Am 23. Juli erhielt ich eine SMS: „Liebe Freunde, ich schreibe, um euch wissen zu lassen, dass ich, meine Frau und unsere Nächsten am Leben sind. Mir fehlen die Worte für das, was passiert ist“. Sie stammte von meinem besten Freund, einem Norweger.
Norwegen ist ein kleines Land. Jeder vierte Norweger war direkt von Anders Behring Breiviks Attentat betroffen. In meinem norwegischen Bekanntenkreis verlor einer seinen Bruder. Einer war als Nothelfer vor Ort. Drei meiner Freunde sind mit Breivik aufgewachsen. Was sind die Folgen eines solchen Attentats für sie? Für ihr Land? Deshalb reiste ich nach Oslo, um herauszufinden, ob es ein Leben nach dem Tod gibt.
Die Reise ins Post-Breivik-Norwegen beginnt im Regierungsviertel Oslos, dort, wo die Bombe hochging. Zwei Monate nach 22/7 – wie hier alle sagen – spürt man von dem Anschlag nur noch wenig. Der Zutritt zum Regierungsviertel ist zwar noch immer verboten, aber die Absperrungen erinnern mehr an eine Baustelle als an einen Tatort. Vor der Domkirche, wo wochenlang ein Rosenmeer an die Toten erinnerte, liegen noch vereinzelt Blumensträuße und in Plastik eingeschweißte Briefe an die Toten.
99 Prozent aller Norweger, heißt es, waren im ersten Moment überzeugt davon, dass es sich um einen islamistischen Anschlag handelte. In den ungewissen Stunden zwischen der Bombenexplosion und der Verhaftung Breiviks kam es vereinzelt zu Handgreiflichkeiten. Als sich jedoch herausstellte, dass es einer aus dem eigenen Volk war, empfanden die meisten Norweger Erleichterung. Und Scham. Und Verantwortung. „Ich hatte das Gefühl, irgendetwas tun zu müssen für die Gesellschaft“, erzählt mein Freund, „und sei es so etwas banales wie Müll von der Straße räumen.“
Dieses „Wir“-Gefühl erwähnen viele Norweger. Am Montag nach den Anschlägen zogen beim „Rosenmarsch“ 150.000 Norweger durch die Innenstadt. 22/7 war für viele eine Art Rückbesinnung auf die alte norwegische Tugend des „Dugnad“. Der Begriff bedeutet, etwas freiwillig für andere zu tun. Wer in Norwegen Hilfe braucht, beim Umzug etwa, der bittet nicht um Hilfe oder heuert ein Umzugsunternehmen an, nein, er „lädt ein“ zu einer „Dugnad“. Dugnad war früher eine Art Nachbarschaftshilfe, einfach weil das Leben in dem kargen Land unmöglich war ohne die Hilfe anderer. Inzwischen steht Dugnad für hausmeisterliche Verpflichtungen, wie einmal im Quartal gemeinsam den Hof kehren und Ähnliches. Und es steht für die wachsende Sorge, dass durch Urbanisierung und Zuwanderung dieser Wert verloren gehen könnte.
Nach der Explosion von Breiviks Bomben scheint die Idee des Zusammenhalts noch einmal funktioniert zu haben: Einige Schaufenster von Uhrenboutiquen und Juwelieren waren zu Bruch gegangen – stundenlang lagen Luxusaccessoires für jeden greifbar in der Auslage. Gestohlen wurde nichts. Oder dies: Schon bald nach dem Attentat war die Mutter von Breivik ausfindig gemacht worden. Aber ihr wurden nicht etwa die Scheiben eingeworfen, stattdessen versteckten Nachbarn sie vor den Journalisten. Man sah in ihr keine Schuldige, sondern jemanden, der Hilfe brauchte.
Statement für die Liebe
Auch Breivik selbst traf wenig Vergeltungssucht. Bis heute wird in Norwegen weder über die Einführung der Todesstrafe nachgedacht noch die Verschärfung der Gefängnisstrafe gefordert. Überhaupt ist das Interesse an dem Täter auffallend gering; als die Boulevardpresse sein Bild auf den Titelseiten abbildete, weigerten sich einige Kioskbesitzer, die Zeitungen auszulegen. Im Vergleich zur Täter-Fokussiertheit anderer Länder scheint es, als wolle man in Norwegen dem Täter und seinen Zielen keinen Raum geben, die Betonung von Zusammenhalt und Verantwortung entzog ihm ein Stück weit die Aufmerksamkeit, nach der er so giert. Im Volksmund wird er nur ABB genannt, ein Akronym seines Namens Anders Behring Breivik. Bestrafung durch Nichtbeachtung erinnert an eine alte nordische Tradition, Straftäter nicht einzusperren, sondern einfach aus der Gemeinschaft auszuschließen. Eine Art umgekehrtes Dugnad.
Einer der Architekten des norwegischen Umgangs mit 22/7 ist Hans Kristian Amundsen. Der hagere 53-Jährige mit den tiefen Furchen im Gesicht ist Staatssekretär des Ministerpräsidenten Stoltenberg. Für ihn schrieb er die Rede, die in jenem Satz kulminierte, der seither Norwegens bemerkenswerten Umgang mit dem Massaker prägt: „Unsere Antwort auf Gewalt ist noch mehr Demokratie, noch mehr Offenheit, aber niemals Naivität.“
Norwegens Image ist makellos. Man verbindet mit dem Land Reichtum, Bildung, soziale Verantwortung, Gleichberechtigung, Entwicklungshilfe, Friedensdiplomatie, Naturerlebnisse – und neu: einen vernünftigen Umgang mit Trauer und Wut. Doch was Touristen und ausländische Beobachter häufig übersehen: Der Zusammenhalt nach dem Attentat, die Stellungnahmen für Offenheit, Demokratie oder gar Liebe rühren zum Teil aus dem stramm nationalkonservativen Bewusstsein des kleinen Landes. Breivik ist vermutlich ein Psychopath, aber aus dem Nichts kamen seine Ansichten nicht. Eine jüngere Umfrage kommt zu dem Schluss, dass die Hälfte aller Norweger die Einwanderung begrenzen will – 10 Prozent der 4,9 Millionen Einwohner Norwegens sind Ausländer.
Anruf bei Henrik Syse. Syse ist Philosoph, Konservativer, Sohn des früheren Staatsministers und war lange Zeit zuständig für das Investitionsmanagement der norwegischen Ölmilliarden, kurz: eine der wichtigsten Figuren Norwegens. Und er ist vermutlich der einzige Top-Intellektuelle Europas, dessen Nummer man im Telefonbuch findet. Syse hat sich bislang auffallend zurückgehalten mit Kommentaren zu den Anschlägen. Warum? „Wichtige Geschehnisse können unwichtige Ursachen haben“, zitiert Syse den norwegischen Philosophen Jon Elster. Für Syse repräsentiert Breivik nichts, das typisch norwegisch sei. Syse sagt: „Ich hoffe, dass wir nach 22/7 nicht zu viel ändern, das hat der Täter nicht verdient.“ Es ist ein konservatives Plädoyer für eine Ruhige-Hand-Politik und für das Gefühl, dass nicht alles schlimm ist in diesem Land, auch wenn etwas so Schlimmes wie Breiviks Ideologie hier gedeihen konnte.
Nicht alle teilen dieses Gefühl. Bei vielen regt sich der Wunsch, etwas zu ändern. Die Parteieintritte schnellten nach dem Attentat in die Höhe. Besonders Jugendorganisationen hatten Zulauf. Am 4. November wird in Oslo der „To Oslo with Love“-Kongress stattfinden, an dem Hunderte Skandinavier der brennenden Frage nach dem „Was jetzt?“ nachgehen wollen. Einer der Organisatoren, Ola Nilsson, beschreibt die Idee so: „Alle, mit denen ich nach dem Terroranschlag gesprochen habe, hatten das Gefühl, etwas tun zu wollen, aber niemand wusste, was.“ Die Konferenz will die Möglichkeit bieten, diese Energie in Projekte fließen zu lassen.
Das diffuse Gefühl, etwas tun zu wollen, kennt auch mein Freund. Die Veränderung seines Alltags sieht man im Kleinen. Er und seine Frau grüßen zum Beispiel die Nachbarin, der man zuvor auf der Haustreppe nur nichtssagende Blicke zugeworfen hat. Seine Frau sagt: „Jedes Land braucht Zusammenhalt. Wenn wir aufhören, miteinander zu reden, haben wir verloren.“ Es sind Worte, die man in Norwegen immer wieder hört: Die meisten Norweger berufen sich auf ihr Land. Sie sagen: „Jedes Land braucht Zusammenhalt“, nicht: „Menschen brauchen Zusammenhalt.“
Abends in Oslos Schmuddelquartier Grønland. In den dreckigen Straßen riecht es nach Urin, die Häuserfassaden sind verschmiert. Mit gesenkten Blicken passieren wir einige ausländische Jugendliche und huschen durch ein Tor in einen Hinterhof. Im vierten Stock erstrahlt eine überraschend gut ausgebaute Maisonettewohnung. Hier wohnt Dag, der 39-Jährige hat Freunde zum Essen geladen. Alle wissen, dass ich über 22/7 reden will, und sie wollen das auch. Zumindest am Anfang. Da ist Oddne, der als Narkosepfleger die Überlebenden versorgte. Da ist Bjarte, der in Zukunft „intoleranter gegenüber Intoleranten“ sein will. Da ist Ragnar, der Breivik persönlich kennengelernt hat.
Ein sehr typischer Norweger
Breivik, man darf das nicht vergessen, ist ein sehr typischer Norweger. Er kommt aus einer privilegierten Familie. Ist im feineren Vestkanten, in West-Oslo, aufgewachsen, war auf dem Wirtschaftsgymnasium. Ragnar erzählt, wie Breivik alles unternahm, um in einer von pakistanischen Einwanderern geführten Sprayergruppe dazuzugehören. Er sprayte an gewagteren Orten, übernahm sogar den Oslo-Dialekt der Einwanderer und wandte sich irgendwann – wie viele – dem rechten Milieu zu. Es werden noch ein paar Anekdoten von Utøya erzählt, aber bald schon kreist das Gespräch wieder um die drei Klassiker norwegischer Tischkonversation: „friluftsliv“ (Outdoor-Aktivitäten), „oppussing“ (im weitesten Sinne Heimwerkern) und „boligkjøp“ (Immobilienkauf). Besonders Gespräche über Heimwerkern scheinen der soziale Kitt zu sein, der die Norweger aller Schichten zusammenhält. Immer wieder versuche ich nachzuhaken: Was bedeutet es, dass diese Tat in Norwegen passiert ist? Die meisten weichen aus. Manche beginnen den Satz mit ABB und beenden ihn mit Akkubohrern. Sechs Flaschen Wein später. Wir sind betrunken. Beim Rausgehen raunt mir einer zu: „Weißt du, was heute niemand gesagt hat?“ Er nimmt noch einen Schluck. „Viele teilen die Ansichten Breiviks, nicht aber das, was er tat“.
Nachts liege ich schlaflos im Bett. Habe ich mich von der norwegischen Art, mit dem Attentat umzugehen, blenden lassen? Ich denke an das, was ich in Breiviks Hetzschrift gelesen habe: Breivik, geboren 1979, imaginierte eine Welt, die er nie kannte und die es wohl so auch nie gab: eine Zeit, als Männer noch Männer waren, Frauen den Haushalt führten, Kinder streng erzogen wurden und Norwegen weder Kriminalität noch Ausländer kannte. Das Irritierende ist, dass auch viele Norweger sich nach einer solchen Zeit sehnen. Anders gesagt: Breiviks Handlungen waren psychopathisch, aber seine Motive sind in Oslo auch in der Kantine, in der Kneipe, an der Bushaltestelle Gesprächsthema.
Es ist bedenkenswert, wie Breivik selbst eines seiner „Primärziele“ auf Seite 823 seines Dokuments beschreibt: „Die moderaten Kulturkonservativen erreichbarer machen“. Was Breivik da schreibt, ist etwas, das man seit Jahren in Europa beobachten kann: Rechts sind nicht mehr nur die Rechten. Es ist die liberale Mitte, die sich radikalisiert – auch in Deutschland, wie 2010 eine Studie des Konfliktforschers Wilhelm Heitmeyer belegte, die eine steigende Islamophobie in der politischen Mitte nachwies.
In den Wochen der gemeinsamen Trauer, des gegenseitigen Stützens und des vorsichtigen Auseinandersetzens mit der eigenen Fremdenfeindlichkeit ist vielen aufgegangen, dass Norwegen trotz des Reichtums, der atemberaubenden Natur und des fortschrittlichen Gesundheitswesens etwas fehlte. Und dass diese Leerstelle von 22/7 gefüllt wurde. Durch die Anschläge wurde die alte, überholte Idee des Dugnad neu aktiviert. Und vielleicht bedeutet sie heute etwas mehr, als bloß turnusmäßig die Flurtreppe zu reinigen. Vielleicht bedeutet sie tatsächlich, dass die norwegische Gesellschaft nicht mit Rache, sondern mit Liebe auf Hass reagieren will. Vielleicht, dass es nicht nur Norweger und Einwanderer gibt, sondern fünf Millionen Menschen, die sich dieses Land teilen. Und vielleicht bedeutet der Begriff, dass sich die Norweger grundsätzlich fragen werden, ob Dugnad als Idee neu überdacht werden muss, weil er auf Werten beruht, auf die sich auch Breivik berief.
Mikael Krogerus ist schwedischsprachiger Finne und lebt heute in Berlin
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