Nachdem in dieser Debatte ein rot-rot-grünes Crossover aus den Neunzigern schon verschiedentlich zitiert wurde, sprach sich zuletzt auch der Grünen-Politiker Robert Zion mit seinem Beitrag für eine Rückkehr zu diesem Dialog aus, bei dem die Grünen eine Schlüsselfunktion einnehmen könnten. Da Revolutionen heute "gesellschafts- und systemimmanent" stattfänden, so der Autor, brauche man "keine Revolutionsideen, sondern dringend Transformationstheorien". Dabei reiche es für die Grünen nicht, "den bisherigen Ideologien das Prinzip der Nachhaltigkeit anzukleben". Bei der Frage nach theoretischen Ansprüchen und Defiziten der Linken, das in dieser Debatte bereits Benjamin Mikfeld beklagt hatte, knüpft in dieser Ausgabe der Ökonom und Finanzexperte Michael Krätke an, der augenblicklich Wirtschaftswissenschaften und Steuerrecht an der Universität Amsterdam lehrt.
Einen kräftigen Schuss Kapitalismuskritik hat der Juso-Vorsitzende Björn Böhning für die Programm-Debatte der SPD gefordert. Kapitalismuskritik tut in der Linken insgesamt not. Die Frage ist nur, welche. Mit Franz Müntefering und Helmut Schmidt über "Heuschrecken" und "Raubtierkapitalismus" zu wettern, führt nicht weiter als bis zum altbekannten, hilflosen Ruf nach mehr Transparenz, und ein wenig mehr Regulierung der Märkte.
Eine Linke, die Dummheiten und Brutalitäten des Zeitgeistes nicht entschieden widerspricht, braucht niemand. Einer Linken, die über jedes Stöckchen springt, um den herrschenden "Eliten" ihre Seriosität und Regierungsfähigkeit zu beweisen, geht die Glaubwürdigkeit rasch flöten. Um gegen das herrschende Einheitsdenken Front zu machen, bedarf die Linke einer radikalen Kapitalismuskritik, die sie weitgehend verlernt hat. Die Agenda 2010 kann nur kritisieren, wer der Interpretation der politischen und wirtschaftlichen Realität widerspricht, die dem Ganzen zugrunde liegt. Gegen die Agenda 2010 spricht nicht nur eine falsche ökonomische Theorie, sondern auch eine verdrehte, rundweg falsche Sicht auf die derzeitige kapitalistische Weltwirtschaft.
Der Linken in Deutschland, da hat Benjamin Mikfeld mit seinen Debatten-Beiträgen im Freitag leider recht, fehlt ein gerütteltes Maß an politischer Ökonomie - und ihrer Kritik. Sie braucht dies umso mehr, als die herrschende Lehre in Deutschland um vieles dogmatischer und unbelehrbarer auf finstere Neoklassik und rigidere Angebotspolitik fixiert ist als anderswo. Daher erscheint selbst ein sehr moderater Keynesianismus, wie ihn Albrecht Müller vertritt, hierzulande als polizeiwidrige Provokation.
In Deutschland eine Debatte um Alternativen der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik führen, heißt Krieg - Krieg gegen Demagogie und die Furien des Privatinteresses. Wer sich von den üblichen Denkverboten nicht schrecken lässt, den sollten auch Plattitüden der Art nicht beeindrucken: Man könne doch wohl mit den Methoden von gestern nicht die Probleme von heute lösen! Ach ja? Erstens hat das niemand behauptet. Zweitens folgt aus der schlichten These nicht, dass die angeblich "neuen" Konzepte der angeblichen "Modernisierer" in der Sozialdemokratie (und der Linken insgesamt) richtig sind. Wer im Ernst glaubt, aus den Veränderungen der kapitalistischen Weltwirtschaft seit 1990 folgen mit eiserner Logik die Agenda 2010 und die Rosskur am deutschen Sozialstaat, hilft lediglich der deutschen Exportökonomie bei ihrer Lohndumpingoffensive - der löst kein einziges der deutschen Strukturprobleme. Inzwischen meiden selbst die gefürchteten Osteuropäer den deutschen Arbeitsmarkt, weil ihnen die Löhne zu niedrig sind.
Wer den Sozialstaat verteidigt, sieht sich heute automatisch mit dem Stigma bedacht, er betreibe strukturkonservative Sozialpolitik - ein Totschlagargument ganz nach dem Geschmack eines durchgeknallten Zeitgeistes, dem das Stereotyp entspricht: Wer den Privatisierungswahn und seine desaströsen Folgen angreift, will Staatsmonopole restaurieren. Solche Demagogentricks sollte man gnadenlos kritisieren, nicht nachbeten. Der deutsche Sozialstaat war schon lange vor der so genannten "Globalisierung" und auch ohne das "demografische Problem" dringend reformbedürftig, ebenso wie der öffentliche Sektor. Wenn die Linke die Sozialstaatskritik ernst nähme, die sie seit über 30 Jahren betreibt, hätte sie die Agenda für eine radikale Sozialstaatsreform, die der Lage Deutschlands in Europa und in der Weltwirtschaft angemessen wäre. Der bundesdeutsche Sozialstaat war und ist alles andere als Spitze - in Europa gibt es eine Reihe von Modellen, die dem deutschen klar überlegen sind, gerechter, umfassender, effizienter - alle in kleineren, ökonomisch sehr viel schwächeren Ländern angesiedelt, die dem internationalen Konkurrenzdruck nicht weniger ausgesetzt sind als die Bundesrepublik. Stattdessen driftet der hiesige Sozialstaat immer weiter in Richtung des US-Musters, noch ungerechter, noch ineffizienter, noch diskriminierender als je zuvor. Weder die Demographie noch die Weltmarktkonkurrenz, sondern die "Reformen" der Schröder und Merkel sind dafür zuständig. Ein moderner, europäischer Sozialstaat sieht anders aus. Er hat zum Beispiel - eine Revolution in Deutschland - starke universalistische Elemente, kennt soziale Sicherungen, die für alle gleichermaßen gelten und von allen mitfinanziert werden. Den Namen (Bürgerversicherung, Volksversicherung, Nationale Versicherung) kann man sich aussuchen, die Sache nicht: Etliche, auf längere Sicht die meisten sozialen Sicherungen müssen direkt an den Bürgerstatus gekoppelt und von Erwerbsbiographie und Arbeitsmarktwert eines jeden abgekoppelt werden. Wenn nicht, funktioniert der Sozialstaat weiterhin als Maschine zur erweiterten Reproduktion der vorhandenen sozialen Ungleichheiten wie in diesem Land, wo es das geradezu klassische Beispiel für einen extrem lohnarbeitszentrierten Sozialstaat gibt. Ein moderner europäischer Sozialstaat setzt nicht nur auf Geldtransfers, sondern mindestens ebenso auf soziale Dienstleistungen und öffentliche Güter, verlässt sich in allen lebenswichtigen Fragen nicht auf die kollektive Idiotie des Marktes und betreibt eine Beschäftigungspolitik, die den Arbeitsmarkt reguliert, statt sich seinen vermeintlichen Diktaten zu unterwerfen.
Ein moderner europäischer Sozialstaat bietet seinen Bürgern Rechte und lässt ihnen die Wahl - vom (bedingten und begrenzten) "Recht auf Arbeit" wie "Recht auf Ausbildung" bis hin zum (bedingten und begrenzten) Recht auf "freiwillige Arbeitslosigkeit". Das glauben Sie nicht? Das haben wir längst in vielen europäischen Ländern, in unterschiedlichsten Kombinationen. Die Linke in Deutschland braucht nur den Mut, das "europäische Sozialmodell" ernst zu nehmen und zum europäischen Standard aufzuschließen. Das würde im Übrigen den Erwartungen einer Mehrheit der Bevölkerung entsprechen, die anders als ihre Eliten nicht nach Amerika, sondern lieber Richtung Skandinavien reisen möchte.
Das Grundeinkommen, die scheinradikale Scheinlösung aller Probleme im Hier und Jetzt des real existierenden Kapitalismus ist bestenfalls ein Ghetto für respektable Armut und das Ende jeder Sozialstaatlichkeit. Die Neoliberalen, die es bejubeln, wissen genau warum (anders als die Linken, die sich von dem mutmaßlich einfachen Universalrezept blenden lassen). Es ist das Gegenstück zur Simpel-Tax - eine Steuer und eine Sozialleistung für alle, fertig ist die neoliberale Gartenlaube. Schön für Leute, die eine sichere Geldquelle (gleich ob reicher Onkel oder Vater Staat) und ihre Ruhe haben wollen. Noch schöner für Anhänger der Utopie des reinen Kapitalismus.
Wenn die Linke sich nicht ständig von ökonomischen Scheinargumenten ins Bockshorn jagen ließe, hätte sie auch die Agenda für eine vernünftige und radikalreformerische Wirtschaftspolitik. Was stimmt denn an dem ständigen Gerede von den "zu hohen Lohnnebenkosten", dem "unflexiblen" Arbeitsmarkt, den "zu hohen" Steuern, dem "unbezahlbaren Sozialstaat"? Was stimmt an der unablässig wiederholten Behauptung, die Politik, der Nationalstaat zumal, seien machtlos und handlungsunfähig? Worauf beruht das merkwürdige Dogma, dass Beschäftigungspolitik und Stärkung der Massenkaufkraft "nichts bringen" können? Woher kommt die seltsame Vorstellung, linke Wirtschafts- und Finanzpolitik sei Umverteilung und nichts weiter? Der Gedankenkäfig, in dem der linke Diskurs seit Jahr und Tag herumflattert, beweist einmal mehr die Hegemonie des Neoliberalismus, der alles andere als ein Popanz ist.
Auch wenn der Staat, zumal ein Staat vom Kaliber der Bundesrepublik, keineswegs ohnmächtig ist - auf die Binnennachfrage, auf die Kaufkraft der großen Mehrheit der Bevölkerung, hat er erheblich mehr Einfluss als auf die Entwicklung der Weltmärkte, von denen "unsere" Exportwirtschaft abhängt. Wenn ich den Standpunkt derjenigen einnehme, die in Deutschland und der übrigen Welt übermotorisierte Protzautos verkaufen wollen (da sie auf ständig wachsenden Überkapazitäten in einem heftig umkämpften Markt sitzen), dann bringt es in der Tat nichts, den Armen in Deutschland mit Geld, mit mehr und besseren öffentlichen Gütern und Dienstleistungen unter die Arme zu greifen. Mit ein paar Hundert Euro mehr im Jahr werden sie - soweit sie noch bei Trost sind und von den uneigennützigen Finanzierungsangeboten der Banken verschont bleiben - nicht mehr Mercedes oder Audi kaufen als bisher. Vom Standpunkt des hoch integrierten europäischen Binnenmarkts (wir leben in der am stärksten integrierten ökonomischen Großregion der Welt) bringt es dagegen einiges, sogar mehr Beschäftigung.
Wer die Macht hat, braucht nicht zu lernen. Er oder sie kann es sich sogar leisten, keine Ahnung zu haben und über Gott und die Welt zu schwadronieren - siehe George Bush und andere Kapazitäten der Zeitgeschichte. Die Linke kann sich das nicht leisten.
Bisher haben in dieser Debatte geschrieben:
Albrecht Müller
Die drei Buchstaben einfach geklaut
(Freitag 26 vom 29. 6. 2007)
Benjamin Mikfeld
Die Auferstehung der Zombielinken
(Freitag 29 vom 20. 7. 2007)
Albrecht Müller
Das Versagen der SPD-Linken
(Freitag 30 vom 27. 7. 2007)
Benjamin Mikfeld
Wir wollen keine Wirthausprügelei
Joachim Bischoff
Über Zombies und Voodoo-Kult
(Freitag 32 vom 10. 8. 2007)
Björn Böhning/Benjamin Hoff
New Deal - keine Rolle rückwärts
Wolfgang Storz
Schlagabtausch mit Pappkameraden
(Freitag 34 vom 24. 8. 2007)
Christoph Spehr
Die Ehre der Zombies
Michael Jäger
Den Staat als Pionier sehen
(Freitag 36 vom 7. 9. 2007)
Hans Thie
Gefangen im Kanzlererbe
Stefan Liebich
Nicht den Einlassdienst zum linken Diskurs übernehmen
(Freitag 38 vom 21. 9. 2007)
Robert Zion
Ja, uns gibt es tatsächlich
(Freitag 40 vom 5. 10. 2007)
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