Der Freitag: Haben Sie den Super Bowl gesehen?
Jonathan Lethem: Ja, klar.
Dann kennen Sie auch die Chrysler-Werbung mit Bob Dylan, wo dieser patriotische Tautologien à la „Was ist amerikanischer als Amerika?“ aufsagt. Nun gehört es zwar zu Dylan, dass er sein Publikum regelmäßig enttäuscht, aber dennoch: Sagt das womöglich etwas über den Zustand der amerikanischen Linken aus?
So würde ich das nicht sehen. Zumal Bob Dylan diese amerikanische Symbolik schon seit vielen Jahren bedient. Beispielsweise bei Farm Aid, als er mit Willie Nelson Geld für Bauern gesammelt hat. Diese Country-Phantasie, die auf Früchte des Zorns oder Woody Guthrie zurückgeht, gehört gleichermaßen zu Amerika wie zu Dylan. Im Buch beschreibe ich ja ebenfalls diese tief verwurzelte Sehnsucht nach dem Landleben. Als jemand, der Dylan getroffen und sein Werk ausgiebig studiert hat, würde ich vor allem sagen, dass er seine größten Enttäuschungen hinter sich hat. Aber nicht aus dem Bedürfnis heraus, enttäuschen zu wollen, sondern vielmehr aus dem Gegenteil. Er ist ja in Wahrheit ziemlich höflich. Gegenüber Freunden oder seinem Manager sagt er manchmal nicht, dass etwas für ihn nicht funktioniert. Das endet dann in schlechten Kompromissen.
Wenn in Europa über amerikanische Politik diskutiert wird, steht meist die Enttäuschung über Obama oder das Kopfschütteln über die Tea-Party im Vordergrund. Dass es gleichzeitig auch Leute gibt wie Bill de Blasio, den neuen Bürgermeister von New York, gerät oft in Vergessenheit.
Diese Beschreibung trifft aber auch auf 90 Prozent der linken Amerikaner zu: besessen von der Tea Party, enttäuscht von Obama. Für Leute wie de Blasio oder Eli-zabeth Warren bleibt dann verhältnismäßig wenig Aufmerksamkeit. Eine Beschreibung amerikanischer Politik sollte aber weniger bei Individuen, als mehr bei Strukturen ansetzen. Wichtig sind die Großkonzerne, von denen beide Parteien geprägt sind. Regieren, das heißt in ein System verstrickt zu sein. Und auch Warren und de Blasio sind zwangsläufig in die neoliberale Struktur der Demokratischen Partei verstrickt. Als Obamas Aufstieg begann, fand ich das sehr bewegend. Nun bin auch ich enttäuscht, klar. Aber Obama ist eben nur der Ausdruck einer systemischen Realität namens Kapitalismus. Das gilt für die politische Ebene. Auf der symbolischen Ebene sieht es anders aus. Hier war er ohne Vorbild. Er repräsentierte die Ablehnung Bushs und war der erste schwarze Präsident.
Es ist bei ihm wie bei Occupy.
Egal, wie man über die konkreten politischen Erfolge von Occupy denkt, die Bewegung war allein durch ihre Existenz bedeutend. Sie zeigte, wie lebendig die Sehnsucht nach einer linken Bewegung ist. Ebenso, dass der Kapitalismus Realität ist, dass er einen Namen hat und dass man Widerstand leisten kann. Aber können symbolische Gesten so mächtige und historisch katastrophale Strukturen verändern? Nein – welch’ eine Überraschung.
Sie sind ein paar Monate in Deutschland. Ist es machmal schwierig über Politik zu diskutieren? Die politische Machtlosigkeit gegenüber den USA wird in Europa ja gerne mit dem Gefühl moralischer Überlegenheit kompensiert.
Als ich vor 20 Jahren das erste mal nach Europa kam, sah ich mich mit einem Paradox konfrontiert. Einerseits hatte ich das Gefühl, dass mein Land in einer Diskussion nicht zu verteidigen war. Andererseits wollte ich bestimmte Aspekte der amerikanischen Geschichte unbedingt verteidigen. Ich käme nicht im Traum darauf, etwas Gutes über Bush zu sagen. Gleichzeitig ist Amerika aber auch das Land, das in der Lage war Obama zu wählen. Und gibt es die egalitären Ideale, die Idee der Freiheit, die Gesten der Emanzipation. Besonders schön ist es natürlich, wenn diese Träume in Form des Rock’n’Roll oder Jazz daherkommen.
Wie in den meisten Ihrer Romane spielt die Popkultur auch in „Der Garten der Dissidenten“ eine zentrale Rolle. Nun ist das Verhältnis der Linken zur Popkultur ja vertrackt. Einerseits ist diese oft emanzipatorisch, zur kulturellen Hegemonie reicht’s dann aber doch nicht.
Popkultur ist so uneinheitlich wie Amerika, sie ist ein riesiger Wald, der dich verschluckt. Es passieren dort Dinge, von denen man sich befreit oder unterdrückt fühlt. Es gilt natürlich, was auch für Romane gilt: 90 Prozent davon findet man Mist. Und selbst die restlichen 10 Prozent bilden einen Mix aus regressiven Phantasien und Ideen der Emanzipation.
Ihr Roman handelt indes nicht nur von der Linken, sondern generell auch vom Problem metaphysischer Obdachlosigkeit.
Richtig. Wobei es nicht nur um metaphysische, sondern auch um sehr physische Einsamkeit geht. Die enttäuschte Sehnsucht nach politischer Veränderung spiegelt sich im Körper wider. Der Wille zur utopischen Transformation existiert ja weiter, sodass sich eine emotionale wie politische Einsamkeit einstellt.
Viele der Figuren im Roman kreisen um eine leere Mitte, einen abwesenden Anderen: um eine Fehlgeburt, den verlorenen Mann, das entfremdete Kind, die ausgebliebene Revolution. Ist Ihr Roman auch eine Abhandlung über die Renitenz von Phantomschmerzen?
Das ist eine perfekte Beschreibung. Der Kommunismus in der amerikanischen Geschichte, der abwesende Vater oder auch die verbotenen Gefühle: das sind Phantomschmerzen. Ich finde sie in all meinen Romanen. Es scheint etwas zu sein, was mich immer wieder beschäftigt.
Sie streuen im Roman diskrete Hinweise auf philosophische Zusammenhänge, beispielsweise in Bezug auf Deleuze oder Lacan. Könnte man mit letzteren vielleicht sagen, dass die Angrush-Familie eine Art gleitender Signifikant ist, eine nicht aufzuhaltende Kettenreaktion von Bedeutungen?
Das gefällt mir: Die Angrush-Familie als ein gleitender Signifikant. Ich selbst unterhalte jedoch eine eher zaghafte Beziehung zur Theorie. Zumal ich Lacan auch eigentlich nur verstehe, wenn Slavoj Žižek ihn anhand von Hitchcock erklärt.
Besonders scheinen Sie Identitätswechsel zu faszinieren. Rose legt ihr Judentum ab, ihr Schwiegersohn ist wiederum ein Protestant aus Ulster, der damit liebäugelt sich als Jude auszugeben, dann aber doch den katholischen Iren mimt, der über Schwarze singt.
Das stimmt, ich habe ein ganz persönliches Interesse an den Vor- und Nachteilen multipler und improvisierter Identitäten. Ich bin selbst als Jude, Quäker, Hippie, New Yorker, Künstler oder Bohemien aufgewachsen. All das waren rivalisierende Identifikationsmuster, von denen keines überwog. Auch hier interessieren mich die persönlichen Kosten. Man fühlt sich permanent unvollständig. Andererseits ermöglichen multiple Identitäten radikale Formen der Freiheit. Seit ich in Deutschland bin, denke ich mehr als je zuvor über das Schicksal meiner deutschen Verwandten im 20. Jahrhundert nach. Was den Deutschen im Nationalsozialismus und davor in Bezug auf die Juden am anstößigsten erschien, war ja nicht ihre Andersartigkeit, sondern ihre Ähnlichkeit. Juden waren zu oft zu gute Deutsche. Die Möglichkeit, dass das Deutschtum also etwas Eingeübtes, Erfundenes oder Adaptiertes sein könnte, bedrohte die Idee einer reinen Identität.
Horkheimer und Adorno haben deshalb bemerkt, dass die Nazis das Objekt des Antisemitismus’ gewissermaßen erst erfinden mussten.
Absolut. Die Kehrseite dieser alptraumhaften Reaktion der Nazis besteht aber immerhin in der Möglichkeit, zu erkennen, dass die Moderne vor allem behelfsmäßige, eingeübte oder improvisierte Identitäten erzeugt. So wie auch die amerikanische Identität eine Fiktion ist. Deshalb ist die Frage, wer sie für sich beanspruchen darf und wer nicht, so trügerisch.
Albert, Roses deutscher Ehemann, kommt aus dem Lübecker Großbürgertum. Und gleich auf den ersten Seiten des Romans wird Thomas Mann erwähnt. Wie viel „Buddenbrooks“ steckt in „Der Garten der Dissidenten“?
Meine Familie kommt ursprünglich aus Lübeck, meine Urgroßmutter war tatsächlich Thomas Manns Nachbarin. Sie hat noch Fotos von ihm auf seiner Terrasse gemacht. Thomas Mann und Lübeck gehörten deshalb zu meiner Sozialisation. Beides sind familiäre Erinnerungsstücke, die mir durchaus geholfen haben, dieses Buch zu schreiben. Als Autor hat er mich jedoch nicht direkt beeinflusst.
Ebenfalls eine wichtige Rolle spielt Abraham Lincoln. Sie zitieren einen Auszug einer Rede von 1861: „Arbeit steht über Kapital und verdient viel höhere Aufmerksamkeit ...“ Ist der Lincolnismus eine Art amerikanischer Light-Marxismus?
Das wäre eine Übertreibung. Lincoln hat nicht allzu viel Zeit darauf verschwendet, den Konzernkapitalismus vorherzusehen. Einfach, weil er viel zu beschäftigt war. Aber ernsthaft: Natürlich konnte er nicht wissen, dass dieser 200 Jahre später das größte Problem seines Landes werden sollte. Er sagte im Prinzip nur, was viele Intellektuelle der damaligen Zeit für selbstverständlich hielten, nämlich, dass es moralische Maximen gibt, die dem Kapital übergeordnet sein sollten. Gleichwohl ist es bemerkenswert, dass in der amerikanischen Geschichte Demokratie auch relativ unabhängig vom Kapitalismus gedacht wurde.
Nachdem die Revolution ausbleibt, widmet sich Rose vor allem ihrer genossenschaftlichen Wohnsiedlung: „Sunnysideismus ist der Kommunismus des späten 20. Jahrhunderts“, heißt es im Buch. Gilt das nicht erst recht für das 21. Jahrhundert? Das Erkämpfen oder Verteidigen von Freiräumen, als das was bleibt?
Absolut. Es ist wie beim Schriftsteller Hakim Bey in Die Temporäre Autonome Zonen. Geblieben ist die Bildung von Zonen, in denen für eine gewisse, oft nur kurze Zeit eine andere Realität möglich erscheint. Dieser prekäre Utopismus spielt auch in meinem Werk eine zentrale Rolle. Sei es in Form der Soulmusik oder Science-Fiction-Conventions, wo Menschen sich drei Tage lang wie Superhelden fühlen, um danach wieder in den Alltag zurückgeworfen zu werden.
Im Roman fällt der Satz: „Der wahre Kommunist steht am Ende immer allein da.“ Ist der Linke also naturgemäß Melancholiker?
Heutzutage wohl ja. Ich habe versucht, dieses Gefühl stellvertretend für viele Menschen zu erfassen, zu denen ich mich auch selbst zähle. Ich möchte aber gerne glauben, dass das Gefühl nicht bleibt.
Jonathan Lethem (geb. 1964) wuchs in Brooklyn, New York, auf. Er lebt heute in Kalifornien und unterrichtet als Nachfolger von David Foster Wallace kreatives Schreiben. Als Romancier wurde Lethem bei uns mit dem Roman „Chronic City“ bekannt. Zur Zeit ist er Fellow an der American Academy in Berlin
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