Brutal ehrlich

Porträt Karl Ove Knausgård hadert mit seinem Dasein als moderner Mann – Gefühle zeigen, Schwächen eingestehen, für die Kinder da sein. Aber daraus hat er große Literatur gemacht
Ausgabe 03/2014
Brutal ehrlich

Foto: Joachim Ladefoged / VII

Es gibt zwei Männer, die ein Buch mit dem Titel Mein Kampf veröffentlicht haben. Der eine ist seit 68 Jahren tot, der andere sitzt auf einem Stein neben dem Bahnhof von Ystad in Südschweden und wartet auf mich. Karl Ove Knausgård ist Norweger, 45 Jahre alt. Drei Jahre lang hat er jeden Tag über sich, seine Freunde, seine Eltern, seine Frau und seine Kinder geschrieben. 4.000 Seiten über den Themendreiklang Familie, Männlichkeit, Tod. Sein Zugang: radikale Ehrlichkeit. Der Titel: Min Kamp 1–6.

Die Bücher schlugen in Norwegen ein wie eine Splitterbombe. Familienmitglieder verklagten, Groupies verfolgten, Kritiker verehrten ihn – und inzwischen sind fast eine Million Exemplare verkauft, bei fünf Millionen Einwohnern. Seit Jahren lautet in Skandinavien die sichere Einstiegsfrage für den Smalltalk: „Bei welchem Band bist du?“ – und sofort ist man drin in einem tollen Gespräch, in dem es gleich um alles geht. Selbst Leute, die nie lesen, lesen Knausgård. Und sogar die Minderheit, die seine Bücher nicht kennt, redet mit, als ginge es um ihr Leben. „Knausoman“ ist die norwegische Bezeichnung für jemanden, der jedes Gesprächsthema auf Min Kamp zurückführt.

Aber worum geht es?

In Band 1 erzählt er vom Kampf gegen seinen Vater. Band 2 handelt vom Kampf, selbst Vater zu sein, und wie einem zwischen Familienalltag und Schreibsehnsucht die Liebe abhandenkommt. Band 3 handelt von der Hölle, ein Kind zu sein, Band 4 vom ersten Mal (auch ein ziemlicher Kampf). Band 5 erzählt von seinem Kampf, Schriftsteller zu werden, und Band 6 ist eine Art Metareflexion über seine Kämpfe und über den Preis, den er dafür zahlte. Und diese Kämpfe werden nicht lässig ironisiert oder auf Thomas-Mann-Niveau hochgejazzt, sondern hier wird mit einer hypnotisierenden Genauigkeit erzählt, was ist.

Wie Crack

Natürlich, man kann fragen: Warum, bitte schön, soll man Details über das Leben eines unbekannten Norwegers lesen, der mit seinem Vater ein Problem hatte, als Kind wegen seiner Badekappe gehänselt wurde und sich im Familienalltag des 21. Jahrhunderts aufreibt? Die kurze Antwort lautet: Weil man nicht anders kann. In Min Kamp steht nämlich alles drin. Und Knausgårds Sprache ist von einer solchen Kraft und Schönheit, dass man weiterliest, selbst wenn man eigentlich schon genug hat; und wenn man ihn wütend weglegen will, merkt man, dass man süchtig ist. Die britische Schriftstellerin Zadie Smith twitterte, sie brauche den nächsten Band wie ein Süchtiger Crack.

Die letzten 18 Monate verbrachte ich jede freie Minute mit Knausgård. Freute mich während des Tages schon auf den Abend, las tagsüber während der Arbeit und bis in die Nacht hinein. Ich erinnere mich besser an Details aus seinem Leben als aus meinem eigenen. „Du betrügst mich mit ihm“, sagte meine Frau.

Jetzt sitzt er vor mir. Langes Haar, unrasiert, intensive Augen. Er sieht aus wie ein Rockstar. Wir gehen zu seinem alten VW-Bus. Wir waren bereits vor vier Monaten verabredet gewesen, aber er hatte das Treffen in letzter Minute abgesagt, weil seine Frau, die schwedische Lyrikerin Linda Boström, in die Psychiatrie eingeliefert worden war. Zwei Wochen später sagte er alle öffentlichen Auftritte ab und ließ ausrichten, dass er keine Interviews mehr gebe. Nie mehr. Nach sechs Wochen erhielt ich eine E-Mail, in der er knapp erklärte: „Ich schulde dir noch das Interview.“

Der größte lebende skandinavische Schriftsteller, dessen Frau nach der Lektüre seines Werks in einer geschlossenen Anstalt liegt, der sich in seinem Schreiben so ausgekotzt hat, dass er leer ist und nicht mehr reden mag, sitzt neben mir im Auto – und ich weiß auch nicht mehr so recht, was ich sagen soll. Denn was fragt man jemanden, der auf 4.000 Seiten schon alles, wirklich alles über sich preisgegeben hat? Ich bekomme plötzlich Angst, den Problemen, die er herumschleppt, nicht gewachsen zu sein. Also schweigen wir uns an.

Nach fünfzehn Minuten Fahrt biegt Knausgård ab und parkt vor einem Einfamilienhaus mit angrenzender Scheune. Durch die Tür dringt Geschrei, und als wir sie öffnen, stehen drei Kinder vor uns. Vanja, Heidi, John. Obwohl ich die drei noch nie gesehen habe, erkenne ich sie sofort. Vanja, das kluge Lieblingskind des Vaters, Heidi, die eigenwillige Muttertochter, John, das Nesthäkchen. Aus der Küche kommt die Schwiegermutter, von der Knausgård behauptet, sie sei Alkoholikerin (Band 2), und die wiederum Knausgård vorwirft, er sei schuld an den bipolaren Anfällen ihrer Tochter (Band 2 und 6). Das Haus zu betreten, heißt Min Kamp zu betreten. Denn das ist das Extreme an den Büchern: Die zehnjährige Vanja ist keine Romanfigur. Sie ist Vanja. Knausgårds Frau Linda ist keine Romanfigur, sie ist Linda. Die Schwiegermutter hat wirklich verdächtig gerötete Wangen. Und sie hat gelesen, was ihr Schwiegersohn über sie geschrieben hat.

Knausgård dirigiert mich über den Hof zum Südflügel des Hauses; hier hat er sich ein Arbeitszimmer eingerichtet. Auf dem Tisch vor dem Fenster steht ein Computer, in der Ecke ist ein Schlagzeug aufgebaut. Er lässt sich in einem Ohrensessel nieder. Er ist nicht unfreundlich, nur desinteressiert. Er hat, daran ist kein Zweifel, hierzu überhaupt keine Lust. Er schenkt sich eine Tasse Filterkaffee ein, zündet sich eine Zigarette an, seufzt schwer und signalisiert mit einer Handbewegung, dass es losgehen kann.

Herr Knausgård, warum haben Sie Min Kamp geschrieben?

Ich war frustriert. Von meinem Leben und meinem Schreiben enttäuscht. Ich wollte etwas Großes schreiben, wie Ulysses oder Moby Dick. Aber ich war gefangen im Kleinen, weil ich eine Familie hatte – und in Skandinavien musst du dich als Mann um deine Kinder kümmern. Ich wechselte Windeln, kochte Brei, stritt mit meiner Frau über Zuständigkeiten, und irgendwann begann ich, darüber zu schreiben. Ich hasste jeden Satz, den ich schrieb, aber dann wurde das der Sinn meines Schreibens: sich nichts vormachen, dort bleiben, wo man wirklich ist. Ich wollte so tief im Kleinen verschwinden, dass sich die großen Linien auflösen. Ich schrieb über Windeln wie Joyce über Dublin.

Was unterscheidet Sie von James Joyce?

Es gibt zwei Arten von Schriftstellern. Solche, die das Ding schaffen. Und die anderen, die darüber schreiben. Ich bin ein Sekundärschreiber. Ich erschaffe mit meinem Schreiben nichts Neues wie Joyce oder Melville, ich kann nur über Joyce oder Melville schreiben. Ich mache mir nichts vor, ich weiß, dass ich gut schreibe, aber ich weiß auch, dass mein Schreiben minderwertig ist. Keine Rezension und kein Verkaufsrekord wird das ändern.

Sein Gesicht ist schön auf eine verlebte, ungepflegte Art, die Augen liegen tief darin, und sie sind klar und blau. Die Idee, detailliert aus dem eigenen Leben zu erzählen, hatten schon andere. Proust war eine Inspirationsquelle; das wird spätestens im zweiten Band deutlich, als ein Silvester-Essen mit Freunden auf Seite 154 beginnt und sich die Gäste auf Seite 409 „ein frohes neues Jahr“ wünschen. Dazwischen liegen Rückblenden in die Zeit, als er seine Frau kennenlernte, literarische Anspielungen, Reflexionen über dies und jenes, Endlosdialoge mit seinem Kollegen Geir und seitenlange, beinah meditative Beschreibungen darüber, wie er sich Kaffee kocht.

Knausgårds Trick ist, dass er auf alles verzichtet, was man normalerweise von Literatur erwartet. Vor allem auf die billigste Waffe der Intellektuellen: die Selbstironie. Es liegt eine grundehrliche Offenheit in seinen Beschreibungen, als sei er unfähig zu lügen. Das erlaubt ihm, Sätze zu schreiben, die so traurig und wahr sind, dass man weinen möchte. Zum Beispiel diesen: „Und der Tod, den ich stets als die wichtigste Größe im Leben betrachtet hatte, dunkel, anziehend, war nicht mehr als ein Ast, der im Wind bricht, eine Jacke, die von einem Kleiderbügel rutscht und zu Boden fällt.“

Die Frage, ob er sich nicht kürzer hätte fassen können, stellen nur Leute, die ihn nie gelesen haben. Es klingt verrückt, aber keiner seiner Sätze ist zu viel. Genau diese 4.000 Seiten brauchte sein Kampf.

In Norwegen spricht man vom „Knausgård-Moment“ und meint jene Szene in Ihrem Buch, in der man sich selbst am stärksten wiedererkennt. Haben Sie selbst auch einen „Knausgård-Moment“ in Ihren Büchern?

Die alles entscheidende Szene dieses Buchprojekts findet man im ersten Band. Nach der Beerdigung meines Vaters saß ich mit meinem Bruder bei meiner Großmutter. Überall waren Zeichen des totalen Verfalls, verdrecktes Geschirr, Kot auf dem Sofa, leere Flaschen. Meine Großmutter saß regungslos vor dem Fernseher – auf dem gleichen Sofa, auf dem sich ihr Sohn drei Tage zuvor totgesoffen hatte. Und langsam dämmerte uns, dass nicht nur unser Vater, sondern auch sie hier gesoffen haben musste. Zwei Tage putzten wir die Wohnung, während sie uns mit leeren Augen anstarrte. Irgendwann setzten wir uns zu dritt an den Küchentisch und begannen zu trinken. Der Alkohol tat ihr gut. Ihre Augen fingen an zu leuchten. Zuerst konnte ich nicht hinsehen, aber dann spürte ich selbst die Wirkung des Alkohols. Es wurde warm zwischen uns. Es wurde gut. Das war etwas Furchtbares, das mir gleichzeitig guttat.

Das Trinken spielt eine große Rolle in Ihren Büchern.

Mein Problem ist, dass ich die Kontrolle verliere, wenn ich trinke. Wenn jemand ein Bier trinkt, trinke ich zehn. Beim Trinken erinnere ich mich daran, was ich wirklich will, nämlich mich grenzenlos, hemmungslos betrinken. Ich will mich fortsaufen von meiner Familie und meinen Freunden, von allem, was mir lieb ist. Ich spüre eine Sehnsucht nach einem entgrenzten, exzessiven, destruktiven Leben.

Wenn Sie es so gern mögen, warum werden Sie nicht einfach Alkoholiker?

Mein Vater hat das gemacht. Er hatte das Gefühl, ein unauthentisches Leben zu führen, und irgendwann hat er aufgegeben und sich zu Tode gesoffen. Das war furchtbar. Aber ich habe ein ambivalentes Verhältnis dazu: Etwas in mir hat Verständnis für die Entscheidung meines Vaters, doch ich kann das nicht, es verstößt gegen meine protestantische Arbeitsethik.

Sie schreiben sehr detailliert über Ereignisse aus Ihrer Kindheit. Wie konnten Sie sich so genau erinnern?

Erinnerungen sind ein Raum in uns. Ich glaube, dass alle unsere Erfahrungen und Erlebnisse dort liegen und dass wir durch ein kleines Ereignis daran erinnert werden können. Wenn Sie zum Beispiel zum ersten Mal seit Ihrer Jugend wieder Fußball spielen, dann ist das zunächst ungewohnt, aber Ihr Körper erinnert sich an die Bewegungen und an alles, was Sie damals mit Fußball verbunden haben. Indem Sie spielen, betreten Sie den Raum der Erinnerungen. Auch ein Geruch kann Erinnerungen auslösen. Als ich mit Min Kamp begann, versuchte ich mir unser Haus vorzustellen. Es war Winter, es hatte geschneit, es war dunkel. Ich stand draußen, drinnen brannte Licht. Ich sah meinen Vater und meine Mutter durch das Fenster, und plötzlich erinnerte ich mich an die Gefühle, die ich damals für sie hatte. Ich erinnerte mich an den Geruch von Schnee, an die Stille im Wald. Ich stand vor der Haustür und wusste plötzlich wieder, wie vorsichtig ich sie immer aufschloss, damit mein Vater mich nicht hörte. Ich erinnerte mich an die bedrückte Stimmung, daran, dass ich eigentlich immer Angst hatte vor meinem Vater. Woran ich mich nicht erinnerte, waren Dialoge, die musste ich rekonstruieren. Deshalb ist meine Geschichte auch nicht wahr, bloß ehrlich.

Nicht alle lieben Knausgård. Viele sind der Ansicht, er habe Menschen, die seinem Schreiben ausgeliefert waren, schonungslos vorgeführt. Sein Onkel, der Bruder des Vaters, verklagte ihn und erzwang, dass er und sein Bruder im Buch nicht mit Klarnamen, sondern nur als „Onkel Gunnar“ und „mein Vater“ auftauchen. Knausgård hatte im Vorfeld allen Familienmitgliedern und Freunden, die im Buch vorkommen, das Manuskript zum Gegenlesen geschickt. Sobald das Buch gedruckt war, schwärmten Reporter aus und suchten wochenlang nach allen anderen Protagonisten – jede Ex-Freundin, jeder Saufkumpan, jeder Schriftstellerkollege wurde befragt, denn bis auf den Vater und den Onkel waren ja alle Personen mit Namen benannt.

Seine Ex-Frau, die Journalistin Tonje Aursland, die in den Bänden 1 und 2 ziemlich schlecht wegkam, produzierte fürs norwegische Radio den Beitrag „Tonjes Version“ in dem Versuch, die Deutungshoheit über ihr eigenes Leben zurückzugewinnen. Am Ende konfrontiert sie Knausgård und fragt ihn, warum er so rücksichtslos alles über sie aufgeschrieben habe. Er verteidigt sich nicht. Er sagt: „Das, was ich gemacht habe, ist unverantwortlich.“ Und weiter: Es fühle sich an, als habe er dem Teufel seine Seele verkauft – schließlich habe er im Tausch für die Bücher viel Geld und Ruhm erhalten. Aber seine Motive, sagt er, seien edel. Er habe einfach sein Leben so aufschreiben wollen, wie er es sieht.

Verstehen Sie die Kritik Ihres Onkels?

Mein Onkel wollte nicht, dass ich diese Geschichte erzähle. Das kann ich verstehen. Aber sie handelt nicht von ihm, sondern von mir. Es ist mein Leben, und mein Vater hat darin eine wichtige Rolle gespielt. Das Problem, das manche mit meinem Buch haben, ist ein sehr norwegisches. Wir sind ein kleines Land. Jeder kennt jeden, das Private behält man besser für sich. Ich tat das Gegenteil. Beim Schreiben spürte ich körperlich, dass das, was ich mache, nicht in Ordnung ist. Und als ich dann auch noch erfolgreich war und so viel Aufmerksamkeit bekam, habe ich mich dafür geschämt und gehasst.

Weil das gegen „Jante“ verstieß, das skandinavische Gesetz des Mittelmaßes.

„Glaube nicht, dass du etwas Besseres bist“, richtig, das ist unsere Grundmentalität. Es schreit noch immer in mir: Tu das nicht, das ist falsch! Der Versuch, ehrlich zu sein mit sich und anderen, wird bei uns als unmoralisch betrachtet. Aber man muss die sozialen Barrieren durchbrechen, um gut zu schreiben.

Ein anderer großer norwegischer Autor, Knut Hamsun, sah sich auch gezwungen, das zu schreiben, was man nicht schreiben durfte, und verfasste im Mai 1945 einen Nachruf auf Hitler – „Wir beugen unsere Häupter, ein großer Mann tritt ab“. Fühlen Sie sich verwandt mit ihm?

Als Hamsun das schrieb, war der Krieg vorbei, Deutschland hatte verloren, und Norwegen war befreit. Man konnte zu dem Zeitpunkt im Prinzip alles schreiben, außer das, was Hamsun schrieb. Hamsun war ein Idiot, aber alles, was ich an ihm bewundere, findet man in dieser Handlung: Er war eigen, monoman, frei. Man kann ihn mit Peter Handke vergleichen. Beide sind kompromisslos. Beide befinden sich außerhalb des Sozialen.

Knausgård ist Norweger, lebt aber seit zwölf Jahren in Schweden. In beiden Ländern liebt man seine Bücher für das Gleiche: weil man sich in ihnen nicht verliert wie in einem Krimi, sondern sich in ihnen findet wie im Gespräch mit einem guten Freund. Aber man hasst ihn aus völlig unterschiedlichen Gründen: im konservativen Norwegen wegen seines fehlenden Respekts vor der Familie, im liberalen Schweden, weil man Knausgårds Hadern mit dem gleichberechtigten Erziehungsalltag für eine spätpubertäre Sehnsucht nach einer „naturgegebenen“ Geschlechterordnung hält, in welcher der Mann arbeitet und die Frau sich um die Kinder kümmert. Vor allem der zweite Band stieß in Schweden auf heftige Kritik. In diesem beschreibt Knausgård die Angst, zwischen Spielplatz und Krabbelgruppe seine „Männlichkeit“ zu verlieren. Zentral ist die Szene, in der seine Frau ihn mit Tochter Vanja zur Babyrhythmik schickt: „Es war nicht beschämend, dort zu sitzen, es war demütigend und herabwürdigend (…), und zu allem Überfluss wurde der Kurs von einer Frau geleitet, mit der ich gerne geschlafen hätte. Aber indem ich dort saß, war ich völlig unschädlich gemacht worden, ohne Würde, impotent, es gab keinen Unterschied mehr zwischen mir und ihr, und diese Nivellierung erfüllte mich mit Zorn.“

Knausgård ironisiert seine neue Rolle nicht, er fühlt sich allen Ernstes in seiner Männlichkeit bedroht. Als er in einer Szene weinen muss, hasst er sich dafür und versteckt die Tränen, um die Scham nicht noch größer zu machen: „Ich war nicht nur kein Mensch, ich war auch kein Mann mehr.“

Über die Rollenaufteilung zwischen sich und seiner Frau schreibt er: „In der Klasse und der Kultur, der wir zugehörten, hieß dies, dass wir beide in dieselbe Rolle schlüpften, die früher die Rolle der Frau war. An sie war ich gebunden wie Odysseus an den Mast: Wollte ich mich befreien, so war dies möglich, aber nicht, ohne alles zu verlieren, was ich hatte. So kam es, dass ich modern und verweiblicht mit einem wutschnaubenden Mann aus dem 19. Jahrhundert im Inneren durch die Straßen Stockholms lief.“

Vaterwerden – Vaterloswerden

Die Beschreibung seiner Ängste und Probleme ist für viele Schweden, auch für mich, absurd. Ebenso, dass Knausgård seine Bücher Min Kamp nennen musste. Ich kann verstehen, dass es Leute gibt, die sagen, dass sie das nicht lesen wollen. Allein die Tatsache, dass Männer und Frauen sich gleichberechtigt um die Kinder kümmern, wird in Schweden nicht als Bedrohung, sondern als Bereicherung erlebt – ganz so, wie es selbstverständlich ist, sich als feministischen Mann zu bezeichnen. Aber Norwegen liege, wenn es um Gleichberechtigung gehe, rund zehn Jahre hinter Schweden zurück, sagt Knausgård. Er wuchs noch in einer Gesellschaft auf, in der es eine große Distanz zwischen Kindern und Männern gab. Doch im Laufe einer Generation habe sich alles verändert. Und damit hadert er.

Knausgårds roter Faden ist die Männlichkeit – und wie Vaterwerden (Geburt) und Vaterloswerden (Tod) sie verändert. Er hat ein Problem mit seiner Männlichkeit und versucht, das nicht zu verstecken. Er schreibt: „Noch heute passiert es mir, dass ich vor dem Einschlafen das Gefühl habe, eine Frau zu sein, dann wache ich ruckartig auf, und es ruft laut in mir: Nein, nein, ich bin ein Mann, ich bin ein Mann – wie ein Echo aus meiner Teenagerzeit, als ich fürchtete, nicht so zu sein wie die anderen und mich zu Jungs statt zu Mädchen hingezogen zu fühlen. Ich hatte solche Angst davor, ich hätte mir das Leben genommen.“

Angst hat er auch vor Nähe. Als Kind hat er sie nie erfahren, und als Freund, Partner und Vater kann er sie nicht geben. Im letzten Band erklärt er, dass es ihm zu intim sei, seinen Kindern zu sagen, dass er sie liebe. Er ist aber kein Abbild seines eigenen Vaters, im Gegenteil, er kümmert sich zuverlässig um den Nachwuchs. Doch genau diese Fähigkeit erlebt er als zutiefst unmännlich. Er will ein guter Vater sein und ein großer Schriftsteller, glaubt aber, dass das eine das andere ausschließt.

Sein Ausweg aus diesem Dilemma ist, darüber zu schreiben. Und im Schreiben entsteht nun etwas Paradoxes: All das Große und Wichtige, für das er sechs Bände lang kämpft – also Freiheit, Anerkennung, Erfolg, Exzess, Genie, Männlichkeit –, wird unbedeutend und lächerlich. Und das Kleine, das Alltägliche, das vermeintlich Unmännliche – also Windeln wechseln, Gemüse putzen, Auseinandersetzungen mit trotzenden Kindern, eigene Schwächen eingestehen, von Niederlagen berichten, Nähe zulassen – wird in der Beschreibung plötzlich außergewöhnlich und wichtig.

Am deutlichsten ist das in den Szenen mit Vanja, Heidi und John. Knausgård besitzt eine beneidenswerte Fähigkeit, seine Kinder zu sehen und zu „lesen“ – und Worte dafür zu finden. Seine feinfühligen Beschreibungen sind Bilder einer bedingungslosen, gegenwärtigen Vaterschaft, wie sie in der Literatur bislang nicht vorkam. Er beschreibt das Zehrende, das Chaos, den Streit, aber auch die Wärme zwischen Vater und Kind. Gleichzeitig macht er keinen Hehl daraus, dass sein Leben dem traditionellen Männlichkeitsideal widerspricht, das sich über beruflichen Erfolg und öffentliche Anerkennung definiert und nach dem er sich so verzweifelt sehnt.

Ein Blick in den Spiegel

Auf den letzten 300 Seiten des sechsten Bandes verhandelt Knausgård das Zusammenleben mit seiner psychisch kranken Frau Linda. Sie leidet an einer bipolaren Störung, und er leidet an ihr. Und seine Beschreibung, wie er immer wieder in die Klinik fährt, die Kinder von ihr weghält, sie am liebsten verlassen würde, ist brutal. Seine Autonomiefantasie, sein Ich, wird von seiner Frau und der Bedürftigkeit seiner Kinder infrage gestellt. Er will gehen, bleibt aber. Er ahnt, dass er ohne sie nicht frei, sondern verloren wäre.

Freiheit, so lernen wir, ist vielleicht doch nicht die Möglichkeit, einfach alles zu tun, was einem gerade in den Sinn kommt, sondern die Einsicht, dass wir gar nicht allein auf der Welt sein können. Denn er braucht seine Frau und seine Kinder genauso, wie sie ihn brauchen. Nicht das Angewiesensein auf andere macht uns unfrei, sondern der Glaube, ohne andere auskommen zu können. So wird Min Kamp auf den letzten Seiten eine beunruhigende Meditation über den Knausgård in uns allen – zumindest in uns Männern. Man versteht ihn, ohne ihn zu mögen. Man ist ihm näher, als man sich selber je kommen will. Wenn er beschreibt, was er sieht, wenn er in den Spiegel blickt, sieht man sich selbst.

Nach drei Stunden Gespräch verstummt Knausgård. Er hängt in seinem Sessel.

„Soll ich gehen?“

Er antwortet nicht. Ich raschle mit den Papieren. Irgendwann sagt er: „Ich habe drei Monate lang nicht so viel geredet wie heute Abend.“

Schweigend fahren wir im Auto zurück nach Ystad. Vor dem Bahnhof lässt er mich raus, kurz schaut er noch auf und winkt aus dem Wagenfenster, dann wendet er den VW-Bus und fährt zurück in seine Welt.

Bisher sind auf Deutsch die ersten drei Teile von Min Kamp bei Luchterhand unter den Titeln Sterben, Lieben und Spielen erschienen.

Mikael Krogerus ist in Schweden und Deutschland aufgewachsen. Im Freitag schrieb er zuletzt über deutsch-schwedische Unterschiede beim Alltagssexismus

Die besten Blätter für den Herbst

Lesen Sie den Freitag und den neuen Roman "Eigentum" von Wolf Haas

Wissen, wie sich die Welt verändert. Abonnieren Sie den Freitag jetzt zum Probepreis und erhalten Sie den Roman “Eigentum” von Bestseller-Autor Wolf Haas als Geschenk dazu.

Gedruckt

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt sichern

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden