Verabredet hatten wir uns – wo sonst? – im Abaton, in seinem Kino. Das Wetter war so, dass man draußen vor dem Kino sitzen konnte. Wir sprachen über die Filmpreis-Gewinner Das Lehrerzimmer und Im Westen nichts Neues, denn Werner Grassmann war immer bestens informiert. Zwar betreibt Sohn Felix seit einigen Jahren das Abaton, aber bei Premieren war er stets anzutreffen (und hielt mit seiner Meinung nicht hinterm Berg). Dann sprachen wir über eins seiner Lieblingsprojekte: die Wiederaufführung der Carmen von St. Pauli, eines Stummfilms von 1928. Der Film spielt bereits mit den Klischees der St.-Pauli-Filme, Billy Wilder schrieb einen Drehbericht: Das wäre etwas für eine Matinee, Sonntag um elf.
Ich traf mich immer gern mit Grassmann, denn er hatte etwas zu erzählen. Geschichten aus seinem Leben, Anekdoten, pointensicher serviert. Er war selbst längst eine legendäre Figur und sich dessen bewusst. Gleichzeitig in seiner unkonventionellen Art und Unangepasstheit ein Außenseiter in der seriösen Hamburger Kulturszene. Als ihm 2006 vom Hamburger Senat die Biermann-Ratjen-Medaille für seine kulturellen Verdienste verliehen wurde, ließ er das Ding erst einmal fallen – danach wurde es noch ein lustiger Abend.
Seine Karriere als Kinobetreiber begann 1953, als er in der Schmilinskystraße 8 (eine auch bei Einheimischen weniger bekannte Straße in der Hamburger Innenstadt) das studio 1 eröffnete. Ein Hinterhofkino, nur durch einen schmalen Durchgang und dann über eine Eisentreppe zu erreichen. Es herrschte Wohnzimmeratmosphäre, 20 Plätze, ein Bettlaken als Leinwand. Dafür gab es hier Raritäten zu sehen, ein Geheimtipp für Cineasten. Die Methoden der Filmbeschaffung wären eine Geschichte für sich. Das studio 1 war das kleinste Kino mit der größten Presseresonanz, selbst Zeit und Spiegel berichteten über das Unikum.
Mit filmhistorischen Ausgrabungen hat sich Werner Grassmann nie begnügt, er hatte stets eigene Filmideen, die er – als Autor, Regisseur und Produzent – selbst umsetzte. Er drehte Kulturfilme und Fernsehfeuilletons, hätte sich leicht in diesem Bereich etablieren und sicheres Geld verdienen können. Doch übliche Beiträge zum üblichen TV-Programm waren seine Sache nicht. Es fiel aus dem Rahmen, was immer er anpackte. Unangepasst, experimentell und avantgardistisch, aber nie verbissen oder prätentiös – Witz und Originalität zeichneten seine Projekte aus.
Werner Grassmann war engagiert in der Filmpolitik
In der Brüderstraße 17, einer ehemaligen Pfandleihe, betrieb er ab 1964 eine „Filmmacherei“, so das Schild an der Hausfront. Hier war das Zentrum des Hamburger Underground-Films, denn Grassmann, Mitbegründer und erster Geschäftsführer, produzierte die Streifen der Filmemacher Cooperative, darunter inzwischen so legendäre Werke wie Fußball wie noch nie von Hellmuth Costard. (Zehn Jahre später spielte Grassmann in Costards Der kleine Godard einen Filmproduzenten.) Für die ZDF-Reihe Das kleine Fernsehspiel, damals noch nicht ins Nachtprogramm abgeschoben, schrieb und inszenierte er skurrile Geschichten wie die Gammler-Ballade, das Unternehmen Mewkow oder Evarella, die Hamburger Antwort auf Barbarella.
Seinen Traum von einem – in mehrfacher Bedeutung: richtigen – Kino verwirklichte Grassmann zusammen mit Winfried Fedder 1970. Aus einer ehemaligen Autogarage auf dem Uni-Campus machten sie ein Kino, wie es bisher noch keines gab in Hamburg. Ein weiteres Filmkunst-Kino für ein bildungsbürgerliches Publikum hatte Grassmann nicht im Sinn. Er verkündete, im Abaton würden Filme gezeigt, die „im normalen Kino nicht laufen können“. Nun habe Hamburg ein Kino „nur für progressive Leute“, erfuhr man im Filmecho, dem offiziellen Organ des Hauptverbands Deutscher Filmtheater, ein „Workshop Kino“ für „Hausfrauen, Arbeiter, Angestellte und natürlich Studenten“. Was die kommerziellen Kinobetreiber davon hielten, kann man sich denken.
Eröffnet wurde das Abaton am 29. Oktober 1970 mit San Domingo, einer Kleist-Verfilmung von Hans-Jürgen Syberberg, und Monterey Pop des US-Dokumentaristen D. A. Pennebaker. Die Mischung war programmatisch: Neuer Deutscher Film und internationaler Underground. Syberberg war gekommen, auch die Stars der Avantgarde aus den USA, Kenneth Anger und Jonas Mekas (nur der ebenfalls eingeladene Andy Warhol blieb unterwegs irgendwo hängen).
Das Abaton war eines der ersten Programmkinos, und es fehlte in den Anfangsjahren nicht an Anfeindungen und Querschlägen der etablierten Kinomogule. Da half nur ein Zusammenschluss: Die unabhängigen Kinos gründeten die Arbeitsgemeinschaft Kino, Grassmann wurde ihr Vorsitzender und rief auch gleich noch einen Verleih ins Leben, um über eigene Programmware verfügen zu können. Er engagierte sich in der Filmpolitik, scheute nicht vor Prozessen zurück, die er – erfolgreich – bis zum Bundeskartellamt austrug.
Abaton: Heimatbühne der jung gebliebenen Außenseiter
„The Abaton was 1st of its kind in West Germany: cinema screens mixed bag to college crowd“, bemerkte nach ein paar Jahren sogar Hollywood. Das Branchenjournal Variety beschrieb den Programmmix so: „Three or four pics daily, including firstrun releases, art pics, offbeats items, classics, retros and even softcore porno for the late show.“ Nun ja, das letztere Segment, die legendäre Reihe Erotik im Untergrund – die nicht immer so soft war und zu deren regelmäßigen Besuchern ein aufgeschlossener Staatsanwalt gehörte –, ist längst Geschichte.
Das Abaton ist keine Abspielstätte für Filme, sondern ein Ort der Kommunikation: In keinem anderen Kino finden so viele Vorführungen und Veranstaltungen statt, in denen nach dem Film Regisseure und Darsteller mit dem Publikum ins Gespräch kommen. Frank Zappa war da, Rainer Werner Fassbinder, auch Michel Piccoli und Vanessa Redgrave. Die deutschen Filmemacher begleitete das Abaton seit ihren Anfängen: Tom Tykwer, Dani Levy und natürlich Fatih Akin. Als aus jungen Filmemachern arrivierte Regisseure geworden waren – Volker Schlöndorff, Edgar Reitz, Wim Wenders, Alexander Kluge –, blieben sie dem Abaton treu. Das Kino am Allende-Platz ist die Heimatbühne der jung gebliebenen Außenseiter des deutschen Kinos, Rosa von Praunheim und Monika Treut. Dieses Kino hat sich immer wieder neu erfunden, es ist eine Institution in der Hamburger Kulturlandschaft und hat ganze Generationen kinosozialisiert.
Erfolgreiche Vorstellungen ohne Gast und Film gab es auch. Werner Grassmann, vor der Leinwand stehend, unterhielt mit seinen Geschichten das ganze Haus. Zu Stummfilmzeiten gab es Kinoerzähler, die das Geschehen auf der Leinwand kommentierten und das Publikum bei Laune hielten, wenn die Handlung durchhing. Grassmann war der ideale Kinoerzähler.
Wenn er schilderte, auf welchen Wegen er sich Kopien von verschollenen Filmen besorgte, die schweren 35-mm-Rollen, wie einmal der Vorführer versehentlich die Rollen vertauschte, ohne dass das Publikum es merkte, wie man bei technischen Problemen und Pannen, wenn zum Beispiel der Film riss, improvisieren musste, hatte man den Eindruck: Damals war mehr Abenteuer. Glücklicherweise hat Grassmann seine Geschichten aufgeschrieben, nachzulesen in dem Buch Hinter der Leinwand.
Bis ins hohe Alter hatte Grassmann sich eine bewundernswert jugendliche Frische bewahrt. Als wir uns zuletzt trafen, wirkte er jedoch gealtert. In seinen Erzählungen so lebendig wie eh und je, kam er zu unserem letzten Treffen mit Stock. Inzwischen hatte er seine Wohnung aufgegeben und sich im Abaton einquartiert. Aber er ließ es sich nicht nehmen, mich zur Bushaltestelle zu begleiten. Auf dem Weg erzählte er: Gestern habe er geträumt, tot zu sein. „Das war aber nicht schlimm“, meinte er. Er wusste ja, dass sein Vermächtnis, das Abaton-Kino, lebt.
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