Das Labor der Republik

Reportage Eine andere Welt ist möglich: Die Bewohner der Berliner Stadtteils Friedrichshain-Kreuzberg machen es schon mal vor

Bald ist Bundestagswahl und wenn einiges zusammenkommt, könnte es eine rot-rot-grüne Mehrheit geben. Das ist für viele Deutsche so unvorstellbar wie ein Tempolimit auf der Autobahn. Andererseits, im derzeit interessantesten Stadtteil der Republik, in Berlin Friedrichshain-Kreuzberg, wählen 80 Prozent genau das: Rot-Rot-Grün. Und die Piratenpartei wird vermutlich mehr Stimmen als die FDP bekommen. Der Bezirk in der Hauptstadt Deutschlands ist zu einem Sehnsuchtsort für junge Menschen aus aller Welt geworden. Nicht selten hört man: Der Stadtteil ist ein soziales Experimentierfeld, in dem man heute schon im Kleinen besichtigen kann, wie die Welt aussieht, von der viele nur träumen. Höchste Zeit also, diesem Versuchslabor noch vor Wahl einen Besuch abzustatten.

Die Jugendlichen

Die erste Station ist die Hermann-Hesse-Oberschule im Gräfekiez, einem Viertel in Kreuzberg, das seit kurzem stark im Kommen ist, aber gleichzeitig noch einen hohen Ausländeranteil hat. Rund 200 Schüler haben sich in der Sporthalle versammelt. Und alle reden. Gleichzeitig. Wer lange nicht in einer Schule gewesen ist, vergisst, wie laut 200 Schüler sind. Warum einen das wohl damals nicht anstrengte? Vorne sitzen Politiker. Der einzige direkt gewählte Bundestagsabgeordnete der Grünen, Hans-Christian Ströbele, Jahrgang 1939. Daneben Björn Böhning von der SPD, Jahrgang 1978. Außerdem: Klaus Lederer von der Linken, FDP-Mann Markus Löning und Vera Lengsfeld von der CDU. Für Schwarz-Gelb, das spürt man, wird es ein Auswärtsspiel.

Die Schüler haben Fragen vorbereitet: Afghanistan, Hartz IV, irgendwas mit Bildung. Anfangs klatschen alle artig nach jedem Redebeitrag, aber bald haben sich die Sympathien verteilt: Böhning, der aussieht wie ein Klassensprecher und dem man sofort zutraut, in 10 Jahren Bundeskanzler zu werden, bekommt lauten Beifall, als er verspricht, eine Mietobergrenze durchzusetzen. Ströbele redet zu lang, die Frau von der CDU wird ausgebuht, der FDPler ignoriert. Das Rennen aber macht der Mann von der Linken. Bei ihm wird, egal was er sagt, gejohlt und getrampelt. Dann plötzlich passiert etwas.

Ein Schüler mit Rastafari-Kappe geht ans Mikrofon: „Unser Bezirk verkommt so langsam, wer braucht denn hier einen McDonalds, kann mir das einer von euch erklären?“ Kann natürlich keiner der Kandidaten. Später vor dem Schultor: die Raucher, ungefähr gleich viele Jungs und Mädchen, mehr Türken als Deutsche. Blitzumfrage, was würdet ihr wählen? Rund 80 Prozent sagen: die Linke. Einige Mädchen fanden „den von der SPD ganz süß“. Zwei türkische Jungs sind unentschlossen und diskutieren heftig, wo die Linke in der EU/Türkei-Frage steht. Was ist mit den Grünen? „Ey, der ist ja superalt der Grüne“, ruft ein Mädchen, „und zieht sich an wie ein Kind!“

Das Baby

Man kann natürlich sagen, wer in Kreuzberg lebt, müsse nie erwachsen werden. Aber die wichtigere Frage ist: Kann man in Kreuzberg überhaupt erwachsen werden?

Wenn man Friedrichshain-Kreuzberg von oben betrachtet, sieht es aus wie ein Baby in Embryonalstellung. Kreuzberg ist der Rumpf, Friedrichshain der Kopf, ein Arm (Stralau) ist unnatürlich auf den Rücken gedreht. Das Baby ist 20 Quadratkilometer groß, viele Häuser, einige Grünflächen. 270.000 Menschen leben hier, mehr als 13.000 Einwohner pro Quadratkilometer. Das ist selbst für eine Großstadt viel. Das Durchschnittseinkommen liegt bei 1.175 Euro. Die Arbeitslosigkeit bei 20, der Ausländeranteil bei 23 Prozent. Die wahre Zahl dürfte aber höher sein, denn in im östlichen Kreuzberg bildet sich gerade der neue amerikanische Sektor. Dort hört man praktisch nur noch englisch. Oft mit skandinavischer oder spanischer Färbung. Angeblich leben zwei Drittel aller dänischen Künstler hier.

Der Chronist

Wer wissen will, wie es früher war, reist am besten in den Westteil des Bezirks und trifft Hans W. Korfmann. Man kann sagen, dass Korfmann ein typischer Kreuzberger ist: zugezogen (aus Österreich, vor vielen Jahren), politisch (irgendwie links), Genießer (sucht während des Treffens mit dem Reporter 15 Minuten lang nach einem bestimmten spanischen Crianza), beruflich unabhängig (gibt seit 15 Jahren die kleine Zeitschrift „Kreuzberger Chronik“ heraus, in der er liebevoll die Bewohner des Bezirks porträtiert). Und er ist – wie viele Kreuzberger – schlau (das Heftchen ist eine Gratiszeitung, anzeigenfinanziert – ein Geschäftsmodell, von dem manche glauben, dass es das einzige sein wird, das die Finanzkrise überlebt). Trotzdem macht Korfmann einen etwas unglücklichen Eindruck. Was ist los?

„Viel hat sich verändert“, sagt Korfmann, „schau dich nur um... Die kleinen Krämerläden, die dem Supermarkt weichen mussten, die hässliche Renovierung der Markthalle, die Kinderprojekte, die versanden.“ Was Korfmann meint: Früher war es mal besser. Es ist das Mantra vieler Kreuzberger und bedeutet zweierlei. Erstens: Jetzt ist es schlecht. Und zweitens: Als es gut war, warst du nicht dabei.

Die Veränderung, die Korfmann beschreibt, nennt sich Gentrification. Und die funktioniert so: Ein Stadtteil, der arm ist und also nicht besonders attraktiv, zieht durch seine niedrigen Mieten die nachtaktive Avantgarde an, die ihrerseits Nachzügler anlocken. Dann werden die Besserverdiener aufmerksam auf den hippen Ort, akzeptieren höhere Mieten und verdrängen jene, deren Nähe sie ursprünglich suchten.

Der Hausbesitzer

Am Paul-Lincke-Ufer 39, in einem der vielleicht schönsten Häuser Berlins, brummt im 5. Stock so etwas wie der Teilchenbeschleuniger der Gentrification. Hier hat „Jørn Tækker“, ein dänischer Immobilienriese, seinen Sitz. Tækker gehört das ganze Haus. 12.000 Quadratmeter. In den letzten Monaten hat das Immobilien-Unternehmen rund 200 Häuser mit insgesamt fast 4.000 Wohnungen vor allem in Kreuzberg und Friedrichshain gekauft. Es hat sie teilweise kernsaniert, oft auch nur die Fassade gemacht – und dann die Mieten erhöht. In Berlin hat Tækker zwar sensationelle 90 Prozent Auslastung, aber inzwischen muss die Firma auch hier umstrukturieren, geplant sind nun auch Eigentumswohnungen. Tommy Lynggaard, ein aufgeweckter 30-jähriger Däne und zuständig für die Mietabteilung bei Tækker sagt: „Man kann doch niemandem vorwerfen, dass er hier leben will.“

Hier leben, am „echten“ Leben teilhaben, steht ganz oben auf der Wunschliste vieler Menschen. Mit dem echten Leben meint man natürlich nicht Hartz-IV-Empfänger, die morgens in der Kneipe Bier trinken, sondern Künstler, die Hartz IV in Kauf nehmen, um sich ihren Traum zu verwirklichen. Das hat Tækker auch verstanden, deshalb gibt das Unternehmen Künstlern 15 Prozent Ermäßigung auf die Nettokaltmiete. Man bekommt also für 10 Euro pro Quadratmeter noch einen Künstlernachbarn hinzu.

Die Experimentierer

„Bau keinen Scheiß“, steht auf der Fensterscheibe einer kleinen Ladenwohnung unweit des Tækker-Sitzes. Der Satz ist der Slogan einiger Architekten und gleichzeitig ein Kommentar zu den Veränderungen im Bezirk. Eine Mahnung, achtsam umzugehen mit diesen kostbaren 20 Quadratkilometern Experimentierland. Es gibt so wenig davon in Deutschland. Wenn man vom Paul-Linke-Ufer Richtung Norden läuft, kommt man in die Hochburg einer alternativen Protestkultur, die sich durch zwei Besonderheiten auszeichnet: Sie will nicht nur verhindern, blockieren, anecken, sie bietet auch Gegenvorschläge an, die vor allem deshalb überzeugen, weil sie von den Leuten vorgelebt werden. Und: Sie lässt sich auch von herben Rückschlägen nicht aufhalten. Der Ausbau des Spreeufers beispielsweise wird nicht nach den Vorstellungen der Protestler laufen. Trotzdem machen sie weiter.

Ebenfalls in der Nähe: die aus der Kreuzberger Hip-Hop-Szene hervorgegangene Junggründer-Firma Kazik, inzwischen so etwas wie eine lokale Weltberühmtheit dank ihres Erfolgsprodukts „Leschifant“, ein mit Weizen gefülltes Wärmekissen in Form eines Tieres, um das sie ein bemerkenswertes Branding-Narrativ gesponnen haben (das „Tier“ kommt aus dem Fantasieland Kazikistan), das seinen Eingang in Marketinglehrbüchern haben wird. Das Sympathische: Es geht den vier Berlinern nicht nur um den Profit, als kürzlich einer der vier Vater wurde, entschieden die anderen, dass er von nun an weniger arbeiten müsse, aber mehr (sic!) verdienen solle, um sein Kind zu ernähren. So verschieden hier alle sind, sie bilden eine Art Alternativgesellschaft mit dem gemeinsamen Ziel, etwas anders zu machen – im Rahmen des Möglichen.

Der Enttäuschte

Als Matto 1970 nach Berlin kam, interessierte ihn dieser Rahmen nicht. Heute ist er 61 Jahre alt, aber damals besetzte er das Georg-von-Rauch-Haus, Bewegung 2. Juni, Drogen, antiautoritäre Erziehung, Nicaragua – Matto ist all das, wofür Kreuzberg bekannt wurde. Heute ist Matto Hartz-IV-Empfänger. Also im Prinzip das, wofür Kreuzberg heute bekannt ist. Er sitzt vor der Markthalle an der Bergmannstraße und trinkt Weizenbier.

„Das Beste an Kreuzberg ist der Elefant! So ’ne Kneipe am Heinrichplatz. Da sitze ich, wenn ich nicht hier sitze. Ja, und dann gefällt mir, dass es früher so ‘ne Solidarität gab hier. Man half sich. Heute ist das anders, wegen der ganzen Arschlöcher aus Stuttgart, die hierher ziehen, die kapieren überhaupt nicht, dass sie etwas zerstören.“

– Was denkst du über die nächste Generation?

„So jung und schon so blöd.“

Er grinst. Dann sagt er: „Vielleicht bin ich aber auch blöd. Vielleicht verstehe ich die Jungen und ihre Art zu leben einfach nicht.“

Der Schwabe

Einer dieser Jungen, die Matto nicht versteht, ist Constantin Hanov, er sitzt wenige Meter entfernt in der Nostritzstraße. Der 28 Jahre alte gebürtige Stuttgarter betreibt seit 2007 einen I-Phone-Reparatur-Service. Anfangs waren es Freundschaftsdienste, seit einem halben Jahr läuft das Geschäft so gut, dass er einen Laden eröffnen wird. Wer ein I-Phone besitzt, ahnt, wie das Angebot aussieht: Display-Reparatur und Softwaremodifikation. Hanov brabbelt keinen Technikjargon, hat faire Preise und achtet auf Qualität – kein Wunder, dass sich seine Freunde an ihn wandten. Er sieht sich selbst in der Tradition der schwäbischen Alternativ-Unternehmer, die vor 30 Jahren nach Berlin kamen, um sich dem Wehrdienst zu entziehen und sich dann als Gastronomen im Kiez selbständig machten.

Die Hänger

Später in der Ankerklause, einer Kneipe an der Grenze zu Neukölln. Ein junges Pärchen, vielleicht Ende 20, sitzt sich gegenüber. Sie: scheinbar unachtsam hochgesteckte Haare, enges Oberteil, Leggins, Cowboystiefel. Er: verwuselte Haare, Pyjama-Oberteil, Bluejeans – Out-of-Bed-Look.

Sie: „Ich kann einfach nicht mehr. So eine Scheißstadt… Trinkst du schon wieder Alkohol?“

Er: (Schweigen)

Sie: „Jetzt sind wir acht Jahre hier und haben nichts auf die Reihe gekriegt. Immer nur Feiern, die nächste Party, der nächste Club und wenn ich mich mal hinsetzen will, um eine Bewerbung abzuschicken, klingelt das Telefon, weil irgendeiner irgendwo auf Drogen ist.“

Er: (Schweigen)

Sie: „Hörst du mir überhaupt zu?“

Er: (Schweigen)

Sie: „So ist das mit diesem fucking Kreuzberg. Man kann hier durchkommen, ohne den Arsch zu bewegen. Du denkst, das ist Freiheit, aber ich hab kein‘ Bock mehr.“

Sie steht auf, geht raus. Er folgt ihr.

Die Boxer

Um nach Friedrichshain zu gelangen, muss man über die Oberbaumbrücke laufen und dann weiter über die Warschauer Brücke. Von hier aus hat man einen schönen Blick auf eines der hässlichsten Gebäude der Stadt: die O2-Arena. Sie steht für alles, was die Leute hier verachten: Ignorieren von Anwohnerinteressen, massive öffentliche Subventionen, Verdrängung von Alternativkultur, miese Löhne, viel Beton, viel Profit, viel Polizei. 17.000 Sitz- und Stehplätze, eine supermoderne Mehrzweckhalle, die von außen aussieht wie ein grell erleuchteter Helm, was passt, da hier der lokale Eishockey-Club spielt, aber auch der Dalai Lama auftritt. Die Arena ist eine der modernsten Europas, oft ausverkauft.

Heute findet eine Pressekonferenz statt. Es gibt belegte Brötchen und Filterkaffee, die Männer haben nur den untersten Knopf ihrer Sakkos geschlossen, damit das Revers wie ein V nach oben läuft und ihren Oberkörper kräftiger aussehen lässt. Manche tragen Schirmmützen, alle duzen sich, gäbe es ein Bier, man würde es trinken. Dabei wird gerade eine Welt-Sensation vorgestellt: Zum allerersten Mal in der Geschichte des Boxens sollen die besten Boxer in einer Art Turnier gegeneinander antreten. Das klingt nach nichts, ist für Boxfans aber ein Traum, denn bislang sah es so aus, dass die Promoter die Kämpfe derart arrangierten, dass nie die besten gegeneinander antreten mussten. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass im absolut kiez-untypischsten Projekt ebenfalls eine, wenn auch völlig andere revolutionäre Idee Wirklichkeit wird: die Champions League des Boxens.

Die Widerständler

Die O2-Arena steht mit dem Rücken zum „Berghain“, einem weltberühmten Technoclub, über den ein Journalist einmal schrieb, man gehe heterosexuell rein und komme schwul raus. Oder umgekehrt. Die Vorstellung, dass in unmittelbarer Nachbarschaft der Dalai Lama, Boxfans und Sex-Zombies koexistieren, lässt die Vermutung zu, dass in Friedrichshain die Mischung stimmt. Der alte Kreuzberger Hausbesetzer Matto hatte nach dem zweiten Bier offenbart, dass er kürzlich „zum allerersten Mal“ in Friedrichshain gewesen sei. Bei einem Freund. „Es war wie Kreuzberg. Eines aber fehlte: die Ausländer“. Das stimmt. Bis auf einige Vietnamesen aus DDR-Zeiten, ausländische Studenten und natürlich zahlreiche Touristen sieht man wenig Ausländer im Bezirk. Interessanterweise gibt es hier dennoch eine der klügsten Initiativen für Ausländer. Die Galiläa-Samariter-Gemeinde bietet Beratung für Flüchtlinge – und im Ex­tremfall Unterschlupf. Im März diesen Jahres feierte die Gemeinde einen Triumph, als sie Polizisten daran hinderte einen schwer kranken, 26 Jahre alten Tschetschenen mit Gewalt aus der Kirche zu holen und abzuschieben. Inzwischen sind die Polizeimaßnahmen aufgehoben.

Die Buddhisten

Etwas weiter südlich, in der Scharnweberstraße, unweit des Boxhagener Platzes, trifft sich dagegen eine buddhistische Baugruppe. Das bedeutet: eine Gruppe von Buddhisten, die zusammen ein Haus bauen. Es gibt in Friedrichshain natürlich auch eine Initiative gegen Baugruppen. Denn Neubauten sind teuer und heben den Mietspiegel. Aber sie bringen auch neues. So wie die Baugruppe Südwestsonne. Sie plant ein vierstöckiges Haus in unmittelbarer Nähe zu einem buddhistischen Tempel. Der Quadratmeter kostet knapp 2.000 Euro, dafür wohnt man in einem ökologisch korrekten Haus mit unverbaubarem Blick auf den Tempel. In den ersten beiden Stockwerken entsteht eine Art Hospiz, ein Haus für sterbenskranke Menschen. Im zweiten Stock hat ein Interessent zwei Wohnungen gekauft und plant, sie unter dem Mietspiegel zu vermieten. Die anderen Käufer: Frauen im Alter zwischen 37 und 60. Eine buddhistische Nonne, die anderen: nicht unbedingt schwer spirituell, aber überzeugt davon, dass man mal etwas anderes probieren sollte, als in einem Spekulantenobjekt zu wohnen.

Der Philosoph

Der dänische Philosoph Sören Kierkegaard schrieb einmal, dass es drei Stufen des Daseins gebe: die ästhetische, die ethische und die spirituelle. In der ästhetischen Phase trinkt und vögelt man soviel wie möglich. Nach einer Zeit, so Kierkegaard, verliert das aber seinen Reiz, man nimmt sich zurück – die Phase der Ethik beginnt. Für viele bedeutet das: Kinderkriegen, treu bleiben, 40 werden. Aber, schrieb Kierkegaard, alles ist nur so lange gültig, bis es sich ändert, und so verliert auch diese Phase ihren Reiz und die Angst vor der Langeweile, der Sinnleere, der Sattheit setzt ein. Um sich in diesem Zustand nicht das Leben zu nehmen, versucht man, sich ein Stück Utopie im Diesseits zu schaffen.

In Friedrichshain sieht man alle drei Daseinsformen. Viel von der ersten (Berghain). Die zweite ist auch stark vertreten (der Stadtteil hat eine der höchsten Geburtenraten in Berlin). Und dann gibt es da all diese Versuche, im Kleinen etwas anders zu machen. Friedrichshain ist ein Bezirk im Wandel. Vielleicht mehr noch als in Kreuzberg spürt man hier den Aufbruch. Wohl auch deshalb hat SPD-Kandidat Björn Böhning das etwas linksstarre Kreuzberg Ströbele überlassen und seinen Wahlkampf voll auf Friedrichshain ausgerichtet, wo er in den letzten Monaten über 5.000 Hausbesuche gemacht hat. Wenn was geht, dann hier. Fast meint man, eine Art Yes-we-can-Mentalität in den jungen Gesichtern auf der Straße zu erkennen. Das kann aber auch daran liegen, dass man soviel Englisch hört.

Der Abschied

Am besten verlässt man Friedrichshain-Kreuzberg mit der U1 Richtung Westen. Es ist die schönste U-Bahn der Stadt. Man sitzt in den alten Waggons längs zur Fahrtrichtung und blickt somit in die Augen der anderen Passagiere. Sie sehen fröhlicher aus als in der U7, die Kreuzberg unterirdisch durchmisst. Vielleicht ist es auch bloß das Tageslicht. Draußen rauscht Kreuzberg vorbei, in der Ferne ragen die Türme des Potsdamer Platzes in den Himmel, wie eine Erinnerung daran, dass der Spaß hier aufhört. Unmöglich, sich Berlin ohne Kreuzberg vorzustellen. Rot-Rot-Grün scheint hier keine irreperablen Schäden verursacht zu haben, im Gegenteil. Die Originalität der Menschen, ihre Offenheit für Fremde, Unfertige, Suchende, für die es in Deutschland so wenig Platz gibt, ist ansteckend.

Bald ist Bundestagswahl. Und es ist Herbst geworden. Sicher begrüßen die Buddhisten gerade einen neuen Käufer, vertreibt Tækker den letzten Altmieter aus der Arndtstraße, revidiert der alte Matto im Elefanten seine Meinung über die neuen Deppen im Bezirk, eröffnet Constantin Hanov seinen I-Phone-Reparatur-Laden, informiert sich ein Schüler, ob die Linke für oder gegen den EU-Beitritt der Türkei ist und versucht die Frau aus der Ankerklause, ihr Leben in den Griff zu kriegen. Vielleicht hat in Friedrichhain-Kreuzberg niemand so richtig was im Griff. Vielleicht werden viele Experimente scheitern. Aber vielleicht gilt gerade deshalb, was ein Berliner mal sagte: wenn Deutschland, dann Kreuzberg.

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