Zwischen uns die Plexiglaswand

Pflegeheim Selten Besuch, Singen verboten: Für Demenz-Erkrankte und ihre Angehörigen sind die Corona-Auflagen eine Qual
Ausgabe 23/2020
Fast wie in einer Vollzugsanstalt: Besuchsalltag unter Corona-Bedingungen
Fast wie in einer Vollzugsanstalt: Besuchsalltag unter Corona-Bedingungen

Foto: John Thys/AFP/Getty Images

Vergessen und Einsamkeit schmerzen besonders an der Demenz. Das gilt für alle Beteiligten: Wer an Demenz erkrankt, kriegt sein Leben immer weniger auf die Reihe. Erlebnisse passen nicht mehr zusammen. Gesuchte Personen sind nicht mehr anzutreffen. An Gesprächen kann man nicht mehr aktiv teilnehmen. Es geht alles zu schnell.

Um es vorweg zu sagen: Der Autor dieser Zeilen hat ein persönliches Interesse. Es geht ihm um seine eigenen Rechte, aber ebenso um die seiner Mutter. Seit Monaten werden Würde und Rechte von über 600.000 Demenz-Erkrankten, die in Deutschlands Pflegeheimen leben, schwer beschädigt. Eingegriffen wird damit letztlich in die Würde aller.

Für die Angehörigen wird es im Verlauf der Krankheit zunehmend schwerer, die Gemeinschaft mit dem erkrankten Geliebten aufrechtzuerhalten. Man kann nicht von den Tagesnachrichten sprechen, aber über lange Vergangenes. Bis zum Wiedererkennen dauert es immer länger, zuletzt geht dann das Sprechen nicht mehr. Doch kann man im Gesang oft noch verbunden sein, vor allem die Hände halten, den geliebten Menschen küssen. Dann lächelt der Geliebte manchmal, und es ist alles gut.

Der soziale Tod

Wem das zu schwülstig klingt, dem sei gesagt: Es ist menschlich. Aber ich kann auch Fakten anführen aus einer Welt, die von manchen „neue Normalität“ genannt wird: Besuche sind da nur einmal die Woche, bedingt durch knappe Kapazitäten vielleicht auch nur alle zwei Wochen möglich. Sie dauern 25 Minuten und finden nicht im eigenen Lebensumfeld statt. Nur eine Person darf zu Besuch kommen. Sie ist durch eine zwei Meter hohe Scheibe abgetrennt und wird überwacht. Da kann man dann, wie es im „Besuchermanagementplan“ heißt, „optisch und akustisch Verbindung“ aufnehmen. Berühren ist eh verboten. Das ist nicht der Plan einer Strafanstalt, sondern der eines Pflegeheims. In der neuen Zeit. Da vergeht einem das Lachen, und es ist nichts gut.

Wer denkt sich so etwas aus? Denn natürlich ist all das zunächst ausgedacht und dann geschaffen worden. Nichts ist daran alternativlos, alles ist fragwürdig. Es geht hier wirklich um das Ganze: Die Menschenwürde ist individuell und grundlegend, sie kann nicht mit anderen Rechten abgewogen werden, sie steht noch über dem Leben – darum nennt sie das Grundgesetz an erster Stelle. Wichtiger als das Leben ist, dass man lebendig man selbst sein kann. Das erfordert selbstbestimmte Teilhabe am gemeinsamen Raum der Freiheitsverwirklichung. Weil sie gemeinsam ist, kann die Verletzung der Würde des einen dem anderen nicht gleichgültig sein. Wann jemand „man selbst ist“, kann nur jeder Mensch selbst beurteilen. Niemand darf gewaltsam über das Leben anderer entscheiden, weder ob noch wie er es zu leben hat.

Dennoch werden derzeit landauf, landab die grundlegenden Freiheitsrechte der Bewohnerinnen und Bewohner von Pflegeheimen beschnitten. Vorgeblich zum Schutz der „Vulnerablen“, wie nun auch jene sagen, die sich sonst wenig um Verletzlichkeiten kümmern. Dabei wird nicht gefragt, was diese selber wollen. Manche haben Patientenverfügungen und lehnen intensivmedizinische Versorgung ab. Zusätzliche Barrieren werden errichtet statt abgebaut – wie es zum Beispiel die UN-Behindertenrechtskonvention verbindlich vorschreibt. Gemeinsame Zeit mit Angehörigen, deren liebevolle Begleitung und freie Kommunikation: alles verboten – inklusive Singen.

Das überlastet mittlerweile die Heime, denn Pflegekräfte gibt es nicht in ausreichender Anzahl. Die Begleitung durch Angehörige ist ein wesentlicher Teil der Pflege. Begründet wird der Ausschluss mit dem Infektionsschutz und dieser mit dem Schutz des Lebens. Sterben können wir aber auf vielen Wegen, und keiner verfügt darüber. Mit der Verordnung andauernder Kommunikationssperren wird jedoch heute schon aus Amtsstuben in ganz Deutschland der soziale Tod hingenommen. Das ist keine Theorie. Dagegen ist „Bewusstseinsbildung“ ein wichtiges Ziel der seit 2009 auch hierzulande geltenden UN-Konvention. Sie verdient bislang ein „mangelhaft“.

Was machen demente Menschen, die nichts dazu sagen und nicht klagen können? Sie brauchen Fürsprecher, die sie vor Vergessen und Einsamkeit schützen. Sie brauchen echte Kommunikation, denn sonst können sie nicht sie selbst sein. Zu ihrer Würde gehören leibliche Anwesenheit und Berührung. Das gilt auch für die Angehörigen: Selbstverständlich habe auch ich ein Recht darauf, meiner Mutter barrierefrei zu begegnen, ihr von „Rosamunde“ vorzusingen und sie lächelnd zu umarmen. Ohne meine Mutter kann auch ich nicht ich selbst sein.

Brennpunkte der Pandemie

Kontaktsperre Alfons Blum wird man nicht vergessen. Seine an Demenz erkrankte Ehefrau lebt in einem Pflegeheim. „Ich war vor Corona jeden Tag bei ihr, jeden Tag“, sagte der Rentner aus Gera. Acht Wochen hatte er seine Frau nicht mehr gesehen, als er im Mai von der ARD bei einer Demo gegen die Corona-Maßnahmen interviewt wurde. Millionen sahen das Interview und seine Tränen. Hierzulande sind 3,5 Millionen Menschen pflegebedürftig, knapp ein Viertel von ihnen lebt in Pflegeheimen. Mit der Corona-Pandemie haben sich dort die Lebensbedingungen drastisch verschlechtert.

Pflegeheime sind bundesweit Hotspots der Pandemie. Vor allem aus vollstationären Einrichtungen werden weiter viele Infektionen gemeldet. Mitte März verhängten Bund und Länder Betretungsverbote für Alten-, Pflegeheime und Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen. Bewohner durften daher nicht mehr besucht werden. Die Präsidentin des Sozialverbands VdK, Verena Bentele, mahnte früh, Besuche schnell wieder möglich zu machen. Sie warnte vor den Folgen der Isolation und plädierte dafür, „Menschlichkeit und Augenmaß“ walten zu lassen. Bestätigt wurde diese Einschätzung auch durch die Ergebnisse von Umfragen des Pflegeverbands BIVA, der schon im März damit begonnen hatte, die Auswirkungen der Besuchsverbote zu untersuchen. Die Bewohner litten seelisch und körperlich immens unter der Isolierung. Der öffentliche Druck war da.

Am 6. Mai tagte die Bund-Länder-Konferenz und beschloss: Jeder Bewohner eines Pflegeheims darf unter Einhaltung der Schutzmaßnahmen Besuch von einer Person empfangen, vorausgesetzt, es gibt in der Einrichtung keinen Corona-Fall. Inzwischen soll in vielen Bundesländern einmal am Tag ein ein- bis zweistündiger Besuch möglich sein. Theoretisch, denn entscheidend verbessert hat sich die Situation bislang nicht. Franz Müntefering kritisiert als Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen, Besuche seien vielfach nur einmal in der Woche möglich, mit weniger als einer Stunde Zeit, hinter einer Plexiglasscheibe. Mobile Bewohner würden daran gehindert, sich frei zu bewegen oder das Heim für einen Spaziergang zu verlassen. Der Pflegebeauftragte der Bundesregierung, Andreas Westerfellhaus, berichtete kurz vor Pfingsten über erschütternde Briefe von Angehörigen. Er fordert, dass angemessene Besuchsmöglichkeiten flächendeckend umgesetzt werden und man dabei die Pflegeheime nicht alleinlassen darf. Angesichts des seit Jahren bestehenden Personalnotstands ist es kein Wunder, dass Heime damit überfordert sind, neben der Pflege noch gute Besuchskonzepte zu entwickeln.

Michael Spieker lehrt Politikwissenschaften am Campus Benediktbeuren der Katholischen Stiftungshochschule München

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