Der fremde Mann

KEHRSEITE Das Flugzeug schwebte gerade über dem Meer, als M. sich an die Erzählung ihres Vaters vom vorigen Abend erinnerte. Ihr Vater, der sonst kaum trank, ...

Das Flugzeug schwebte gerade über dem Meer, als M. sich an die Erzählung ihres Vaters vom vorigen Abend erinnerte. Ihr Vater, der sonst kaum trank, hatte ein Glas Wein nach dem anderen geleert. Er redete zuerst über seine verschiedenen Pläne für die kommenden Jahre als Rentner. Ein Instrument lernen, um damit Waisenhäuser und Altersheime zu besuchen, oder vielleicht doch Entwicklungshilfe im Ausland? Irgendwann fing er an, über ein Erlebnis aus seiner Kindheit zu erzählen. Wie er darauf gekommen war, war M. nicht mehr ganz klar. Wahrscheinlich versuchte er, wie er es während ihres einmonatigen Besuches schon ein paar Mal getan hatte, sein Leben als Ganzes zu betrachten und daraus einen Schluss zu ziehen. "Ich habe natürlich nicht alles erreicht. Aber so schlecht ging es auch nicht. Ja, alles in allem war mein Leben ganz gut", - sagte er jedes Mal zum Schluss. Am letzten Abend war er ganz am Ende wieder zum gleichen Urteil gelangt. Nur hatte er davor etwas erzählt, über das er mit seiner Tochter zuvor noch nie gesprochen hatte. Etwas, was er als Achtjähriger kurz nach dem Ende des Krieges erlebt haben sollte.

"Es war kurz nach der Kapitulation unseres Landes", so erzählte er, "als ich von der Evakuierung aufs Land in die Stadt zurück gekommen war. Ich musste zum Schwarzmarkt gehen, um Reis zu holen. Das war immer meine Aufgabe nach der Schule, da der Unterricht damals ziemlich früh endete. Wir mussten Tag für Tag unzählige Zeilen aus unseren Lehrbüchern wegstreichen - das war schon alles. Der Markt war von Menschen überfüllt und es herrschte Chaos. Ich dachte nur an das Geld, das ich unter dem Hemd trug, und ging stur vorwärts, ohne mich umzusehen. Da stand plötzlich ein fremder Mann vor mir, der ungewöhnlich gut angezogen war. Er sagte: ›Du, mein lieber Junge, du bist ja groß geworden! Kennst du mich noch?‹ Er kaufte mir rasch den Reis und brachte mich zu einem Imbiss, wo er mir eine Schale Brei gab. Dann meinte er: ›Sicher kennst du mich nicht mehr, weil du ganz klein warst, als wir uns zum letzten Mal sahen. Aber ich war einmal der beste Freund deines Vaters.‹ Ich fragte ihn: ›Dann baust du auch Eisenbahnen wie Vater?‹ Da lachte der Fremde: ›Nein, nein, ich war Lehrer. Dein Vater und ich, wir haben zusammen an der gleichen Universität studiert.‹ Ich fragte weiter: ›Dann habt ihr damals gelernt, wie man Eisenbahnen baut?‹ Der Mann lachte wieder: ›Nein, nein! Wir haben dort Philosophie studiert!‹ - und dann sagte er noch etwas ganz Merkwürdiges: ›Dein Vater war ein sehr guter Student. Alle Professoren hofften, dass er sein Studium fortsetzte. Aber ... es war eine schlechte Zeit. Er musste in seine Heimat zurück, da sein Land ... na ja, von unserer Armee besetzt wurde. Wo und wie mag er jetzt wohl leben, wenn er überhaupt noch lebt.‹ Ich konnte gar nicht begreifen, über wen dieser Mann überhaupt redete. Mir kam der Verdacht, er könne einer von den Wahnsinnigen sein, die man damals nicht selten traf. Denn er starrte mir plötzlich in die Augen, so dass ich mich fürchtete: ›Der Mann, der jetzt in eurem Haus lebt, ist nicht dein echter Vater. Dein echter Vater lebt auf dem großen Kontinent überm Meer. Er heißt ...‹ Er murmelte noch etwas. Aber ich hörte ihm nicht mehr zu. ›Unsinn! So etwas glaube ich nicht!‹ - ich wollte weg. Aber der Mann griff mich fest am Arm und sprach mir direkt ins Ohr: ›Bevor dein Vater dieses Land verließ, fragte er deine Mutter, ob sie trotz aller Schwierigkeiten in seine Heimat mitkommen wolle. Sie sagte ja. Ich bereitete damals alles so vor, dass sie abreisen konnte, ohne dass ihre Familie davon etwas mitbekäme. Aber am Tag der Abfahrt ist sie nicht gekommen. Dein Vater war so enttäuscht, dass ich keine Trostworte fand. Ein paar Monate später sah ich sie zufällig in einem Café wieder. Sie war ganz blass und sagte, dass sie am Vortag geheiratet habe. Und nach einem halben Jahr hielt sie dich in den Armen. Du bist deinem Vater wirklich ganz ähnlich.‹

Und damit ließ er mich endlich frei. Ich lief fort. Nach Hause wollte ich nicht. Die Stimme des Fremden klang mir wieder und wieder in den Ohren. Ich wanderte den ganzen Tag ziellos durch die Stadt. Die Stadt mit ihren eingestürzten Häusern und den Bettlern. Und irgendwann stand ich vor einer Baracke. Die gehörte meinem Onkel, dem älteren Bruder meiner Mutter, der ein hoher Beamter gewesen war. Aber in der letzten Bombennacht war sein schönes altes Haus mitsamt seinen Eltern und seiner Tochter verbrannt. Ich kannte diesen Onkel nicht sonderlich gut. Er war nie besonders nett zu mir gewesen. Und jetzt, nach dem furchtbaren Ereignis, sprach er kaum noch mit jemandem. Aber er war der einzige Verwandte meiner Mutter. Darum fragte ich ihn, als er langsam hinter der schäbigen Tür aus Blech hervorkam: ›Onkel, ist es wirklich wahr, dass mein Vater nicht mein echter Vater ist und mein echter Vater ...‹ Der Onkel grinste: "Ja. Deine Mutter hatte sich in den Falschen verliebt, und der hat sie sitzen gelassen.‹ - In jener Nacht ging ich nicht nach Hause zurück. Erst am nächsten Morgen hielt mich ein Polizist an, und mein Vater musste kommen, um mich abzuholen. Als er in seinem Arbeitskittel mit Ölflecken zur Polizeistation kam, schimpfte er fürchterlich, schlug mich und sagte immer wieder , dass ich mich nicht verhalte, wie es sich für seinen Sohn gehöre. - Als wir dann schweigend nach Hause kamen, saßen der kleine Bruder und die Schwester am Frühstückstisch. Wie sehr ich sie beneidete! Ich fühlte mich Zuhause so fremd! ... Ja, natürlich nahm ich mir vor, meine Mutter nach der Wahrheit zu fragen. Immer wieder. Aber ich wagte es nie, bis sie gestorben ist."

M. trank den Kaffee, den die Stewardess gebracht hatte, und erinnerte sich an die Tränen ihres Vaters, die er vor seiner Tochter zum ersten Mal gezeigt hatte. Und in diesem Moment spürte sie, dass das Flugzeug heftig zitterte und der heiße Kaffee schwappte auf ihre Hand. Doch im nächsten Moment war die Maschine wieder ganz ruhig und alles ging einfach weiter, als ob nichts gewesen wäre.

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