Trau, schau, wem?

Porträt Marcelo Rebelo de Sousa ist beliebt wie kein portugiesischer Präsident vor ihm. Manche halten ihn aber auch für verrückt
Ausgabe 39/2016

Bevor die anderen geladenen Korrespondenten erschienen und Vichyssoise, Foie gras und Brassenfilets serviert wurden, saß ich mit Portugals Präsident Marcelo Rebelo de Sousa allein in einem prunkvollen Saal der Residenz am Atlantik, in der Bucht von Cascais. Ich wollte über Bankenkrise, Korruption und Kommunisten in der Regierung reden. Aber Marcelo machte zunächst nur einige Kommentare zum im Fernsehen laufenden Gruppenspiel des späteren Fußball-Europameisters gegen Österreich. Sie sind so vernachlässigbar wie das Ergebnis, ein torloses Remis.

Seit einem halben Jahr ist der konservative Katholik im Amt und dabei allgegenwärtig. Jeden Tag und auf jedem Sender, ob öffentlich oder privat, sehen Portugiesen ihm zu, wie er Frauen trifft, die ihr Hab und Gut durch Waldbrände verloren haben und denen er sagt: „Dê cá um beijinho“, geben Sie mir mal ein Küsschen, und: „Es wird schon, Sie werden sehen.“ Er umarmt den Feuerwehrmann, der die Waldbrände bekämpft hat. Er steht in einem Armenviertel im Café und trinkt seine Bica, Portugals Variante des Espresso. Er eröffnet eine Buchmesse im Präsidialpalast, und während er Autoren Auszeichnungen verleiht – umarmt er sie. In New York, bei den Vereinten Nationen, schüttelt er Barack Obamas Hände und im Vatikan küsst er die des Papsts.

Ob rechts oder links, die Portugiesen lieben ihr neues Oberhaupt innig. Zugleich warnen viele, die ihn persönlich kennen, Marcelo sei ein großes Kind, leide unter dem Peter-Pan-Syndrom und sei schlicht verrückt. Bei erster Gelegenheit werde er der Mitte-Links-Regierung das Vertrauen entziehen, das Land in eine Krise stürzen.

Rechte wittern Verrat

Seit Beginn seiner Präsidentschaft hat er genau das Gegenteil getan. In den 1990ern Vorsitzender der konservativ-liberalen PSD, ist er heute einer von den Kommunisten mitgetragenen Regierung gegenüber so kooperativ, dass sich rechte Oppositionelle streckenweise von ihm verraten fühlen.

Sein Werdegang wirkt zunächst eher recht banal: In sich überschneidenden Etappen war Marcelo Journalist, Jurist und Politiker, Radio- und TV-Kommentator. Ähnliche Karrieren sind keine Seltenheit unter den Staats- und Regierungschefs von Brasilien bis Belgien. Marcelo Rebelo de Sousa aber ist tatsächlich ein Unikum.

In einer ausführlicheren Fassung seiner Vita zeigt sich schnell der Exzentriker, der beim Reden die Augen so weit aufmacht, dass man ihm schon allein deswegen Recht geben möchte, damit ihm diese nicht vor Begeisterung aus den Augenhöhlen fallen. Der Mann, Jahrgang 1948, ist in erster Linie ein Kind der traditionellen portugiesischen Elite, aber exponiert in den Medien wie kein anderer Politiker vor ihm, auch nicht während der Diktatur.

1989 scheiterte er als Kandidat für das Oberbürgermeisteramt in Lissabon und war zehn Jahre später als Oppositionsführer Verlierer der Parlamentswahlen. Er ist oft über eigene Intrigen gestolpert. Und dann wurde er, im vergangenen März, mit 52 Prozent der Stimmen schon im ersten Wahlgang zum Präsidenten gewählt. Wie ist dieser Erfolg zu erklären? Mit Ausdauer und anderthalb Jahrzehnten konstanter medialer Präsenz als „Professor Marcelo“, einer Mischung aus akademischer Autorität und vertraulichem Vornamen.

Zwischen Ausverkauf und Hoffnung

Die Krise Portugals dauert an, eine Auswanderungswelle hat das Land ausgeblutet. Zwar sind ein paar neue Jobs entstanden, doch die Löhne für diese fielen auf im Schnitt knapp 600 Euro. Die Banken stehen auf wackligen Füßen, während ausländische Betei-ligungskonglomerate Staats-betriebe übernommen haben. So gehört der Energieversorger EDP nun der China Three Gorges Corporation, die mit überhöhten Preisen Millionen Verarmten das Geld aus der Tasche zieht.


Immobilienspekulanten vertreiben die Alt-Einwohner Lissabons. Portugal wird für viele dubiose Anleger aus Afrika und Asien zu einem Tor nach Europa. Die Ende 2015 gewählte, von Kommunisten und Bloco de Esquerda mitgetragene Regierung der Sozialdemokraten brachte zwar nach vier Jahren Aus-teritätsdiktat aus Berlin und Brüssel neue Hoffnung, für konkrete Verbesserungen sind ihr innerhalb der Eurozone aber die Hände gebunden. Sie erreichte immerhin, die wegen des Haushaltsdefizits der vorherigen neoliberalen Regierung angedrohten Sanktionen abzuwehren. Infolge der Sicherheitslage in der Türkei, im Nahen Osten und in Nordafrika boomt der Tourismus. Die tiefe Spaltung zwischen Konservativen und Linken heilt dies aber nicht.

Aktuell diskutiert das Land eine zusätzliche Besteuerung von Immobilienvermögen über 500.000 oder einer Million Euro und ob der Ex-Regierungschef António Guterres wohl neuer UN-Generalsekretär werden wird. Und natürlich, wen Präsident Marcelo Rebelo de Sousa zuletzt umarmt hat. Die wichtigste Frage aber bleibt, ob das traditionell elitäre Sporting Lissabon oder das volkstümliche Benfica Fußballmeister wird. msz

Seit Jahrzehnten wird ein Personenkult um seine Intelligenz gepflegt. Er diktiere mehreren Sekretärinnen simultan Briefe, schlafe immer nur vier bis fünf Stunden und lese mehrere Bücher pro Tag. Von der Lektüre erzählt er im Radio. Oder er sitzt mit einem hohen Bücherstapel, auf den er beim Reden klopft, im Fernsehen. Er nennt dann eine These und leitet mit den Worten „Daran ist aus drei Gründen nicht zu zweifeln“ über in die Aufzählung ebendieser drei Punkte, mit jeweils zwei, drei Unterpunkten, das Ganze ohne Luft zu holen. Ein verbaler Wasserfall, der sich auf die publikumswirksame Strukturierung seiner Argumentation versteht.

In einem Land, in dem viele zwar die Buchstaben zu erkennen und ihren Namen zu schreiben vermögen, den Sinn längerer Texte aber nicht verstehen können, wirken die Fähigkeiten Marcelos oft wie Wunder. Ein brillanter Professor, der abends immer mit im Wohnzimmer sitzt und den jeder mit dem Vornamen ruft – das imponierte nachhaltig, hinterließ Spuren und Wahlbereitschaft. Seine Kandidatur als Präsident war ein Kinderspiel, die Konkurrenten hatten allenfalls ein Zehntel seiner öffentlichen Projektion und Autorität.

Als ich 1989 Marcelo zum ersten Mal traf, gehörte ich zu einer Gruppe von Jurastudenten, die er als damaliger Vorsitzender der juristischen Fakultät in Lissabon in den Präsidentenpalast am Tejo-Ufer mitnahm, um dem damaligen Oberhaupt Mário Soares die Hand zu drücken. Das tat Marcelo jedes Jahr mit den Erstsemestern – wir sollten sehen, welcher Elite wir angehörten und wo der Weg enden konnte: händeschüttelnd mit dem Präsidenten und, später, händeschüttelnd als Präsident.

So volksnah Marcelo sich gibt, ihm ist sehr wohl bewusst, dass das Land schon immer von einer Kaste regiert wurde. Und dass es weiter von dieser Kaste regiert wird. „Das ist eins unserer Probleme und unsere Stärke“, sagte er damals. „Hier in Portugal sind wir alle Cousins.“

Zwei Drittel der Minister und Regierungschefs Portugals sind Juristen, die in Coimbra oder, wie der aktuelle sozialdemokratische Regierungschef António Costa, in Lissabon studiert haben. Drei der vier letzten Staatspräsidenten entstammen der juristischen Fakultät der Hauptstadt. Schon Diktator Salazar und dessen gleichgesinnter Nachfolger Marcelo Caetano waren Jura-Professoren. Caetano, Regierungschef bis zur Nelkenrevolution 1974 und dann ins Exil nach Brasilien geflüchtet, gehörte zum engsten Freundeskreis der Familie von Marcelo Rebelo de Sousa, war Trauzeuge von dessen Eltern und ein enger Vertrauter des Vaters. Ihm zu Ehren trägt Rebelo de Sousa den Vornamen Marcelo. Die Elite in Lissabon ist ein verschworener Kreis.

Ende der 1990er war Marcelo nach 20 Jahren der erste Parteichef der Konservativ-Neoliberalen, der den offiziellen Dialog mit den Kommunisten wiederherstellte. Zwei seiner engsten Freunde sind auf der einen Seite der Sozialdemokrat und aktuelle Anwärter auf das Amt des UN-Generalsekretärs António Guterres und auf der anderen Ricardo Espírito Santo, bekannt als DDT, „Dono disto Tudo“ – Besitzer von allem.

Empfang in Unterhose

Auf den Anwesen und Yachten des vormals mächtigen Bankiers Santo hat Marcelo oft seinen Urlaub verbracht. Jetzt wartet Santo in Untersuchungshaft auf den Prozess um die abgewickelte Bank Espírito Santo. Vor 17 Jahren hatte er das Wirtschaftsmagazin, für das ich als Redakteur arbeitete, schließen lassen, weil ihm die Berichterstattung nicht passte; er drohte, anderen Publikationen der Verlagsgruppe die Werbung zu entziehen. Präsident Marcelo steht bis heute zu diesen Freundschaften.

Im Alter von 27 Jahren, da war er gerade Abgeordneter des ersten Parlaments nach der Nelkenrevolution geworden, wollte Marcelo Rebelo de Sousa zum ersten Mal seine politischen Memoiren publizieren. Sein damaliger Parteichef, der ein Verhältnis mit der Verlegerin des Buchs hatte, verhinderte dies. Während des Wahlkampfs um Lissabons Oberbürgermeisteramt sprang Marcelo vor laufenden Kameras in das verschmutzte Wasser des Tejo-Flusses. Als Chefredakteur der Wochenzeitung Expresso, die dem damaligen Premierminister Francisco Balsemão gehörte, lief er immer mit breitkrempigem schwarzem Hut, schwarzem Umhang und schwarzem Spitzbart durch Lissabon. Eines Tages schrieb er dann zwischen den Zeilen eines belanglosen Artikels und völlig aus dem Zusammenhang: „Balsemão hat nicht alle Tassen in Schrank.“ Es ging um eine Wette. Und darum, Unabhängigkeit zu beweisen.

Als Oppositionsführer empfing Marcelo einmal den iranischen Botschafter in Sakko und Unterhose in der Parteizentrale der PSD – er hatte zuvor Kaffee auf seiner Hose verschüttet. Der ehemalige Kultusminister José António Pinto Ribeiro, der mit Marcelo studiert hat, erzählte mir einmal, dieser habe in seiner mündlichen Hauptprüfung in Verfassungsrecht über das Grundgesetz der Philippinen referiert. Kein Prüfer hatte den blassesten Schimmer vom philippinischen Grundgesetz.

Mein Freund Jorge Oliveira, ein Anwalt, erinnert sich genau an die erste Vorlesung beim jetzigen Präsidenten. Jorge kam verspätet in die Aula. Marcelo streckte seine Hand aus, um ihn zu grüßen, zog ihn dann völlig überraschend an der Hand über den Tisch und ließ ihn bäuchlings liegen, während er weiter seine Vorlesung hielt.

Als Marcelo mit Mitte 40 immer noch nicht Regierungschef geworden war, sah er wohl ein, dass das mit der Kollision seiner recht eigentümlichen Erscheinung mit den Erwartungen und dem Protokoll der meist sehr konservativen Wählerklientel der PSD zu tun haben könnte.

So trennte sich Marcelo also von seinem mephistophelischen Bart, dem schwarzen Hut und dem Mantel, ersetzte die Hornbrille durch Kontaktlinsen und trug nur noch klassische Anzüge sowie edle Schuhe. Seine politischen Ambitionen gingen trotzdem in einem Meer von oft selbst angezettelten Intrigen unter. Zunächst.

Also startete er eine Karriere als seriöser Kommentator und politischer Analyst, der im Radio anfing und beim staatlichen Fernsehsender RTP erst aufhörte, als er Ende vergangenen Jahres Präsidentschaftskandidat wurde.

Im Fernsehen sprach Marcelo Rebelo de Sousa an jedem Sonntag zu Ende der Hauptnachrichten. Die Vorlagen gab ihm ein freundlicher Journalist, dann legte er los. Er hatte zu jedem Thema was zu sagen, ob häusliche Gewalt und Abtreibung, was er beides ablehnt. Zwischenmenschliche Ereignisse in Reality-Shows, für die sich viele Portugiesen brennend interessieren, gehörten genauso zum Themenkreis wie Bodyboard, bei dem man im Gegensatz zum Surfen im Liegen die Wellen reitet, und Fußball wie allgemeine Sportpolitik. Er erzählte von seinen Ferien und sezierte die politischen Umtriebe in der Hauptstadt – ohne dabei seine neuen Ambitionen aus den Augen zu verlieren: eines Tages Staatspräsident zu werden.

Das Amt hat in Portugal zwar vor allem repräsentative Funktionen, ist aber etwa mit der Möglichkeit zur Parlamentsauflösung verbunden. Marcelos Vorgänger hatte im Herbst zunächst lange versucht, das neue Linksbündnis zu verhindern.

Nach dem EM-Spiel im Juni trudelten die übrigen zum Abendessen in den Amtssitz geladenen Journalisten ein. Zwischen dem Aperitif, Gin Tonic, und dem Dessert, Eis mit Waldbeeren, sollten vier Stunden ununterbrochener Rede des Präsidenten liegen, meist im vertraulichen Hintergrund. „Es wird hoffentlich keine EU-Sanktionen geben, so Gott will“, sagte er. Und dann: „Oh, als Staatschef eines weltlichen Staats sollte ich Gott aus dem Spiel lassen.“

Dabei ist seine bisherige, überraschende Loyalität mit den Linken vielleicht gerade auf den ersten Staatsbesuch zurückzuführen: Marcelo war im Vatikan, beim Papst. Vielleicht hat er nur genau zugehört, als der von tödlichem Kapitalismus und von zerstörerischer Austerität sprach.

Miguel Szymanski ist deutsch-portugiesischer Journalist. Er lebt in Lissabon

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