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Der Literaturwissenschaftler und Dichter Prof. K. ist ein umweltbewusster Mensch. Er benutzt zum Beispiel niemals frisch hergestelltes Papier. Er schreibt immer auf Recyclingpapier aus 100 Prozent Altpapier. Auch jetzt will er gerade ein neues Gedicht notieren auf einem Blatt ungebleichten Recyclingpapiers. Aber seltsam - als er einen winzigen roten Fleck auf diesem grauen Blatt bemerkt, fühlt er sich plötzlich depressiv und bricht in Tränen aus. Warum? - er fragt es sich selbst. Aber er findet keinen Grund für seine Tränen. Schon ziemlich lange ist ihm nichts Schlimmes passiert. Seine Arbeit geht gut, auch die Beziehung zu seiner Familie ist harmonisch. Und sonst stimmt ebenfalls alles. Er weiß wirklich keinen Grund, um zu weinen. Ja, er weiß es nicht. N
. Nur ich, die Autorin dieser Geschichte, weiß Bescheid, warum unser Prof. K. plötzlich so traurig geworden ist. Es kam so:Eines Tages, vor etwa zwei Jahren, besuchte ihn eine Studentin in seinem Seminarraum. Sie sagte, dass sie in der Stadt F., ganz weit entfernt von H., wo der Professor lebt und arbeitet, Literatur studiere, dass sie seine Bücher sehr gerne lese und eigentlich bei ihm studieren wolle, aber ihre Familienumstände ihr das nicht erlaubten, und dass sie selber Gedichte schreibe. Und sie fragte, ob sie an ihn ab und zu ihre Werke schicken dürfte, ob er sie lesen und ihr kleine Tips geben könne. Prof. K. ist ein Typ, der seine Zeit viel lieber für seine eigene dichterische Arbeit benutzt als für Studenten, die seine Nachfolger werden wollen, und darum macht er eigentlich nie so etwas. Doch diesmal nahm er ausnahmsweise an, weil die Bittstellerin überdurchschnittlich hübsch war und nicht allzu dumm zu sein schien.Seitdem schickte die Studentin etwa alle zwei Wochen ihre Arbeiten zu ihm, und ungefähr alle zwei Monate unternahm sie eine lange Reise, um ihn zu besuchen. Ihre Arbeiten waren nicht gerade die eines Genies, aber sie waren sinnlich und voller Emotionen. Und genauso wie ihre Gedichte war auch die Studentin sinnlich und emotional. Dass der Professor an einem Freitag mit ihr zu Abend gegessen und geschlafen hat, war die ziemlich vorhersehbare Folge.Doch seit jenem Abend wurde sie für ihn zu einem richtigen Stressfaktor. Sie fing nun an, fast jeden Tag an ihn zu schreiben. Ein Gedicht nach dem anderen, eine ganze Serie Liebesgedichte. Manche davon waren die direkte Beschreibung jenes Abends, und der Rest war ein offenes Geständnis ihrer großen Liebe mit denjenigen Worten und Ausdrücken, wie sie seit Jahrhunderten immer wieder in Liebesbriefen verwendet werden. Eines Tages, als ein dicker Brief von ihr ankam und der Professor gerade in der Vorbereitung auf eine wichtige Vorlesung am nächsten Morgen steckte, war er mit seiner Geduld am Ende. Er nahm sofort einen Bleistift zur Hand und schrieb (wie immer auf Recyclingpapier): "Schreib nicht mehr an mich. Kein einziges Gedichtchen mehr. Vergiss, was zwischen uns war!" und schickte diese Notiz an sie.Es geschah zwei Tage danach, dass sie sich aus dem obersten Stockwerk eines sechsundzwanzigstöckigen Gebäudes stürzte und starb. Aber dieses Ereignis war keine große Nachricht, über die landesweit berichtet worden wäre. Daraus wurde nur ein kleiner Artikel in einer kleinen Regionalzeitung.Also erfuhr unser Professor K. nichts davon. Da für ihn die emotionale oder gar hysterische Reaktion, die er von ihr befürchtet hatte, ausgeblieben war, fühlte er sich erleichtert und entlastet. Schließlich ist er ein vielbeschäftigter Mensch. Er hat eine Menge Ideen, wie er Wörter auf ungewöhnliche Weise stellen kann. Die Studentin vergaß er ganz schnell. - Nur ich, die Autorin, weiß, dass ihn in Wirklichkeit noch ein Brief von ihr erreichte, und zwar direkt nach ihrem Tod. Aber er selbst wusste es nicht. Er hatte keine Gelegenheit, diesen Brief zu sehen.Bevor sie sich umgebrachte, hatte sie ein letztes Gedicht für ihn verfasst. Sie schrieb das Gedicht, das niemals gelesen wurde, auf rotem Briefpapier, packte es in einen gewöhnlichen weißen Umschlag und warf ihn in einen Briefkasten auf dem Weg zum sechsundzwanzigstöckigen Gebäude. Am nächsten Tag war der Brief bereits im Postkasten des Hauses von Professor K. Aber wie das Schicksal es will, waren an diesem Morgen besonders viele Werbebriefe angekommen, und seine Frau, die ebenso umweltbewusst ist wie der Professor und Werbebriefe als Papierverschwendung gleich für eine große Ursache von Urwaldvernichtung und Umweltzerstörung hält, ärgerte sich so ungemein, dass sie die gesamte Post direkt in den Altpapiercontainer brachte. Und so bemerkte sie gar nicht, dass sich darunter auch ein Nicht-Werbebrief versteckte.Die letzte Post der Studentin wurde also zusammen mit allem anderen Altpapier in einer Recyclingfabrik gesammelt, sortiert, zerschnitten, aufgelöst und ist schließlich zu winzigen Teilchen in zahlreichen Blättern Recyclingpapier geworden. Das rote Briefpapier war teilweise unentfärbt geblieben und in einigen der neu entstandenen Blätter noch zu sehen. Das Papier, auf dem Prof. K. nun sein neues Gedicht hatte notieren wollen, war eins von den Papieren.Er weint noch immer. Er fühlt sich so kraftlos, als ob er nie wieder ein Gedicht schreiben könnte. Ob er dieser plötzlichen Depression eines Tages entkommen kann? Ich hoffe es, aber - wer weiß.
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