Solidarität und Schweigen

Debattenkultur Nach den Angriffen auf Israel waren Aufrufe zum Verzicht auf Äußerungen zum Nahostkonflikt im deutschsprachigen Social-Media Kontext omnipräsent. Warum dies keinem hilft sondern den Konflikt nur weiter mystifiziert

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Die Präsenz aktueller Memes, die zum Verzicht auf Einordnungen des Nahost-Konflikts aufrufen, während ihn doch alle in Echtzeit verfolgen - ganz nach dem Motto: Solidarität ja, sonst Klappe halten - machen es sich beklemmend einfach und sind in letzter Hinsicht unpolitisch. In ihrem Aufruf zum Schweigen haftet ihnen zudem etwas autoritäres an, denn sie fügen sich so stillschweigend der im Diskurs dominanten Position - in Deutschland, der Staatsräson uneingeschränkter Israel-Solidarität.

„Habe Mut, Dich deines eigenen Verstandes zu bedienen” - das mag abgedroschen klingen doch steckt in der fast 240 Jahre alten Antwort Kants', auf die Frage nach den Prinzipien der Aufklärung, letztlich auch die Einsicht in die Verantwortung eigener Meinungsbildung. Der Aufruf zur Unmündigkeit dagegen führt keinen Dialog, sondern schürt – vermutlich im Wissen der eigenen Diskurshoheit und somit in strategischer Absicht – Unsicherheit und begünstigt so die Verhärtung des eigenen Denkens. Aufklärung jedoch benötigt angemessene Reflexionsräume statt einseitiger Moralisierung und kritische Debatten statt vorentschiedenen Gruppenloyalitäten – auch um ihrer selbst willen. Die Solidarität, die im Nahbereich der von Gewalt und Terror Betroffenen nötig ist, und sicherlich auch strukturelle wie institutionelle Aspekte umfassen muss, darf nicht darüber hinweg täuschen, dass Politik langfristige Perspektiven im Blick haben muss, die stets nach einem kühneren Blick verlangen.

Insbesondere also in Zeiten der Zuspitzung von Gewalt und Gegengewalt, Terror und Rache, wäre der Zeitpunkt für jene, die in diesem Kreislauf nicht unmittelbar festsetzen müssen: sich zu informieren, debattieren, infrage stellen, hören, schauen, schreiben und: andere Nachrichtenquellen nutzen als gewohnt - beispielsweise englisch- oder arabischsprachige Angebote. Auch über den Nahost-Konflikt. Der mehr als verständlichen, momentanen Empörung sollte das Schlagwort 'Solidarität' nicht primär der eigenen Selbstvergewisserung dienen, um auf Kosten kritischen Denkens den Komfort der moralisch richtigen Seite zu genießen. Als politische Menschen sollten wir uns allen Situationen, die uns emotional mitnehmen und beschäftigen, stellen und lernen, diese kontextualisieren zu können, um sie in einen Wissensgewinn über die sozialen Verhältnisse, in denen sich unser Leben vollzieht, zu übersetzen. Dies wäre umso wichtiger in einer Zeit, in der Krise um Krise auch in die vermeintlichen Wohlstandsblasen der westlichen Welt vorrückt.

In all seiner Abscheulichkeit hat Terror leider auch die tragische Rolle, vor Augen zu führen, dass niemand seiner Freiheit Gewiss sein kann, so lange andere in Unfreiheit leben müssen. Dass Freiheit - ohne die Freiheit aller - fragil und flüchtig sein wird – ob wir wollen oder nicht und unabhängig davon, welche ideologische Formation der Terror in seiner Mobilisierung anruft. Diese Einsicht ist keine Legitimation der Gewalt, sondern erinnert uns an die Widersprüche des Status Quo, in dem wir uns eingerichtet haben. Dies mag angesichts blanken Terrors weiter verunsichern. Historisch jedoch „belehrt uns die Geschichte der Unterdrückten [..] darüber, dass der Ausnahmezustand, in dem wir leben, die Regel ist“ - um Walter Benjamin's geschichts-philosophische Einsichten, aus der Zeit des europäischen Faschismus, zu erinnern*. Nur dies vor Augen, können wir uns hoffentlich so engagieren, dass wir langfristig und gemeinsam in der Lage sein werden, die „Errichtung des wirklichen Ausnahmezustandes herbei zu führen” (ebd.). Und das hieße nach wie vor, systematische Ausgrenzung nicht mehr zu verwalten oder zu ignorieren, sondern zu überwinden.


* Walter Benjamin 1940/2007: Über den Begriff der Geschichte. In: ebd. (2007): Kairos, S. 313-324. Frankfurt a.M., Suhrkamp

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Geschrieben von

Nikk

Niklas hat Philosophie und Soziologie studiert und ist aktuell Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialwissenschaften in Kiel. In seiner Freizeit war er lange als Musiker und Veranstalter in der Indie- und Punkszene aktiv.

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