Ukraine: Leopold Lysogorski aus Berlin bringt Hilfsgüter unter hohem Risiko in den Donbas
Reportage Von Berlin nach Bachmut: Babynahrung, Milchpulver, Medikamente, Einweghandschuhe und schusssichere Westen sind Teil seiner Fracht. Zwei Wochen kann die Fahrt von Leopold Lysogorski dauern – manchmal auch länger
Diejenigen, die ihr Zuhause nicht verlassen wollen oder können, sind vielfach auf private Hilfe angewiesen
Foto: Luis Alves/Analdou Agency/Getty Images
Zwei Männer entladen in einer Kyiver Autowerkstatt einen Geländewagen. Einer der beiden holt ein Fußkreuz aus einem vollgestopften Kofferraum, schwarz, mit fünf Armen und daran befestigten Rollen. Gehen Bürostühle an die Front? Ungläubig hält der erste Mann das Fußkreuz in seinen Händen. „Das gehört zu einem Infusionsständer“, sagt der zweite. „Außerdem sind Bürostühle an der Front gar nicht so seltsam. Soldaten werten ja auch Satellitendaten aus.“
Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine sind Freiwillige unverzichtbar, in ganz Europa nehmen sie Geflüchtete auf, Tausende Kämpfer aus aller Welt ziehen für das angegriffene Land in die Schlacht. Weniger beachtet werden jene, die
jene, die Hilfsgüter sammeln und bis ins Kriegsgebiet fahren, wie Leopold Lysogorski aus Deutschland, der im Osten der Ukraine Krankenhäuser, bedürftige Familien und Militärs beliefert, wenn ihn nicht gerade ein defektes Getriebe zur Zwangspause in einer Kyiver Werkstatt zwingt.Was DB Cargo versprachLysogorski ist 39, stammt aus Polen und lebt in Berlin. „Eigentlich“, sagt er selbst, denn derzeit wohnen ukrainische Geflüchtete in seiner Wohnung, da er ohnehin zwischen Front und Hinterland unterwegs sei. Lysogorski ist groß und schwer, ein in Camouflage gekleideter, gutmütiger Riese, mit weicher Stimme, watschelndem Gang und verzotteltem, angegrautem Haar. „Wir wollen in den Donbas.“ Lysogorski deutet auf einen Anhänger hinter sich, in dem Babynahrung und Milchpulver liegen, dazu Medikamente, Einweghandschuhe und schusssichere Westen. Sobald das Getriebe gewechselt ist, will er wieder aufbrechen. Freiwillige wie er ergänzen staatliche Strukturen, die von dem Leid, das dieser Krieg produziert, überfordert scheinen. Zwar war zunächst die Hilfsbereitschaft groß, doch hat etwa die DB Cargo, der Logistikzweig der Deutschen Bahn, das Versprechen, Hilfsgüter kostenfrei in die Ukraine zu fahren, Anfang 2023 still und leise wieder kassiert. Da sowohl Unternehmen wie Privatpersonen weiter spenden, wird der Transport zur Achillesferse. „Babynahrung kriege ich, so viel ich will“, sagt Lysogorski, „nur das Benzin für eine Fahrt kostet mehrere Hundert Euro.“ Trotzdem ist er schon zu 16 Touren aufgebrochen, von denen jede mindestens zwei Wochen dauert.Die Auszeit wegen des Getriebes erlaubt es Lysogorski, ins Kyiver Umland zu fahren. Er will einer Frau aus Irpin Futter bringen, die ein Tierheim betreibt, das derzeit arg überfüllt ist. Am Steuer sitzt Dima, der sonst als Programmierer in Kyiv arbeitet und meint: „Leopold hilft meinem Land, also helfe ich ihm.“ Lysogorski will diese Fahrt auch nutzen, um zwei Mitstreitern, die auf der Rückbank sitzen, Orte zu zeigen, die wegen massiver Zerstörungen und russischer Verbrechen an Zivilisten zu Synonymen für den Schrecken dieses Krieges geworden sind: Butscha, Borodjanka, Irpin.An den Ausfallstraßen ins Kyiver Umland sind immer noch Sandsäcke und Panzersperren zu sehen, aber die Soldaten an den Checkpoints winken die meisten Fahrzeuge durch. Er habe es bei Kontrollen ohnehin leichter, meint Leopold und zeigt einen Ausweis, den ihm ein ukrainischer Feldkommandeur im Donbas ausgestellt hat, damit er auch nachts, wenn eine Ausgangssperre gilt, unterwegs sein kann.Vor dem Wappen von BachmutLeopold selbst arbeitete zu Kriegsbeginn noch in Berlin bei einer Firma für Medizintechnik und hatte mit der Ukraine „nichts zu tun“. Als er erste Hilfskonvois organisierte, dachte er, „ich fahre die Sachen bis an die Grenze und kehre zurück“. Um aufzuzeigen, wie falsch er mit seiner Einschätzung lag, zückt er sein Smartphone und scrollt durch Fotos, die ihn vor dem Stadtwappen von Bachmut zeigen, der Stadt im Donbas, die für die längste Schlacht des Krieges steht und mittlerweile an Russland fiel. Um seine Hilfe besser zu organisieren, hat Leopold vor einem halben Jahr eine eigene Stiftung gegründet: Evropa Invicta. Seinen Job hat er verloren. „Ich war nur unterwegs. Mein Chef hatte lange Geduld mit mir, aber irgendwann musste ich mich entscheiden.“ Noch lebe er von Ersparnissen. Wie es für ihn weitergehe, wisse er nicht. Leopold schaut in die Ferne, grüne Felder und Bauernhäuser fliegen am Autofenster vorbei. „Dort auf der Wiese haben Raketen gesteckt.“ Er zeigt auf ein Feld.In Irpin angekommen, will Leopold an einem „Betreten verboten“-Schild vor einem zerschossenen Wohnblock vorbei, als ein Wachmann in sandfarbener Uniform auf ihn zukommt. Er verzieht sein Gesicht, als wolle er nicht sauer werden, es aber müssen. Leopold gestikuliert wild und redet in einem slawischen Sprachgebräu auf den Posten ein. „Es ist gefährlich hier, jeder Windstoß kann Betonbrocken lösen, die fallen euch auf den Kopf“, entgegnet der fast entschuldigend. Er schenkt Leopold noch einen Patch mit einem Dreizack von seiner Uniform, bevor er ihn verabschiedet. Ein Bild, das Leopold in Irpin zeigen wollte, ist mittlerweile aus den Ruinen geborgen und wird ein Stück die Straße hinauf hinter Glas ausgestellt: eine auf Beton gemalte junge Frau, die mit geschwungenem Band federleicht über Tod und Zerstörung hinweg zu tanzen scheint. Sie stammt wohl aus der Feder des berühmten Banksy, eines britischen Streetart-Künstlers – auch wenn für die Menschen in Irpin gerade ganz andere Bilder wichtiger sein dürften.An einem der Hochhäuser, die zwischen den Ruinen noch stehen, führt eine Frau ihren Kater an der Leine spazieren. Sie ist Mitte 40 und wohnt in einem Haus, das trotzig zwischen zerschossenen Blöcken hervorragt und in dessen Außenwand ein Mörser ein Muster gesprengt hat, daneben steht: „Putin Hujlo“ (Putin Arschloch). Leopold kommt mit der Frau ins Gespräch, bald zeigt sie auf ihrem Handy ein Foto, das einer Investorenbroschüre entstammen könnte: fiktive Häuser zwischen makellosen Wiesen. „So wird das hier bald aussehen“, sagt sie recht sicher, fügt aber hinzu: „Haben sie uns zumindest versprochen.“Irpin, Butscha und BorodjankaAls ihr Viertel im März 2022 für etwa einen Monat von der russischen Armee besetzt war, sei sie zu Verwandten geflohen. Ihre Wohnung sei zwar aufgebrochen, aber nicht vollends geplündert worden. „Ich wohne im achten Stockwerk, der Aufzug war beschädigt, da wollten sie wohl keine Kühlschränke runtertragen.“ Nie habe sie gedacht, dass ein solcher Krieg ausbrechen könne. „Sie haben etwas gegen uns.“ Die Frau deutet mit dem Kopf nach Norden, wo in nicht einmal 100 Kilometern Luftlinie die weißrussische Grenze liegt. Als sie die ungläubigen Blicke Leopolds und der anderen wahrnimmt, die auf ihr kriegsversehrtes Haus schauen, fügt sie hinzu: „Es ist in Ordnung bei uns, glauben Sie mir.“Leopold dirigiert Dima weiter durch Irpin, Butscha und Borodjanka, deutet auf eine Polizeistation, vor der noch Patronenhülsen und zerfetzte Dokumente liegen, als sei der letzte Schuss gerade erst gefallen. An manchen Häusern steht in großen Lettern das Wort „Djeti“ (Kinder), womit die Bewohner an die Milde der Angriffstruppen appelliert haben. In Butscha ist die Bahnhofsstraße, die erst mit Panzerwracks und dann mit Leichen gepflastert war, neu asphaltiert, alle Häuser haben identische, frisch lackierte Zäune. Unvermittelt kommt Leopold darauf zu sprechen, wie nah die Geschosse im Donbas zuweilen einschlagen, wie schnell es gehen müsse, wenn er sich zusammen mit Soldaten in Sicherheit bringe.Als es Abend wird, meldet sich die Frau vom Tierheim. Sie sei soeben gerufen worden, einen neuen Zögling abzuholen. Ob Leopold das Tierfutter auch an einem anderen Tag bringen könne. Er kann und befürchtet ohnehin, dass es mit der Autoreparatur länger dauert. Immerhin wird ihm der Mechaniker das Getriebe kostenlos einbauen, wenn es einmal geliefert ist. „Der repariert Helfern und Soldaten ihre Autos. Solche Leute gibt es in der ganzen Ukraine, ohne sie würde es nicht gehen.“Abendkleider und PomadeDer Tag war lang, Leopold und die anderen wollen noch etwas essen, sie halten an einem Einkaufszentrum am Stadtrand von Kyiv, einer funkelnden Untertasse an der Autobahn. In der Food Lounge kratzt Leopold zerknüllte Scheine aus seinen Hosentaschen zusammen, sie könnten für eine Suppe reichen. Hinter ihm laufen Frauen in Abendkleidern und Männer in Leinenhosen und mit Pomade im Haar vorbei. Sie lachen und haben sehr weiße Zähne. Wer kann, der lebt in Kyiv sein Leben und verliert sich nicht im Krieg. „Ich habe manchen Monat nur 500 Euro an Geldspenden, die gehen komplett für Benzin drauf“, sagt Leopold, bevor er sich über seinen Suppenteller beugt.Eine Woche später hat er es mit dem reparierten Auto in den Osten der Ukraine geschafft. Er schickt Fotos aus Sumy, Lyman und Kupjansk. Nach und nach wird der Anhänger auf den Aufnahmen leerer. Unweit der Front, in der Kleinstadt Lyman, rollen jetzt Infusionsständer auf schwarzen Fußkreuzen über Klinikflure.