Friedrich II. oder Angela Merkel: Gefühlspolitik will gekonnt sein
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Schon zu Lebzeiten kursierte über Friedrich II. folgende Anekdote: Als der preußische König einst zur Inspektionsreise in der schlesischen Provinz weilte, bat ihn eine Witwe, ihren Sohn vom Kriegsdienst zu befreien, da sie ihn daheim als Arbeitskraft benötige. Der König verstand jedoch kein Polnisch und wies die Frau zunächst ab. Daraufhin nahm diese all ihren Mut zusammen und rief in gebrochenem Deutsch: „Wenn Ihr wullt sein König unser, müsst sich lern’n pulsch.“ Friedrich war ob dieser Chuzpe nun derart tief bewegt, dass er den Sohn tatsächlich freistellte.
Diese Anekdote, die die Historikerin Ute Frevert ihrem überaus lesenswerten Buch Gefühlspolitik voranstellt, darf in Bezug auf den preußischen König in
schen König insofern als exemplarisch gelten, als dass sie illustriert, wie Friedrich als einer der ersten Regenten seiner Zeit den emotional turn vollzog. Dass solche Geschichten über den Monarchen im Umlauf waren, passte nämlich perfekt zu dessen Konzept einer empathischen Herrschaftskommunikation, die sich nicht mehr an die Höflinge, sondern an die Massen richtete. „Affektive Empfindungen und Einstellungen“, schreibt Frevert, waren „hier nicht Motive, sondern Ressourcen, Werkzeuge und Objekte des Handelns.“ Zum affektiven Repertoire des Preußenkönigs, der stets betonte, der „erste Diener im Staat“ zu sein, gehörte etwa die ständige Präsenz bei Volk und Armee oder die damals fast revolutionäre Geste, den Hut vor Rangniederen zu ziehen. Kurz: Friedrich kultivierte eine Politik der Empathie, die darauf abzielte, über Menschen zu herrschen, die, so der Monarch, „ihm aus Liebe gehorchen, aus Erkenntlichkeit dienen“.Dieses friderizianische Gefühlsmanagement, das nicht darüber hinwegtäuschen darf, dass er gleichzeitig einer der autoritärsten und kriegerischsten Herrscher seiner Epoche war, führt nun auf indirektem Wege in die Gegenwart. Genauer gesagt zur Diskussion über jenen Auftritt Angela Merkels, der in der letzten Woche zunächst bei Twitter unter dem Hashtag #merkelstreichelt trendete, um dann auch von allen großen Zeitungen aufgegriffen zu werden. Der Grund war, dass die Kanzlerin einen Bürgerdialog in Rostock besuchte, bei dem Reem, eine perfekt deutsch sprechende Schülerin, die mit ihrer Familie vor vier Jahren aus dem Libanon geflohen war und jetzt vor einer Abschiebung steht, erklärte, wie belastend diese Situation für sie ist.Merkel wand sich daraufhin in ungelenken Worten und konstatierte, dass Reem zwar ein „unheimlich sympathischer Mensch“ sei, aber schließlich nicht alle aus den „palästinensischen Flüchtlingslagern“ oder „Afrika“ kommen könnten, ja „einige“ eben auch zurückgehen müssten. Als Reem daraufhin in Tränen ausbrach, sah man die Kanzlerin kurz die Fassung verlieren, bis sie hinging, um dem Mädchen zu sagen, sie habe das aber doch „prima“ gemacht. Auf den Einwand des Moderators, dass es wohl nicht ums „Primamachen“ gehe, erwiderte Merkel, dass sie das wisse, sie Reem aber „trotzdem einmal streicheln“ wolle.Souveräne BarmherzigkeitNun besteht einerseits kein Zweifel, dass diese Episode einem ein geradezu körperliches Unbehagen bereitet, da sie die Brutalität der deutschen Flüchtlingspolitik, die in Reem ein individuelles Gesicht bekommt, leibhaftig vorführt. Andererseits ist aber auch bemerkenswert, dass die Reaktionen von Merkels Kritikern sich zunehmend in eine Art krypto-monarchischen Gnadendiskurs verwandelt haben, dem zumindest implizit die Forderung innewohnt, die Kanzlerin hätte Reem eine Form jener souveränen Barmherzigkeit zukommen lassen müssen, wie Friedrich es einst bei der schlesischen Witwe tat. Sollte die Empörung über Merkels defizitäre Gefühlspolitik nicht nur als Stilkritik gemeint sein, wäre das zumindest die einzig logische Konsequenz. Zumal man sich ja auch gut vorstellen könnte, dass jemand wie, sagen wir, Gerhard Schröder auf die Tränen der Schülerin mit einer friderizianischen Geste geantwortet, also „schnelle, unbürokratische Hilfe“ versprochen und versichert hätte, dass er sich persönlich kümmern werde. Doch wäre derlei nicht die viel populistischere Reaktion gewesen? Hätte man dann nicht mit Recht sagen können, dass eine katastrophale Flüchtlingspolitik mit menschelnder Symbolik überspielt wird? Müsste man nicht zugestehen, dass die CDU-Vorsitzende wenigstens ehrlich war?Entscheidender als die Frage, wie Merkel hier hätte besser reagieren können, ist es vielleicht also zunächst einmal zu eruieren, was für eine eigentümliche Konstellation dieser Bürgerdialog darstellt und welche impliziten Diskurse hierbei aufgerufen werden. Dann wird nämlich deutlich, dass das latente Verlangen nach einer Gnadengeste doch nicht einfach nur eine populistische Forderung von Merkels Kritikern war, sondern auch durch die immanente Struktur der Situation provoziert wurde. Auf inszenatorischer Ebene spannte sich in diesem Moment nämlich ein historischer Resonanzraum auf, der bis in absolutistische Zeiten reicht. Das lässt sich mithilfe eines kleinen Exkurses verdeutlichen.Der Politikwissenschaftler Philip Manow hat in seinem 2008 erschienenen Buch Im Schatten des Königs dargelegt, wie sehr die „politische Anatomie demokratischer Repräsentation“ immer noch nach absolutistischem Vorbild geformt ist. Entgegen der Feststellung Jürgen Habermas’, dass die Demokratie „nach-metaphysisch“ sei, konstatiert Manow, dass sie vielmehr „neo-metaphysisch“ ist. Der Politikwissenschaftler zeigt dies anhand einer Vielzahl von Beispielen, etwa daran, dass die Einheit des Königskörpers in der Architektur republikanischer Volksvertretungen weiterlebt (Halbkreis mit erhöhtem Parlamentspräsidenten) oder es eine Kontinuität königlicher Heiligkeitsattribute gibt (Immunität der Abgeordneten).In diesem Kontext ließe sich nun aber noch ein weiteres Beispiel nennen, das über Umwege wieder zu Merkels Auftritt führt: das latente Fortleben des höfischen Zeremoniells. Über Jahrtausende musste barmherzige Gefühlspolitik nämlich nicht individuell vom Herrscher betrieben werden, sondern war durch institutionelle Riten geregelt. So etwa beim Sacre, jener pompösen Salbungszeremonie, mittels derer die französischen Könige ihr Gottesgnadentum empfingen. Denn hier wirkte der Regent traditionell auch als königlicher Wunderheiler, der durch Handauflegen eine Schar Skrofulöser zu kurieren versprach. Allein büßte dieses Prozedere spätestens bei der Salbung Ludwigs XVI. seine Glaubwürdigkeit ein. Für die Menschen im vorrevolutionären Frankreich hatte die absolutistische Zaubershow ihren göttlichen Kredit verloren. Die Modernität Friedrichs II. lag deshalb auch darin, dass dieser schon Jahre zuvor die Überkommenheit dieses Modells erkannt und seine Herrschaft von einer institutionell-rituellen auf eine individuell-charismatische Form der Gefühlspolitik umgestellt hatte.Und just an dieser Schnittstelle kann man wieder in die Gegenwart springen. Denn jene Bürgerdialoge sind ja letztlich post-absolutistische Mini-Zeremonielle. Politische Riten, in denen ein sorgsam ausgesuchtes Publikum dem demokratischen Fürsten eine Bühne für empathische Gefühlspolitik gibt. In ihnen hallt deshalb einerseits die Struktur des Zeremoniells nach, das andererseits aber nicht von einer institutionellen, sondern einer charismatischen Herrschaftskommunikation lebt. Problematisch wird es indes nur, wenn in diese wohltemperierte Wirklichkeit ein Überschuss des Realen, etwa die Tränen einer von der Abschiebung bedrohten Schülerin, hereinbricht. Dann bricht die symbolische Ordnung in sich zusammen.Zombie-MonarchieIn der Folge offenbart sich ein konstitutives Paradox innerhalb der Inszenierung demokratischer Repräsentation. Kommt die Demokratie auf symbolischer Ebene auch immer als eine Art Zombie-Monarchie daher, provoziert sie dadurch bisweilen einen Erwartungshorizont, den sie strukturell nicht einhalten kann. Anders gesagt: Präsentiert sich der demokratische Fürst implizit im symbolischen Register des Königs, beschwört er eine Fähigkeit zu willkürlicher Gnade, die er als Diener des Rechts per se nicht einlösen kann.Es scheint eine fast bizarre Pointe, dass die Kanzlerin auf die Tränen Reems schließlich mit der absolutistischen Geste schlechthin, dem Handauflegen, reagierte. So, als wollte sie die Situation symbolisch schnellstmöglich in ihre krypto-monarchische Ausgangssituation zurückführen. Aber wer weiß, vielleicht ist der Kanzlerin für einen kurzen Moment tatsächlich auch ein Zweifel an der von ihr verantworteten Flüchtlingspolitik gekommen.Placeholder link-1
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