Meine Heimatstadt Lviv liegt sehr nahe an der polnischen Grenze. Binnen weniger Autostunden befindet man sich im friedlichen Polen, in Sicherheit, an einem Ort, wo keine Bomben fallen. Nicht jeder darf ausreisen, nicht die Männer im wehrpflichtigen Alter, nur Frauen, Kinder und Rentner. Deshalb markiert die Grenze zwischen der Ukraine und Polen jetzt nicht nur die Grenze zwischen Krieg und Frieden, zwischen EU und Nicht-EU. Es ist auch eine Grenze, die viele Familien auseinanderreißt.
So wie meine Familie. Wenige Tage vor dem Angriff fuhren wir nach Polen, Freunde besuchen. Wegen der Quarantäneregeln sollte mein Sohn länger als geplant bleiben. Meine Tochter und ich blieben mit ihm. Mein Mann fuhr zurück und wollte uns nach der Quarantäne abholen. Am 24. Februa
24. Februar waren diese Pläne nicht mehr aktuell. Mein Mann entschied sich, in den Krieg zu gehen. Er ist jetzt im Osten des Landes. Für mich und die Kinder ging es von Polen zuerst nach Ungarn, zurzeit leben wir in Deutschland. Das Deutsche Literaturarchiv Marbach unterstützt uns seit Monaten. Wir dürfen hier wohnen, lernen, studieren, übersetzen. Ich darf als Writer in Residence schreiben und kann im Forschungsreferat mitarbeiten. Mein Sohn wurde an der Stuttgarter Uni aufgenommen. Meine Tochter geht in Marbach aufs Gymnasium.Vor ein paar Tagen war ich zu Gast in einer besonderen Stadt. Die Stadt liegt gleichzeitig in Deutschland und in Polen. Ich sollte die Deutsch-Polnischen Medientage mit einer Rede eröffnen. Am Vorabend ging ich mit meinem Navi durch die Stadt, um zu sehen, wo die Tagung stattfinden wird. Man hatte mir von einem wunderschönen alten Haus in der „Parkstraße“ erzählt. Ich ging hin und fand die richtige Nummer. Das Haus war tatsächlich alt und schön, aber offensichtlich privat bewohnt, kein Tagungsort.Vorbildliche DigitalisierungIn der Nähe saßen ein paar Jugendliche und rauchten. Ich fragte sie, ob sie etwas über eine Kultureinrichtung wüssten, hier in der Nähe. Vielleicht die Stadthalle gegenüber, meinten sie. Die wurde jedoch offenbar renoviert, eine große Tagung konnte hier kaum stattfinden. Zurück im Hotel fragte ich noch mal nach. Es stellte sich heraus, dass ich statt „Parkstraße“ in Görlitz eine „ulica Parkova“ in Zgorzelec suchen musste. Das tat ich – und tatsächlich, hier war der Tagungsort.Unterschiedlicher könnten zwei benachbarte Straßen nicht sein. Hundert Schritte weiter, und ich befand mich in Osteuropa. Überall bunte Werbung für billige Zigaretten, viele Kneipen, die hausgemachtes Essen anboten, man zahlte mit Złoty, selbst das Taxi nach Deutschland akzeptierte die polnische Währung. Ich dachte mir, so könnte auch die ukrainisch-polnische Grenze aussehen. Irgendwann einmal. Wenn die Grenze zur Ukraine keine EU-Außengrenze mehr darstellt. Es gäbe regionale Unterschiede, aber die Ukraine wäre ansonsten nur ein weiteres EU-Land auf der Karte.Die Unterschiede zwischen meinem Land und Polen sind eigentlich schon jetzt nicht mehr so groß wie noch vor wenigen Jahren. Es hat sich in der Ukraine sehr viel verändert seit dem Euromaidan. Früher bemerkte man den Grenzübertritt zum Beispiel gleich an der schlechten Straßenqualität, so wie es vielleicht einmal war, wenn man von Deutschland nach Polen fuhr. Heute fährt man einfach weiter, ohne die jeweiligen Unterschiede groß zu bemerken.Die Zigaretten sind in der Ukraine immer noch etwas billiger als in Polen, aber der Unterschied ist nicht so groß wie zwischen deutschen und polnischen Zigaretten. Auch sonst sind die Preise vergleichbar, selbst fürs Benzin. Es hat viele Reformen gegeben. Alltag und Arbeit haben sich verändert. Die Ukraine ist moderner geworden. Die Digitalisierung in allen wesentlichen Lebensbereichen ist bei Weitem besser entwickelt als in vielen anderen europäischen Ländern. Gerade jetzt merkt man es deutlich, wenn man die Erfahrungen von ukrainischen Flüchtlingen in verschiedenen Ländern vergleicht. Man kann in der Ukraine fast alles online kaufen, die Auswahl ist groß, die Preise sind moderat, die Bestellungen laufen schnell, das Prozedere ist einwandfrei. Das Wichtigste ist aber die Entwicklung der Zivilgesellschaft. Es überrascht manchmal die Ukrainer selbst, wie weit unser Land bereits ist, selbst in den Regionen und Bereichen, wo es früher einige Probleme gab.Placeholder infobox-1Die ukrainische Bevölkerung verteidigt das Land gegen alle Erwartungen seit Monaten, selbst in den okkupierten Gebieten trauen sich die Leute gegen den Krieg und gegen die russische Besetzung zu protestieren. Für viele ist das bereits ein deutlicher Beweis, dass die Ukraine so weit ist, einen EU-Kandidatenstatus zu bekommen. Leider sehen das nicht alle so. Die Bereitschaft der Ukrainer, sogar das eigene Leben für die europäische Zukunft des Landes und für die europäischen Werte zu opfern, finden manche nicht überzeugend genug.Der Krieg dauert nun schon mehrere Monate an, viele Menschen haben sich bereits an den Krieg gewöhnt, für sie geht das Leben weiter, vor allem dort, wo man nicht unmittelbar betroffen ist. Umso schwieriger fällt es mir oft, über den Krieg zu sprechen.Ich bin nicht imstande, mich an den Krieg zu gewöhnen. Ich bin mit der Zeit immer verletzlicher geworden, immer unsicherer, was die Zukunft betrifft, ich reagiere zunehmend gereizt auf die manchmal nicht ganz sensiblen Reaktionen. Es ist schwer, über den Krieg öffentlich zu sprechen und dabei ausgewogen und ruhig zu wirken. In Görlitz/Zgorzelec hatte ich es wieder versucht, ich hatte meine Rede sorgfältig vorbereitet, und ich hoffte, dieses Mal würde es klappen. Ich wollte ruhig sprechen, wie sonst, wenn es um Politik, Kultur oder Literatur geht. Ich wollte beherrscht wirken, meine Stimme sollte nicht zittern, ich nahm mir vor, nur an den Text zu denken. So als ob der Text mit mir nichts zu tun hätte, als ob der Krieg mit mir nichts zu tun hätte.Die Freiheit nicht opfernUnd es klappte natürlich nicht. Wie schon so oft. Nach solchen Gesprächen über den Krieg bekomme ich Anrufe von meinen Freunden mit Ratschlägen, welche Medikamente am wirksamsten sind, um ruhig zu bleiben, um eine Veranstaltung wie diese zu überstehen. Diesmal hatte ich den Fehler gemacht, davor auf mein Telefon zu schauen. Ich las, dass der 24-jährige Sohn meiner Kollegin, einer Schriftstellerin aus Kyjiw, an der Front gefallen ist. Ich kannte diesen Jungen nicht persönlich. Ich kenne seine Mutter auch nicht persönlich. Ich kenne nur ihre Bücher – und das, was ihr Sohn in seinem kurzen Leben bereits geschafft hat.Er war mit 16 einer der ersten Jugendlichen, die am 30. November 2013 auf dem Maidan in Kyjiw zusammengeschlagen wurden. Seine Mutter hatte darüber auf Facebook berichtet, mit ihrem Post über ihren Sohn fing für mich damals mein Maidan an. Ich las immer wieder Nachrichten, auch über ihren Sohn. Er wurde ein politischer Aktivist und es wurde oft in den Medien über ihn berichtet. Seit den ersten Kriegstagen war er an der Front. Nun ist er gefallen.Meine Rede war in diesem Moment plötzlich unwichtig, und gleichzeitig konnte ich nichts anderes tun, um die Aufmerksamkeit weiter auf diesen Krieg zu lenken, um nicht zuzulassen, dass noch mehr Menschen unbemerkt umgebracht werden. Ich weinte natürlich. Viele im Saal weinten auch.Dann vergingen einige Tage, und ich hoffte insgeheim, dass es doch nicht stimmte. Nicht er, nicht jetzt. Die Hoffnung war jedoch vergeblich. Seit ein paar Tagen ist es öffentlich, das Datum des Begräbnisses steht fest. Es gibt eine große Anteilnahme. Viele wollen der Familie finanziell helfen, wegen der vielen Transaktionen konnte man eine Zeit lang nichts mehr auf das Konto der Mutter überweisen.Es gibt so viel, was wir noch nicht wissenIch erzähle davon und ich erzähle damit auch von den anderen, die in diesem Krieg gefallen sind, die weniger öffentliche Aufmerksamkeit bekamen. Es sind so viele Tote, und wir wissen noch lange nicht von allen, die schon umgebracht wurden. Wir wissen noch nicht, welche schrecklichen Bilder uns noch erwarten: aus Mariupol, Cherson, aus anderen besetzten Gebieten. Es ist gerade jetzt enorm wichtig, diesen Krieg nicht zur Gewohnheit werden zu lassen, wir dürfen die Lage nicht akzeptieren, wir dürfen die Freiheit der Menschen nicht opfern.„Nie wieder Krieg“, hört man oft in Deutschland. Ich stimme dem vollkommen zu. Nur mit der Ergänzung: „Nie wieder Krieg nach diesem Krieg.“ Viele Menschen bekräftigen mit dem Satz „Nie wieder Krieg“ ihre ablehnende Haltung gegenüber den Waffenlieferungen für die Ukraine. Sie sagen: „Waffen sind schlimm und der Krieg tötet die Menschen.“ Das ist richtig, aber der Krieg tötet die unbewaffneten Menschen trotzdem, und gerade weil sie sich nicht wehren können, sogar noch viel schneller und viel mehr.Der Sohn meiner Kollegin könnte noch leben, vielleicht wäre er Präsident der Ukraine geworden. Er hätte vielleicht dafür gesorgt, dass Russland nicht mehr wagen würde, unser Land anzugreifen. Jetzt ist er tot. Wie viele andere. Jeder Kriegstag kostet viele ukrainische Leben. Jeder Tag, an dem man zögert, ob man in die Ukraine Waffen liefern soll, jeder Tag, an dem man zweifelt, ob man der Ukraine den EU-Kandidatenstatus geben soll.Damit kehrt sich der Satz „Nie wieder Krieg“ buchstäblich in sein Gegenteil um und bedeutet buchstäblich: Nie wieder Frieden für die Ukraine. Denn statt eines klaren und eindeutigen Sieges dank internationaler Hilfe und Unterstützung droht der Ukraine auf Jahre ein eingefrorener Zustand, der immer wieder explodieren kann und die Zukunft des Landes wie auch den Frieden in Europa infrage stellen wird.Will das tatsächlich jeder, der gegen Waffenlieferungen ist und der Ukraine die Chance auf eine EU-Mitgliedschaft abspricht?