Privatsphäre ist so 2005

Datenschutz Niemand ist im Netz geschützt, das wissen wir seit Edward Snowden. Doch die Gruselvorstellung hat sich normalisiert: wir haben keine Angst mehr, uns im Netz zu zeigen

Edward Snowden enthüllte im Sommer 2013 die Machenschaften der Nachrichtendienste weltweit. Die folgende Debatte war bei weitem nicht die erste über Privatsphäre und den Schnüffeltrieb von Staaten und Unternehmen. “Digitale Vollkontrolle – Das Ende des Privaten”. So hieß der Titel des Spiegel-Hefts 27/1999. Die beiden Journalisten Uwe Buse und Cordt Schnibben befassten sich in ihrem Artikel “Der nackte Untertan” mit Spionage-Satelliten, winzigen Überwachungskameras, dem Datensammeltrieb von Marktforschern und in Datenbank erfassten Bürgern. Und was hat die 17 Jahre alte Debatte bewirkt? Wenig bis gar nichts. 2016 sind wir keine nackten Untertanen mehr, wir fühlen uns so frei und so verbunden mit der Weltbevölkerung wie nie zuvor. Wir hüpfen oft bar jeglicher Zurückhaltung über die digitale Wiese und schenken mächtigen Firmen vollkommen ohne Zwang Informationen über unser Privatleben.

Es ist ein alter Hut, George Orwells Dystopie “1984” zu bemühen, um die Tragweite der Überwachung von Menschen zu verdeutlichen. Auch Buse und Schnibben ziehen den Vergleich mit dem Roman. In ihren Augen wurde aber Big Brother, die eine über alles wachende Kontrollinstanz, von vielen kleinen Brüdern abgelöst. Privaten und staatlichen Überwachungskameras, die es unmöglich machen, am öffentlichen Leben teilzunehmen, ohne das eigene Antlitz filmen zu lassen.

Eltern filmen die Babysitter ihrer Kinder, Fabrikbesitzer die Umkleidekabinen ihrer Arbeiter, preiswerte Knopfkameras ermöglichen die Überwachung des Umfelds im Alltag. Liest man Quellen aus der Zeit des Artikels von Buse und Schnibben, ist es schon erschreckend genug – damals gab es noch nicht einmal Smartphones, in Laptops verarbeitete Kameras, Live-Streaming-Dienste, soziale Netzwerke oder Ortungsdienste, denen Teile der Bevölkerung quasi ununterbrochen mitteilen, wo sie sich wann zu welchem Zweck befinden. Doch all das haben wir jetzt.

Street View – wen kümmert’s heut noch?

Buse und Schnibben berichten auch von den Bemühungen der Firma Tele-Info, Deutschlands Straßen abzufotografieren, “8 Kameras auf jedem Dach, jede schießt 50 Bilder pro Sekunde”. Das war ganz acht Jahre, bevor Google exakt dasselbe machte, um Nutzern den Zugang zu Straßenansichten weltweit zu ermöglichen. Tele-Info verbot dem damaligen Bundesbeauftragen für Datenschutz, Joachim Jacob, ihr Projekt als “gesetzeswidrig” zu bezeichnen, schrieben die Autoren des Spiegel-Artikels. Als dann der Weltkonzern Google im Jahr 2008 begann, das Wohn- und Arbeitsumfeld der Deutschen mit Google Street View Autos abzulichten, war die Empörung groß. Google räumte den Deutschen immerhin die Möglichkeit ein, ihre Häuser und Wohnungen unkenntlich machen zu lassen. Im Jahr 2016 empört sich keine Menschenseele mehr laut über Google Street View, Überbleibsel der Debatte der später Nuller-Jahre sind einzelne verschwommene Häuser inmitten deutscher Städte.

In “Der nackte Untertan” heißt es, dass ein Drittel aller Deutschen davon ausgehe, dass ihre persönlichen Daten einmal oder mehrmals missbraucht worden seien. Diese Zahl dürfte heute weitaus höher sein. Es ist schon eine Mammutaufgabe, jemanden im persönlichen Umfeld zu finden, der der Überzeugung ist, dass die Informationen, die einmal bei einer Umfrage oder während eines Anmeldeprozesses bei einem Internet-Dienst angegeben wurden, vollkommen vertraulich behandelt werden. Zeugen des Missbrauchs sind Anrufer, die über angebliche Gewinne informieren, oder auch Spam-Mails, über die vermeintliche saudische Prinzen oder steinreiche Unternehmer hochlukrative Geschäfte abwickeln wollen. Jeder, der die Funktion von Links- und Rechtsklick nicht erst mühsam erlernen muss, reagiert nicht mal mehr mit einem müden Lächeln auf solche Avancen. Bewegt man sich regelmäßig durch das World Wide Web, checkt man hin und wieder den Spam-Mail-Ordner. Dass dubiose Menschen und Firmen überhaupt über persönliche Kontaktinformationen und Namen walten, wundert niemanden mehr. Die Frage nach dem Missbrauch wird nur selten gestellt.

Bei Buse und Schnibben geht es auch um biometrische Daten, das Echelon-Abhörprogramm, digitale Detektive, Identitätsdiebstahl und zwielichtige Adresshändler. Die digitale Welt ist in “Der nackte Untertan” eine gefährliche, die uns die Existenzgrundlage unter den Füßen wegziehen kann. Vielleicht stellte sich 1999 noch die Frage, ob diese Entwicklung irgendwie aufzuhalten sei, 2016 stellt sie sich definitiv nicht mehr.

Während des Schreibens dieser Worte sitzen um mich herum acht Personen im Alter von etwa 20 bis 40 Jahren. Sechs haben einen Laptop vor sich, die anderen beiden jeweils ein Tablet. Die Menschen sind online und verbreiten, ob sie wollen oder nicht, Informationen über sich. Ja, es gibt noch immer rund 20 Prozent der Menschen über 14, die nicht online sind. Die Zukunft wird aber unweigerlich mit sich bringen, dass diese meist älteren Menschen irgendwann nicht mehr da sind – und irgendwann ist die Menschheit fast ausnahmslos online.

Privatsphäre ist so 2005

Marc Zuckerberg sprach 2010 in einem Interview mit TechCrunch-Gründer Michael Arrington davon, dass Privatsphäre keine soziale Norm mehr sei. Und er hat, aus dem Jahr 2016 betrachtet, auch irgendwie recht. Er hat damit nicht gesagt, dass Privatsphäre etwas Schlechtes oder Gutes ist, einfach nur, dass die soziale Norm heute anders aussieht. Wir loggen uns in ein öffentliches WLAN ein und geben sofort Daten über unsere Surfgewohnheiten weiter. Per Google Maps navigieren wir uns durch fremde Orte und der Konzern dahinter verwendet diese Informationen, um uns Sehenswürdigkeiten oder Restaurants in der Nähe vorzuschlagen. Spotify nutzt unser Hörverhalten, um uns dazu passende Playlists vorzuschlagen. Suchen wir online nach einem bestimmten Produkt, bekommen wir noch Wochen und Monate später Anzeigen dazu.

Die Nutzung unserer Daten kann uns mit Sicherheit sehr zuträglich sein. Personalisierte Werbung ist angenehmer als auf Massen ausgerichtete Banner, und wenn wir keine Lust haben, uns mühsam Musik zusammenzustellen, sind wir dankbar dafür, was Spotify mit unsere Daten anstellt. Essen wir für unser Leben gerne indisch, sind wir froh, wenn uns ein Dienst das neue, erstklassige indische Restaurant der Stadt näherbringt. Wir haben persönlich die Macht über das meiste, was wir an wirklich Persönlichem im Netz verbreiten. Jeder ist in der Lage, sich der Überwachung zu entziehen, auch wenn sie subtiler geworden ist.

Überwachungskameras gibt es auch noch 2016, aber jeder Datensatz über unser Onlineverhalten ist weitaus mächtiger und potenziell zerstörerischer als unser Gesicht auf einem Videoband. Ein Internetnutzer muss sich heute darüber bewusst sein, dass die Daten, die er abgibt, oft anderweitig genutzt werden. Das ist zwar beunruhigend, aber so sieht sie aus, die Realität und soziale Norm. Ist das naiv? Vielleicht. Viele von uns sind digital nackte Menschen, aber wir haben uns damit abgefunden, dass der Nutzen für uns auch groß sein kann. Was wir nicht online wissen wollen, teilen wir nicht. So einfach ist das

Dieser Beitrag erschien zuerst auf netzpiloten.de

Hendrik Geislerstudiert Anglistik, Amerikanistik und Geographie an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. In seiner Bachelor-Thesis beschäftigt er sich mit „Digital Dystopias in American Literature and Film“. Zur Zeit arbeitet er als Freier Mitarbeiter einer Lokalzeitung und verfasst auf basicthinking.de die KolumneMediendschungel. Am liebsten schreibt er über die Digitalisierung des Lebens und Innovationen aus der Nachrichtenwelt

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Hendrik Geisler | Netzpiloten

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