Zum Zustand und Zukunft der Kirche in Deutschland

Kirche in Deutschland Der anhalte Bedeutungsverlust der Kirche in Deutschland ist auch deren Haltung geschuldet, zu den zentralen gesellschaftlichen Fragen unserer Zeit keine klare Stellung zu beziehen. Um auch in Zukunft zu überleben, muss sich dies ändern.

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Wer hierzulande an Heiligabend einen Gottesdienst besucht, der kann den Eindruck gewinnen, die Stellung der Kirche in Deutschland hätte sich in den vergangenen Jahrzehnten nicht verändert. Denn an den Weihnachtsfeiertagen sind an vielen Orten die Kirchen noch immer voll. Wer aber nur eine Woche später, am Altjahrabend, eine jener Kirche betritt, dem bietet sich ein ganz anderes Bild. Die U-Boot-Christen, einen Ausdruck, den Pfarrer Leppich einst für all jene Gemeindemitglieder prägte, welche einmal im Jahr pünktlich zu Weihnachten im Gottesdienst erscheinen, sind dann bereits wieder abgetaucht und die Bankreihen dementsprechend leer. Denn volle Kirchen finden sich hierzulande vielerorts nur noch zu den großen christlichen Feiertagen sowie bei Tauf- und Konfirmationsgottesdiensten. Während des restlichen Jahres übersteigt die Anzahl der Bänke nicht selten die der Besucher im Gottesdienst. Dies zeigt auch ein Blick in die Statistik, die einen kontinuierlichen Rückgang der Mitgliederzahlen sowohl der römisch-katholischen als auch der evangelischen Kirche in Deutschland dokumentiert. Und so wird auch in diesem Jahr wieder ein neues Allzeithoch an Kirchenaustritten erreicht werden. Die leeren Bankreihen, welche an den meisten Sonntagen im Jahr den trostlosen Alltag vieler Pfarrer darstellen, illustrieren deshalb nur besonders anschaulich den zunehmenden Bedeutungsverlust der Kirche in Deutschland. Nach einer im November im Rahmen der Synode der EKD vorgestellten Studie, bezeichnen sich heute nur noch 13% der Bevölkerung als „kirchlich-religiös“.

Dies konstatiert, stellt sich dann jedoch die Frage, warum die Kirche ihren Einfluss auf die Entscheidungsfindung und Lebensgestaltung der Menschen verloren hat. Eine Ursache besteht, wie ich meine, darin, dass die Position der Kirche zu drängenden gesellschaftlichen Fragen selbst unter deren Mitgliedern nur mehr den Wenigsten bekannt ist. Dies liegt zum einen sicherlich an der spärlichen Teilnahme vieler Gemeindemitglieder an kirchlichen Veranstaltungen, zum anderen aber auch am Verzicht der Kirche, sich zu bedeutenden gesellschaftlichen Fragen eindeutig zu positionieren. Und das in einer Zeit, in welcher es den Menschen, die sich heute mit einer Vielzahl an Fragen konfrontiert sehen, an Führung oder, moderner formuliert, an Orientierung mangelt. Der Begriff der Führung ist hier nicht im Sinne autoritären Befehls und Gehorsams, sondern als Akt der Unterbreitung eines Deutungsangebotes gesellschaftlicher Zusammenhänge sowie daraus resultierenden Handlungsempfehlungen zu verstehen. Die Kirche könnte, mit Rückgriff auf die christliche Lehre des neuen Testaments, durchaus solche Angebote der Weltdeutung und Handlungsorientierung machen. Diese verzichtet jedoch darauf sich zu den zentralen gesellschaftlichen Fragen unserer Zeit zu positionieren.

Um hier nicht falsch verstanden zu werden; ich plädiere damit nicht für eine unantastbare kirchliche Autorität, sondern für eine Positionierung dieser, die bedeutenden gesellschaftlichen Fragen der Gegenwart betreffend; als Hilfe der Entscheidungsfindung für Menschen, die in Zeiten der Unsicherheit einer solchen bedürfen, nicht als göttlicher Richtspruch, dem unreflektiert Folge zu leisten wäre. Denn dass die Menschen heute kirchlichen Deutungen nicht mehr blind folgen, sondern auch diese kritisch hinterfragen, bedeutet nicht, dass solche überflüssig geworden wären. Kirchliche Positionen können noch immer wichtige Impulse der Orientierung bieten, diese müssen sich lediglich gegen konkurrierende Positionen der Weltdeutung argumentativ behaupten. Ein Umstand, der zwar höhere Anforderungen an die Plausibilität und Überzeugungskraft kirchlicher Argumente stellt, damit jedoch keinesfalls als generelle Absage an eine kirchliche Positionierung im gesellschaftlichen Diskurs zu verstehen ist. Denn an komplexen Situationen, zu denen sich Menschen heute zu verhalten haben, mangelt es nicht.

So wäre beispielsweise zu thematisieren, wie das gern zitierte christliche Credo „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ im Kontext ertrinkender Flüchtlinge im Mittelmeer oder solcher in von uns finanzierten „Auffanglagern“ gegen deren Willen festgehalten Menschen zu verstehen ist und welche Handlungsimperative sich für uns aus der Kenntnis dessen ergeben. Denn obwohl die Zustände seit Jahren bekannt sind, lässt sich aus den Verlautbarungen der Kirche in Deutschland nicht schließen, ob es mit einem abendlichen Bittgebet für jene Menschen getan ist oder wir als Christen nicht aufgerufen wären, hier mehr zu tun. Daneben scheint mir der Umstand, dass in einem Land wie Deutschland mehr als zwanzig Prozent der Kinder von Armut betroffen sind, zumindest einer kirchlichen Stellungnahme wert. Auch hier bestünde Bedarf nach einer Positionierung dieser sowie der Beantwortung der Frage, wie das christliche Gebot der Nächstenliebe im Kontext dessen aktiv gelebt werden sollte. Und damit haben wir den Themenkomplex des globalen Artensterbens noch nicht einmal gestreift. Auch hierzu ließe sich, unter dem Stichwort „Erhaltung der Schöpfung“, wohl so einiges aus einer christlichen Perspektive sagen.

Völlig unabhängig davon, wie die spezifische Position der Kirche zu den genannten Themen dann auch ausfallen würde, ist festzuhalten, dass an gesellschaftlichen Fragen, zu welchen es sich heute zu verhalten gilt, kein Mangel besteht. So ließen sich an dieser Stelle noch ein Dutzend weiterer solcher anführen – vom angebrachten Verhalten im Kontext der Gewalt in der Ukraine und dem Nahen Osten, über den Umgang mit Geflüchteten bis hin zur Frage der Gestaltung der Handelsbeziehungen mit Staaten des globalen Südens. Zu all dem könnte, ja ich glaube müsste, die Kirche in Deutschland Stellung beziehen, wenn sie auch in Zukunft eine relevante Stimme im gesellschaftlichen Diskurs darstellen will. Ob ein solches Verhalten letztendlich ausreicht, um deren drohenden Bedeutungsverlust abzuwenden, muss an anderer Stelle diskutiert werden. Ohne eine politische Positionierung zu zentralen gesellschaftlichen Fragen unserer Zeit, scheint mir das Schicksal der Kirche in Deutschland allerdings besiegelt. Daran ändern dann auch die noch immer vollen Kirchen zu Weihnachten nichts.

Im Beitrag erwähnte Studie der EKD: https://www.ekd.de/kmu-kirchenmitgliedschaftsuntersuchung-75049.htm

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Hanzel

Wissenschaftlicher Mitarbeit des Instituts für Sozialwissenschaften an der Universität Stuttgart.

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