In zehn Jahren

Schlecht geschlafen Ein Albtraum

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Neulich schlief ich schlecht, hatte einen fürchterlichen Traum. Dabei lag die Realität so greifbar vor mir, dass ich nach dem Aufwachen glaubte, ich hätte nicht geträumt, sondern über das Leben nachgedacht.

Es war offenbar eine Zeit in der Zukunft, einer mittelnahen Zukunft, mit den Maßstäben eines Menschenlebens gemessen, in der mein Traum angesiedelt war. Ich sah fern, sah eine Rede im Parlament, vielleicht war es der Bundestag, ich weiß es nicht. Eine Regierungschefin hielt eine Rede. Sie hieß wohl Frauke mit Vornamen, genau kann ich mich nicht erinnern. Sie bedankte sich bei ihrer Gefolgschaft für die erneute Wahl, die sie mit achtundneunzig Prozent der Stimmen wiedergewählt hatte. In ihrer Rede verwies sie auf ihre Erfolge: Wiedereinführung der Deutschen Mark, Bau einer Grenzanlage um die deutschen Gaue, Wiedereinführung der Wehrpflicht und Ausbau eines deutschen Heeres. Sie sprach über die deutschen Mütter, die zu Hause ihre Kinder fürs deutsche Volk großzogen, sie sprach über das neue Einparteiensystem im Land, das für den Fortschritt und die Zukunft der Deutschen stehe. Sie sprach über die Medienlandschaft, die nun endlich in aufrechter und ehrlicher Weise über die Leistungen des deutschen Volkes berichten würden. Sie machte klar, dass es nur mit einer starken und geeinten deutschen Nation möglich sein wird, den Frieden in Europa zu sichern. Schließlich bedrohen andere Völker den deutschen Lebensraum, gerade die unmittelbaren Nachbarn seien besonders gefährlich. Aber die nationale Frage sei für immer gelöst, das deutsche Volk stehe wie ein Mann hinter ihr und so könne die Nation stolz in die Zukunft blicken.

Dann erwachte ich, schweißgebadet und war froh, als ich erkannte, dass ich geträumt hatte. Später am Frühstückstisch las ich meine Tageszeitung. Ich nahm die Kandidatenaufstellung zur nächsten Bundestagswahl zur Kenntnis und war verblüfft, aber nicht verwundert. Es waren dieselben Gesichter, die sich auch schon in den letzten Jahrzehnten zur Wahl gestellt hatten, die gleichen Leute, die jenes Phänomen verursacht hatten, welches mit dem Wort Politikverdrossenheit bezeichnet wird und doch viel mehr Politikerverdrossenheit genannt werden müsste. All jene, die es bisher schon nicht geschafft haben, ihre Wahlversprechen einzuhalten, wollen nun erneut wiedergewählt werden. Alle, bis auf eine Partei, die sich das Alternative auf die Fahnen geschrieben hat. Deren Gesichter sind unverbraucht, deren Sprüche sind radikal anders, deren Ansichten werden weitgehend an Stammtischen geteilt. Bis zu einem Viertel der Menschen sehen in der Alternative die Alternative!

Und nun reiben sich die Vertreter der Altparteien die Augen über den Zulauf, den diese Truppe hat. Reiben die Augen, vergießen dabei Krokodilstränen und … machen weiter so wie bisher. Keine große Idee für gesellschaftlichen Wandel ist da in Sicht, kein Entwurf einer gerechten Gesellschaft und einer Wirtschaftsform, von der global alle partizipieren könnten. Wer über Alternativen nicht nachzudenken gewillt ist, wird nicht alt werden. Das gilt gerade heute, wo doch die Wähler viel weniger berechenbar geworden sind. Zwei Beispiele stehen uns aus letzter Zeit da deutlich vor Augen, eines von der britischen Insel und eines aus Übersee.

Es ist geradezu aberwitzig, dass die linken Bewegungen nicht von der allgemeinen Unzufriedenheit mit dem bisherigen System profitieren können. Da ist es schon als fortschrittlich zu bezeichnen, wenn sich Sozialdemokraten, Linke und Grüne wenigstens gedanklich mit einem eventuellen Bündnis beschäftigen. Denn anders wird es nicht gehen können. Die Zukunft kann nicht darin bestehen, rückwärtsgewandte Ansichten zur Staatspolitik zu erheben. Die zunehmend globalen Probleme werden nur von einer offenen, freien und international friedlich zusammenarbeitenden Gesellschaft gelöst werden können. Nationalismen sind da eine längst überholte Form der gesellschaftlichen Realität, und wie wir aus der Geschichte lernen könnten, wahrlich keine gute. Eine Nation wie die unsere, deren Mitglieder sich teilweise als „Abendlandretter“ verstehen wollen, sollte sich einer humanistischen Leitkultur verpflichten, die alle Menschen der Erde meint. Das wäre mal eine Alternative!

Meine Hoffnung besteht noch immer darin, dass manche Träume niemals wahr werden und echte Alternativen Realität.

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Geschrieben von

Matthias Stark

Autor von Lyrik, Prosa und Essay

Matthias Stark