Heute ist er vor allem wegen seiner Berühmtheit berühmt. Das sichert das Gedenken an runden Jahrestagen“, hat Manfred Hermes vor zehn Jahren angemerkt und die immer gleichen Stereotypen in der feuilletonistischen Berichterstattung polemisch aufgespießt. Dies wird bei Fassbinders 75. Geburtstag nicht anders sein, nur dass diesmal die Retrospektiven in den Kinos ausfallen. Oskar Roehler, der für sein RWF-Biopic Enfant terrible den 31. Mai als Starttermin nutzen wollte, wird sich bis Herbst oder gar später gedulden müssen.
Dabei gibt es Neues zu entdecken, statt die alten Formeln bis zum Überdruss zu wiederholen. Der Nachlass, bisher in den Tresoren der Rainer Werner Fassbinder Foundation, befindet sich seit einigen Monaten in Frankfurt beim Deutschen Filmmuseum und ist dort nach entsprechender Anmeldung einsehbar. Erst dort bekommt man einen Eindruck davon, wie umfangreich die geradezu triebhafte Produktivität Fassbinders war, zugleich geraten dadurch an den Rand gedrängte Mitarbeiter wieder ins Blickfeld.
Fassbinder war nicht das Originalgenie, auch wenn einige ihn dazu stilisieren wollen. Bonusmaterial und Booklet der DVD-Edition von Acht Stunden sind kein Tag sind umfangreich, doch vom kreativen Anteil des Autors und damaligen WDR-Redakteurs Peter Märthesheimer an der legendären TV-Serie erfährt man dort nichts. Die Idee, eine moderne Familienserie gegen die ziemlich verschnarchte, vom NDR produzierte Familie Schölermann zu setzen, stammte von Günter Rohrbach, dem Fernsehspielchef des seinerzeit als „Rotfunk“ verschrienen WDR, und seinem Dramaturgen Märthesheimer. Das Konzept beruhte auf drei Maximen: Die Protagonisten sollten jung sein, die Serie im Arbeitermilieu spielen, und Konflikte sollten nicht harmonisiert, sondern ausgetragen werden. Fassbinder wurde hinzugeholt, die Drehbücher entwickelte er in engem Kontakt mit Märthesheimer, der nach ihren Besprechungen Vorschläge und Änderungswünsche festhielt, Figurenprofile und Ablaufskizzen beilegte. Der Redakteur kam nicht vom Film, sondern von der Gewerkschaft, er war Diplomsoziologe, hatte in Frankfurt bei Adorno studiert und für die IG Metall gearbeitet. Bei den Liebesgeschichten brauchte Fassbinder keine Ratschläge, Märthesheimer war für die Abläufe im Betrieb und die Funktion des Betriebsrats zuständig. Er versorgte Fassbinder mit Material, etwa dem „Arbeiter-Fragebogen“ von Marx, denn man suchte ein einfaches Modell der Mehrwertberechnung. Oma und Gregor aber waren Erfindungen von Fassbinder. Mit der unwürdigen Greisin (Brecht) und ihrem schrulligen Liebhaber brachte er in den Erzählkosmos zwei alte Leute ein, ohne gegen die erste Maxime zu verstoßen: Sie sind im Kopf jünger als manch andere Figur.
Auftritt in der Lederkneipe
War Acht Stunden sind kein Tag, so Märthesheimer programmatisch, „die Okkupation eines bürgerlichen Genres“, nahm sich Fassbinder auch eines anderen beliebten TV-Genres an: der Fernsehshow. Wie ein Vogel auf dem Draht ist ein gänzlich unbekanntes Fassbinder-Werk, entstanden als Nebenprodukt: eine Personality-Show für und mit Brigitte Mira, mit der er zuvor Angst essen Seele auf gedreht hatte.
Der rote Faden der Show: Brigitte Mira erzählt von ihren fünf Ehemännern. Die Kulissen: ihr Wohnzimmer (nachgebaut im Studio), ein Warenhaus, eine Herrenbar, ein Body-Building-Studio; sie singt bekannte Lieder und Chansons, am Anfang Fassbinders Lieblingslied Like a Bird on a Wire von Leonard Cohen, aber auf Deutsch. „Es spielt das Orchester Kurt Edelhagen“: Diese Ansage galt den bundesdeutschen Fernsehzuschauern damals als Garant für populäre Schlagersendungen. Zu hören bekamen sie beliebte Melodien, zu sehen jedoch etwas anderes: Von einer pornografischen Zeichnung von Tom of Finland, der zum ikonografischen Repertoire der Schwulenszene gehörte, schnitt Fassbinder auf Miras Auftritt in der Lederkneipe. Das war Camp in Reinkultur, lange bevor Susan Sontags Definition auch in Deutschland Furore machte.
Die Sendung war im WDR umstritten, die Ausstrahlung wurde verschoben. Sie lief dann aber doch am 5. Mai 1975 im Ersten um 21 Uhr. Der Unterhaltungschef des Senders soll gesagt haben: „Wenn man so etwas in einem öffentlichen Park treiben würde, dann würde man wegen Sittlichkeitsverbrechen verhaftet werden.“ Danach verschwand Wie ein Vogel auf dem Draht für immer im Giftschrank.
Fassbinder hatte stets viele Pläne und Projekte: Er wollte Wedekinds Frühlings Erwachen verfilmen, verhandelte über die Rechte an Unica Zürn, suchte viele Jahre lang nach einem Ansatz, Freuds Der Mann Moses filmisch umzusetzen. Er lehnte, genauso aufschlussreich, Angebote ab. Hanns Eckelkamp diente ihm 1984 nach George Orwell an, doch Fassbinder winkte ab: Die gesellschaftliche Entwicklung habe Orwells Vision längst überholt. Und: „Meine Auffassung von Liebesgeschichten klassischer Art ist, daß Zweierbeziehungen Unterdrückungsstrategien der bestehenden Gesellschaft sind. Bei Orwell wird die Liebes-Zweier-Beziehung genau entgegengesetzt verwendet, als Möglichkeit des Aufbegehrens gegen das Unterdrückungssystem. Daran glaube ich nicht.“ Abschließend heißt es: „Es gibt europäische Regisseure, die ich schätze, wie Costa Gavras, die aus ‚1984‘ keine phantastische Geschichte machen, aber einen hervorragenden Film. Warum soll ich einen Costa-Gavras-Film machen?“
Fassbinder hat nicht nur davon gesprochen, dass er Johannes Mario Simmels Roman Hurra, wir leben noch verfilmen wollte, er hatte dazu bereits ein komplettes Drehbuch, 307 Seiten, verfasst, in einen Spiralblock Storyboard-Bildchen gekritzelt und Notizen zu einzelnen Einstellungen gemacht. Für die Figur des Wirtschaftswunder-Zampanos Jakob Formann wusste er auch schon die Besetzung: Götz George.
Doch über Buch und Konzept wurde Fassbinder sich nicht einig mit Günter Rohrbach, inzwischen Chef der Bavaria. Hatte man früher schwierige Großprojekte wie Berlin Alexanderplatz gemeinsam durchgezogen, stieß Fassbinder überraschenderweise nun auf Ablehnung. Damit wurde eine langjährige Arbeitsbeziehung aufgekündigt. „Ich kann und will meine Kraft und meine künstlerischen Fähigkeiten nicht Ihren derzeitigen Interessen unterordnen“, schrieb Fassbinder dem Produzenten. „Sie müssen offensichtlich derzeit durch die Hölle Ihrer professionellen Profilierung, Sie dürfen für diesen schrecklichen, beängstigenden Vorgang nicht mit meiner Unterstützung rechnen.“ Hurra, wir leben noch wurde trotzdem verfilmt. Peter Zadek übernahm nach Fassbinders Tod das Projekt und setzte in den Vorspann die Widmung: „Für Rainer Werner Fassbinder“. Allerdings hieß der Film Die wilden Fünfziger, denn der Romanautor hatte gegen diese filmische Zurichtung seines Werkes protestiert. Zu Recht: Zadek sah Simmels Roman als „Riesen-Mülleimer, in dem eine Unmenge Material gesammelt ist“, aus dem er sich ziemlich wahllos bediente. Fassbinder hatte in seinem Drehbuch aus dem 650-Seiten-Schinken eine stringente Erzählung destilliert und mit politischen Akzenten versehen; er nahm Simmel ernst, während Zadek den Roman als Spielmaterial für grotesk überzeichnete Szenen ausbeutete.
Flach, schlaff, geschmacklos!
Der Film wurde mehrfach umgeschnitten, blieb jedoch eine verworrene Geschichte. Nichts als eine „geschmacklose Aneinanderreihung flacher und schlaffer Szenen“, schäumte Simmel. Die Verantwortung dafür wollte keiner übernehmen. Im Presseheft werden die Credits einschließlich Fahrer und Catering aufgeführt, aber kein Autor. „Drehbuch Wolfgang Bornheim“ steht im Vorspann. Der wirkliche Autor hatte seinen Namen zurückgezogen.
Zu den wichtigsten Nachlass-Materialien gehört das detailliert ausgearbeitete Drehbuch Kokain nach dem Roman von Pitigrilli. Die Vorbereitungen waren schon weit gediehen: Der Vertrag mit Horst Wendlandt und seiner Produktionsfirma Rialto war geschlossen, die erste Drehbuchfassung (322 Seiten) lag vor, die Drehorte Neapel, Paris, Brest, Lyon, Rio de Janeiro (alternativ São Paulo) waren besichtigt.
Wendlandt, neben Luggi Waldleitner der potenteste Altproduzent der Bundesrepublik, zögerte. Denn das Projekt war heikel. Der Roman, eine blasphemische Hymne auf die Ausschweifung, stand in Deutschland auf dem Index für jugendgefährdende Schriften. Nicht allein wegen der Drogen-Thematik, sondern weil „die geschlechtliche Beziehung zwischen Mann und Frau mit ausgesprochenem Zynismus und ausgeklügeltem Verständnis für das Obszöne dargestellt“ werde, wie das Kölner Verwaltungsgericht 1955 befand. 1982 brachte der Moewig-Verlag Kokain als Taschenbuch heraus, und wieder ließ die Bundesprüfstelle das Buch auf die Liste der jugendgefährdenden Schriften setzen. Vorschnell hatte man auf den Umschlag gedruckt: „Das Buch zum Film von R. W. Fassbinder“, doch dieser wurde nie gedreht.
Ein Big-Budget-Projekt – Fassbinder wollte in Cinemascope drehen –, aber kein publikumswirksamer Stoff, zudem das Risiko, dass eine FSK-Freigabe verweigert werden würde. Das Kölner Gericht hatte zum Roman ausgeführt: „Wenn der Mensch unter dem Einfluß des Kokain hemmungslos, gespalten und als Persönlichkeit entwertet dem unvermeidlichen Untergang entgegentaumelt, so geschieht es bei Pitigrilli nicht im warnenden oder verurteilenden Sinne, sondern erkennbar zu dem Zweck, das sexuelle Spiel durch perverse Nuancen zu bereichern.“ Fassbinder machte in der Vorbemerkung zu seinem Drehbuch kein Hehl daraus, dass er nicht moralisch Stellung beziehen werde: Der Kokainist verkürze seine Lebenszeit, lebe aber intensiver. „Die Entscheidung für ein kurzes, aber erfülltes Leben oder ein langes, aber dafür unbewußtes und im Großen und Ganzen entfremdetes Dasein soll das Publikum ganz und gar allein treffen.“ Rauschgift war für Fassbinder nicht ein Mittel zur Bewusstseinserweiterung, sondern ein Schmerzmittel gegen jene „grausamen Depressionen“, die einen Menschen plötzlich überfallen und lähmen, „einer unbewußten Trauer zumindest, die sich wie eine Glasglocke über den Kopf stülpt, daß man Angst hat zu ersticken“.
Das Kokain-Drehbuch ist mehr als ein Filmentwurf, es ist eine Konfession. Fassbinder folgt nicht den Stationen der Romanhandlung, sondern lässt in einem surrealen Bilderreigen (der Kokainist Tito Arnaudi liegt im Koma) Szenen aus dessen Leben Revue passieren. Eine hermetische Welt der Imagination, rapide wechselnd zwischen bunten, schrillen, grotesken Momenten und düsteren, todesverliebten Fantasien. Die morbide Welt Pitigrillis verschmilzt mit den Obsessionen Fassbinders, der den Pessimismus seiner frühen Filme zitiert. Luisella gesteht: „Ich habe noch nie geliebt. Und, um ganz ehrlich zu sein, ich bin sehr stolz darauf. Liebe ist kälter als der Tod, das ist es, woran ich glaube.“ Kokain vereist das Gehirn, Fassbinder hatte dafür eine Bildmetapher gefunden: Es herrscht Eiseskälte, obwohl Neapel und Rio die Schauplätze sind; auch bei Szenen, die im Sommer spielen, sollte stets der Atem der Sprecher zu sehen sein und sollten sich Eisblumen an den Fenstern bilden.
Und obwohl Fassbinder dem Theater abgeschworen hatte, im Nachlass findet sich eine kurz skizzierte Version einer modernen Phädra, geschrieben 1979/80. „Gewidmet wider besseres Wissen der Hoffnung und ihren Kindern“, steht auf dem Deckblatt.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.