Das Wesen der einfachen Dinge

Absage absagen Trotz Viren geht das Leben weiter

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Vor wenigen Tagen erhielt ich eine Mail eines Autorenkollegen und Lyrikfreundes. Die Signatur seiner Nachricht enthielt ein Bild. Zu sehen sind ein Regenbogen und ein Text. Er lautet, ein wenig gekürzt:

„Nicht alles ist abgesagt: Sonne ist nicht abgesagt, Beziehungen sind nicht abgesagt, Liebe ist nicht abgesagt, Lesen ist nicht abgesagt, Zuwendung ist nicht abgesagt, Musik ist nicht abgesagt, Phantasie ist nicht abgesagt, Freundlichkeit ist nicht abgesagt, Gespräche sind nicht abgesagt, Hoffnung ist nicht abgesagt.“

Wer auch immer diesen Text verfasst hat, er oder sie hat den Nagel auf den Kopf getroffen und ich danke dem oder der Unbekannten. Wir sollten nicht ständig unsere Blicke auf das richten, was im Augenblick nicht möglich oder vorhanden ist, sondern die Umstände als Chance begreifen, sich mit Dingen zu beschäftigen, die wir, teilweise vor langer Zeit, aus den Augen verloren haben.

Richtet man dieser Tage bei klarem Wetter seinen Blick nach oben, wird auffallen, dass es selten ein so ungestörtes Blau am Taghimmel gab. Keine Kondensstreifen stören, Fernreisen mit dem Flugzeug unterbleiben. Was verlieren wir, wenn wir mal im persönlichen Leben zwei Gänge runterschalten?

Mittlerweile glauben viele, dass das Glück nur in der Ferne zu finden sei. Das Wort Urlaub ist für die meisten gleichbedeutend mit Auslandsreise. Zur Völkerverständigung hat die Reiserei wenig beigetragen, sieht man doch den sich entwickelten Nationalismus auf dem Vormarsch. Wer das Glück und die Zufriedenheit nicht in sich trägt, wird sie schwerlich in der weiten Ferne finden. Wer Wunder sehen möchte, findet sie in der unmittelbaren Umgebung, jede Blumenwiese ist eins. Der Natur wird unser derzeitiges Innehalten auf jeden Fall guttun.

Offenbar haben viele Leute die Fähigkeit verloren, etwas mit sich selbst anzufangen, kreativ zu sein, zu lesen, zu schreiben, zu musizieren oder zu malen. Stattdessen benötigen immer mehr Leute einen Animateur, einen Unterhalter, der sie zu etwas veranlasst, dass ihrer Natur widerspricht. Unterstützung erhält die Mehrheit durch tumbe Massenmedien in Gestalt der Boulevardpresse, billiger Fernsehserien und ewig gleicher Rateshows, Berichten aus Königs- und sonstigen Häusern von Halb- und Viertelprominenten oder dem Überangebot an Kriminalfilmen. Anspruchsvolle Unterhaltung, geistige Herausforderung oder nur Wissensvermittlung gibt es, ist aber spärlich verstreut und muss vom geneigten Zuschauer oder -hörer schon bewusst ausgesucht werden.

Dass jede Krise eine Chance darstellt, ist ja eine Binsenweisheit. Möglicherweise haben wir durch dieses Virus einen Erkenntnisgewinn. Vielleicht war es ja keine gute Idee, das Gesundheitswesen in den vergangenen Jahrzehnten derart kaputt zu sparen, dass schon im Normalbetrieb die Mitarbeiter an ihre Grenzen kommen. Vielleicht war es auch keine gute Idee, die Produktion von „systemrelevanten“ Artikeln wie Medikamenten zu großen Teilen ins Ausland zu verlagern. Vielleicht ist es generell keine gute Idee, so umfassend von fernöstlicher Produktion abhängig zu sein, dass ein Zusammenbruch zu befürchten ist, wenn der Nachschub ausbleibt. Vielleicht ist auch einfach der Kapitalismus nicht mehr die gemäße Antwort auf die Herausforderungen der Zeit, die in weit mehr bestehen, als einem neuen Virus.

Uns hat man gebetsmühlenartig beigebracht, dass die Nachfrage nach Artikeln das Angebot bestimmt. Offensichtlich ist diese neoliberale Milchmädchenrechnung nicht aufgegangen. Wie sonst ist es zu verstehen, dass trotz aller Beteuerungen von Politikern, der Nachschub an Waren sei gesichert, einige Artikel einfach nicht mehr zu haben sind. Toilettenpapier, Nudeln, Flüssigseife und Desinfektionsmittel sind seit Tagen aus. Die ach so potente kapitalistische Wirtschaft scheint so potent nicht zu sein. Der nächste Schritt ist vorhersehbar. Seltene Produkte werden unterm Ladentisch gehandelt oder es kommt zu Schiebereien. Billig ist es, durch Rundfunk, Zeitung und Fernsehen die Vorsorge der Menschen als Hamsterkäufe zu diskreditieren. So weit ich den Brehm verstehe, tut der Hamster nur eines: vorsorgen.

Die gegenwärtige Situation, die viele Menschen in ihren persönlichen Freiheiten einzuschränken scheint, kann dazu dienen, sich wieder eines Wertes zu vergewissern, den einige nicht mal mehr dem Namen nach kennen: Erbauung. Was gibt es Erbaulicheres, als einer Musik zu lauschen, der Amsel am Abend zuzuhören, wenn sie auf dem Baumwipfel sitzt und danach ein Buch zu lesen.

Im Serbischen gibt es das Wort Mepak. Es bedeutet, Vergnügen an einfachen Sachen zu finden. Das sollten wir wieder lernen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Matthias Stark

Autor von Lyrik, Prosa und Essay

Matthias Stark

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