Armen und Wachstumspolitik für das industrielle Kapital wie die städtische Arbeiterklasse zu verändern suchte. Dabei schrumpften die Auslandsschulden enorm, und 2009, kurz nach Ausbruch der Weltfinanzkrise, war es Brasilien, das dem Internationalen Währungsfonds (IWF) mit einer Milliarden-Dollar-Anleihe aushalf, statt wie gehabt an gleicher Stelle um Kredit zu bitten. Mittlerweile hortet die brasilianische Zentralbank Devisendepots von mehr als 210 Milliarden Dollar – spektakulär für einen Staat, der noch um die Jahrtausendwende wie Argentinien über dem Abgrund seines Bankrotts balancierte.

Über zehn Millionen neue Jobs

Bis 2003 war Brasilien bei allen weltökonomischen Eruptionen designiertes Krisenopfer. 2010, ausgangs der Weltfinanzkrise, gehörte das Land erstmals zu den Krisengewinnern. Dilma Roussef hat als Chefin der Präsidialkanzlei (Casa Civil) und Architektin des Wachstumsprogramms PAC – eine Art Konjunkturpaket – maßgeblichen Anteil daran. Dessen Prinzip lautete: Wirtschaftsförderung und Sozialpolitik sorgen für Investitionen und Konsum, die allen Klassen und Sektoren zugute kommen, am meisten aber den Marginalisierten. Eine Beschäftigungsexplosion führte denn auch seit 2003 zum sagenhaften Plus von 10,5 Millionen Arbeitsplätzen, so dass 2008 die Zahl der „formellen Jobs“ erstmals in der Wirtschaftsgeschichte Brasiliens die der „informellen“ übertraf. Ende 2010 lag das durchschnittliche Monatseinkommen eines Beschäftigten dank eines verdoppelten Mindesteinkommens und steigender Tariflöhne bei über 1.000 Real (452 Euro).

Es existiert eine Mittelklasse, die diesen Namen verdient, da heute 52 Prozent der Bevölkerung über Einkünfte verfügen, die relativen Wohlstand verheißen. Was an der nach wie vor extremen sozialen Zerklüftung dieser Gesellschaft wenig ändert, obwohl die Einkommen der Ärmsten in der Ära Lula stärker gestiegen sind als die aller anderen Milieus, stärker selbst als die der reichsten zehn Prozent. Über 24 Millionen Brasilianer (von 190 Millionen insgesamt) verließen die Armutszonen von Rio, Sao Paulo und anderswo – eine Konsequenz von Programmen wie der Familienbeihilfe (Bolsa Familia), einem sozialen Wohnungsbau oder Mikrokrediten für Bedürftige. Das klassische Repertoire sozialdemokratischer Sozial- und Finanzpolitik, die auf viele Nutznießer zielt.

Ausländische Investoren reißen sich derzeit um brasilianische Aktien und Anleihen. Wegen dieser Kapitalschwemme steht der Real unter Aufwertungsdruck und bremst die Exporte. Einheimische Oligopole wie Petrobas, Val, Friboi, Brasil Foods, Odebrecht und Embraer avancierten zu Weltunternehmen, deren Ausfuhren und Auslandsinvestitionen zulegten. Sie fusionieren in Lateinamerika in großem Stil und haben kaum feindliche Übernahmen zu fürchten. Mit der Entwicklungsbank BNDES als Speerspitze hat die Regierung Lula nach dem Muster der Japaner und Südkoreaner die Expansion nationalen Kapitals höchst effektiv gefördert. Daher kaufen die Vermögensbesitzer des Landes brasilianische Aktien ebenso gern wie brasilianische Staatsanleihen – und kassieren die höchsten Zinsen weltweit (über zehn Prozent). Eines der regressivsten Steuersysteme der Welt macht ihnen das Leben leicht. Durchschnittsverdiener in Brasilien zahlen mehr als 45 Prozent ihres Einkommens als indirekte Verbrauchs- und Umsatzsteuern an den Staat.


Kaum erstaunlich bei diesem ökonomischen Rückhalt leistet sich Brasilien eine eigenständige Außenpolitik – als Mitglied der G20 und im unverbindlichen Klub der BRIC-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China). Am Widerstand Lulas scheiterte die von den USA gewünschte Evolution der nordamerikanischen Freihandelszone NAFTA zur kontinentalen FTAA, während Mercosur und andere regionale Gemeinschaften (Unasul, CELAC) florieren. Brasilien wurde von der designierten zur faktischen Führungsmacht in Lateinamerika und ist – ähnlich wie Deutschland in der EU – als Exportnation von der direkten Nachbarschaft abhängig, besonders bei Rohstoff- und Nahrungsmittelausfuhren. Immerhin stieg der Anteil von Primärprodukten am Gesamtexport von 23 Prozent im Jahr 2000 auf 43 ein Jahrzehnt später (der Anteil der Verarbeitungsprodukte sank dagegen erheblich). Damit ist ein Fenster der Verwundbarkeit aufgestoßen, bilden doch Rohstoffe eine höchst spekulationsempfindliche Ware, über deren Preis an den Weltrohstoffbörsen, nicht in Sao Paulo entschieden wird. Lulas Erfolgsmodell hat insofern drei Achillesfersen: Abhängigkeit von diesem Segment des Weltmarktes, eine gestundete Landreform, ohne die dem Wundbrand der Armut auf Dauer nicht zu entgehen ist, und eine Zerstörung nicht rekultivierbarer Biotope in der Amazonasregion, wo Agrarzonen infra­struktureller Gigantomanie weichen müssen und jede Woche im Schnitt ein Quadratkilometer Regenwald verschwindet. Brasilien gilt wegen seiner Biotreibstoffe und Wasserkraftwerke als Vorreiter nachhaltiger Energiepolitik – und ist wegen der Brandrodungen fünftgrößter Kohlendioxid-Produzent weltweit.

Noch sind Wirtschaftsreformen bestenfalls als Experiment salonfähig, wird Porto Alegre mit seinen Netzwerken der „solidarischen“ Ökonomie nur als spektakuläre Episode begriffen. Lula da Silva hat den Entwicklungsstaat in Brasilien wieder zum Leben erweckt, nun wird Dilma Rousseff darüber hinaus gehen müssen. Kann das die Präsidentin? Wollen die Europäer dabei helfen oder den Brasilianern nur möglichst viele, möglichst teure High-Tech-Waffen verkaufen?

Michael R. Krätke ist Ökonomie-Professor an der Universität Lancaster

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