Wir Kinder vom Alex

Obdachlos Sie leben in Berlin-Mitte, am Rand der Gesellschaft. Der Alltag deutscher Straßenkinder

Wer in Berlin den Alexanderplatz überquert oder in den unterirdischen Gängen von einer U-Bahn zur nächsten eilt, begegnet ihnen: den Kindern vom Alex. Jugendliche mit bunten Haaren, zerfetzten Jeans und schweren Stiefeln an den Füßen, ein Ring in der Augenbraue, ein Spruch auf den Lippen, in der Hand einen Becher, in dem ein paar Münzen klappern. Der Alex ist ihr Terrain und für viele von ihnen ist er ihr zu Hause, das einzige, das sie haben.

Etwa 9.000 Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in Deutschland leben nach Schätzungen von Terre des Hommes dauerhaft oder vorübergehend auf der Straße, ein Drittel davon in Berlin. In offiziellen Statistiken tauchen obdachlose Kinder nicht auf, denn häufiger noch als Erwachsene pendeln sie meist zwischen wechselnden Zufluchtsorten und der Straße.

„Fast jede Woche tauchen neue Gesichter auf, manche sind erst zwölf Jahre alt. Kurz vor den Schulferien, wenn es Zeugnisse gibt, werden es besonders viele“, sagt Eckhard Baumann, Sozialarbeiter beim Berliner Verein Straßenkinder. Einmal die Woche stellt sich Baumann mit einem Kleinbus auf den Alexanderplatz und verteilt Suppe in Plastiktellern. Die Essensausgabe ist für ihn eine Möglichkeit, mit den Kindern und Jugendlichen ins Gespräch zu kommen, neu Angekommene anzusprechen, Vertrauen aufzubauen, Sorgen und Probleme anzuhören. Oft ist das schon mehr, als die Jugendlichen gewöhnt sind.

Wärme aus der Flasche

Dem Entschluss, von zu Hause wegzulaufen, geht meist eine lange Geschichte von Vernachlässigung, psychischen Krisen und Gewalt im Elternhaus voraus. „Die Kinderarmut in Deutschland wächst, und das bemerken wir auch in unserer Arbeit. Aber in vielen Fällen ist es nicht Armut, sondern vor allem emotionale Verwahrlosung und eine Überforderung der Eltern, die dazu führen, dass die Kinder irgendwann abhauen“, sagt Baumann.

Vielen Jugendlichen, das erzählen die Protokolle auf diesen Seiten, erscheint das Leben auf der Straße zunächst wie eine Befreiung. Doch – und auch das erzählen sie – es ist ein Leben in Ungewissheit und Schutzlosigkeit, bestimmt von Drogen und Alkohol, die kurzzeitigen Schutz vor durchfrorenen Nächten, vor Angst und Einsamkeit versprechen, und die zugleich den Ausstieg aus der Szene schwierig machen.

Einige, die hier ihre Geschichte erzählen, haben nach Monaten oder Jahren auf der Straße den Weg ins betreute Wohnen, in eine eigene Wohnung oder zurück zu den Eltern gefunden. Andere sind noch immer „auf Platte“, wie sie es nennen. Ihre Berichte erzählen von der ewigen Suche nach einem halbwegs warmen Schlafplatz, von Scham und Frust beim Schnorren, vom Gefühl, nirgendwo hinzugehören und ständig vertrieben zu werden, vom Schmerz, enge Freunde sterben zu sehen und von Erinnerungen, die sich nicht verdrängen lassen. Aber auch von Zukunftsplänen, von der Sehnsucht nach einer eigenen Familie, einem Job, einem „ganz normalen Leben“. Und davon, dass für viele der Alex trotz allem ihr zu Hause bleibt.

Hier lesen Sie die Geschichten der Jugendlichen.

Nana Heidhues hat alle Protokolle dieses Wochenthemas aufgezeichnet. Zusammen mit dem Fotografen Göran Gnaudschun hat sie die Straßenkinder über mehrere Wochen am Alexanderplatz besucht.

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