Würde man dieser Tage bekennen, dass man sich von der Weltlage überfordert fühlte, bedürfte es vermutlich keiner weiteren Erklärungen. Allerorten wird diagnostiziert, dass die Dinge irgendwie aus den Fugen geraten seien. Standen vor wenigen Tagen noch der Brexit oder die verstörende Popularität Donald Trumps ganz oben auf der Agenda, wobei die Flüchtlingskrise und der Krieg in Syrien im Hintergrund rauschten, ereignete sich dann binnen weniger Tage der Putschversuch in der Türkei sowie die Anschläge in Nizza, Würzburg, München, Kabul und Ansbach.
Hierzulande scheinen dabei insbesondere die mörderischen Attacken in Nizza, Würzburg und München eine besonders intensive Form des Krisenbewusstseins aufzurufen, was zum einen selbstverständlich daran liegt, dass die Anschläge nicht nur unzählige Opfer forderten, sondern auch ein fortlaufendes, konkretes Bedrohungsszenario produzieren. Denn bei allen erheblichen Unterschieden zwischen den drei Attentaten teilten sie dennoch die zentrale Botschaft, dass keine Unterschiede gemacht werden, also potentiell jeder getroffen werden soll.
Zum zweiten hat es zweifellos auch mit der mittlerweile zur gegenwartsdiagnostischen Binsenweisheit geronnenen Tatsache zu tun, dass soziale Netzwerke heute gleichermaßen als Katalysatoren kollektiver Sorge und kollektiver Hysterisierung dienen. Durch die Echtzeit-Verfügbarkeit von Informationen, Bildern und Streams entsteht einerseits ein Echoraum der Empathie, der sich im Fall des Amoklaufs in München etwa in der Aktion #offeneTür offenbarte. Andererseits fungieren Facebook und Twitter in diesem Kontext aber auch als sich selbst verstärkende Erregungsräume, als affektive Eskalationssysteme.
Der dritte und vielleicht wichtigste Aspekt besteht jedoch darin, dass alle drei Anschläge nicht auf ein defizitäres Sicherheitsregime zurückzuführen sind, also etwa durch mehr Polizei- oder Geheimdienstkräfte hätten verhindert werden können. In Nizza und Würzburg handelte es sich gewissermaßen um Instant-Islamisten, die keinem dschihadistischen Netzwerk angehörten, in München um einen „klassischen“ Amokläufer. Dementsprechend wurde in allen Fällen seitens der Regierungspolitik auch wiederholt betont, das zwar alles nötige unternommen werde, um solche Taten in Zukunft zu verhindern, es aber eben nie hundertprozentigen Schutz geben könne, ja nie geben wird. Das ist einerseits weder neu noch überraschend.
Versteht man diese Einsicht andererseits in ihrer ganzen epistemologischen Reichweite, wird deutlich, dass das spezifisch Traumatische an solchen Taten darin besteht, dass sie die zeitgenössische Form des Zukunftsmanagements radikal unterlaufen. Genauer gesagt: Sie lassen sich kaum – und wenn, dann nur zum Preis äußerster Paradoxien – in den (post-)modernen Präventionsdiskurs integrieren.
Das wird besonders deutlich, wenn man zunächst einen Schritt zurückgeht und sich vergegenwärtigt, dass Zukunftsmanagement bis zum Anbruch der Moderne eine weitestgehend divinatorische Praxis war. Sprich: Es war das Geschäft des prophetisch-religiösen Komplexes, dessen Agenturen sich historisch vom delphischen Orakel bis zum zuständigen Dorfpriester erstreckten. Es herrschte das allgemeine Bewusstsein, dass das Kommende bereits feststeht, dass es einem heilsgeschichtlichen oder geschichtsphilosophischen Plan folgt. Um zumindest einige Hinweise darauf zu erhalten, wie dieser Plan denn mittelfristig aussieht, pilgerte man schließlich zum Tempel, in die Kirche – oder in die Vorlesung von Hegel.
Kultur der Unruhe
Mit der vollen Entfaltung der westlichen Moderne, so hat es jüngst der Philosoph Ralf Konersmann formuliert, entsteht in der Folge jedoch eine „Kultur der Unruhe“. Galten zuvor stoische Kontemplation oder paradiesische Ruhe als höchste Ideale, verkehrt sich dies nun ins Gegenteil. Der Mensch beginnt permanent in die Zukunft zu stürzen, die Gegenwart als Vorlage einer notwendigen Veränderung zu begreifen. Oder wie Konersmann schreibt: „Am Ende scheint es, als sei es gerade das, was die westliche Kultur mehr als alles andere auszeichnet und wodurch sie sich sowohl von ihrer eigenen, vorneuzeitlichen Vergangenheit als auch von anderen Kulturen unterscheidet: durch die kategorische, allen weiteren Überlegungen vorgreifende Weigerung, die Dinge auf sich beruhen zu lasen.“ Tritt also die Kontingenz der Dinge ins kollektive Bewusstsein, wird die Gegenwart zunehmend prekär. Sie steht nun unter der Überschrift, dass alles, was ist, auch anders sein könnte, ja in Zukunft anders sein wird.
Vor diesem Hintergrund entsteht schließlich ein neues Prinzip sozialer Steuerung: das alle Gesellschaftsbereiche umfassende System der Vorsorge. „Kennzeichnend für die epistemologische Grundlage dieses Präventionsregimes“, bemerkt Kulturwissenschaftlerin Eva Horn in ihrem 2014 erschienenen Buch Zukunft als Katastrophe, „ist nicht mehr das Vertrauen auf ein Wissen vom Kommenden, sondern das Wissen um die eigenen Unbekannten, die known unknowens: Wissen, das dich darum eher in Wahrscheinlichkeitsberechnungen (etwa Unfallstatistiken), Hypothesen und Schätzungen (wie etwa Alarmstufen) niederschlägt.“
Und mehr noch: Das Vorsorgeprinzip reflektiert nicht nur die „known unknowns“, sondern auch die „unknown unknowns“, das, von dem man noch gar nicht weiß, dass man es nicht weiß. Jenes „unbekannte Unbekannte“ also, mit dem er ehemalige US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld einst den Einmarsch in den Irak rechtfertige. Obschon das im Falle des letzteren freilich nur ein durchsichtiges Manöver war, um die fehlenden Beweise für Saddam Husseins Massenvernichtungswaffen zu kompensieren, spielt das „unbekannte Unbekannte“ im Präventionsdiskurs tatsächlich eine entscheidende Rolle.
Effektives Management von Nicht-Wissen
Dreht sich dieser doch vorwiegend um die Frage des effektiven Managements von Nicht-Wissen, weshalb seine zentrale Aufgabe darin besteht, fortlaufend gleichermaßen fiktionale wie potentiell mögliche Szenarien zum symbolischen Probehandeln zu entwerfen. „Prävention ist also auf ein Narrativ angewiesen“, so Horn, „das einen Ablauf der Dinge schildert, wie er nicht geschehen soll. Sie leistet damit eine Interpretation der Gegenwart, die ein Mittel gegen diesen Ablauf anbietet.“ Der Diskurs der Vorsorge entwirft somit eine „self-defeating prophecy“, eine Vorhersage, die sich selbst verhindern soll.
Gab es nun in der Menschheitsgeschichte noch nie eine Epoche, in der das Kontingenzbewusstsein tiefer und breiter verankert war als in der heutigen, so wundert es auch nicht, dass das Präventionsprinzip alle gesellschaftlichen Felder kolonisiert hat. Allen voran in den Bereichen der Gesundheit, der Ökologie oder des Sozialen. In der Weltrisikogesellschaft, die immer drängender vom Klimawandel, Ressourcenknappheit oder Verteilungskonflikten bedroht wird, ist es für eine ganze Reihe sowohl staatlicher als auch privatwirtschaftlicher Akteure zum Kerngeschäft geworden, Immunisierungs- und Versicherungsstrategien anzubieten. Gefordert wird dabei ein entsprechendes Handeln im Jetzt, dass zum Nicht-Eintreten eines Ereignisses in der Zukunft führt, was wahlweise der Tod, Armut, Adipositas, die Desertifikation ganzer Landstriche, das Aussterben der Mopsfledermaus oder der globale Atomtod sein kann.
All diese Probleme haben dabei gemein, dass Präventionsstrategien für sie kursieren. Diese mögen bisweilen zwar widersprüchlich und deshalb politisch umkämpft oder noch nicht ausreichend implementiert sein, aber zumindest gibt es sie. Will heißen: Wer sich gesund ernährt und Sport macht, schmälert das Risiko früh an Herzversagen zu sterben; wer kollektiv abrüstet, vermindert die Wahrscheinlichkeit des globalen Fallouts; wer entsprechende Naturschutzgebiete einrichtet, lässt die Mopsfledermaus überleben.
In bestimmten Bereichen des Sicherheitsdiskurses liegt die Sache hingegen anders. Stellt schon der „klassische“ Terroranschlag, also jener, der von einer ideologisch geschulten Gruppe zur Erreichung konkreter politisch-ideologischer Ziele auf Basis opaker Organisationsstrukturen verübt wird, ein immenses Problem für den kriminalistischen Präventionsdiskurs dar, so ist hier zumindest noch der Ansatzpunkt klar: Man muss die Organisation, allen voran ihre führenden Köpfe, zerschlagen und ihr zudem den soziopolitischen Nährboden entziehen. Wie die Geschichte von den russischen Narodniki über die deutsche RAF bis zur irischen IRA zeigt, ist das zwar schwer genug, aber immerhin scheint grundlegend klar, dass es ein gewisses, wenn auch gleichermaßen langwieriges wie kompliziertes Repertoire an Maßnahmen dafür gibt.
Im Falle von franchise-terroistischen Instant-Islamisten, bei denen die Differenz zwischen Terror und Amok zunehmend verschwimmt, ist das hingegen nicht mehr der Fall, zumindest nicht in eindeutiger Weise. Operieren Täter nicht in terroristischen oder organisiert-kriminellen Netzwerken, sind sie also lone wolfs, Schläfer oder schnellradikalisierte Kleinkriminelle, erscheinen sie aller Wahrscheinlichkeit auf keinem geheimdienstlichen Radar. Letzteres gilt für „klassische“ Amokläufer erst Recht.
Symptomatisches Systemversagen
In dem 2010 erschienen Sammelband Diven, Hacker, Spekulanten – Sozialfiguren der Gegenwart hat Kulturwissenschaftler Joseph Vogl im Eintrag zum Amoklauf bemerkt, dass man diesen als „ein diagnostisches Verbrechen“ fassen könnte. „Diagnostisch in zweierlei Hinsicht. Denn einerseits stellt sich unmittelbar nach Anschlägen dieser Art ein Krisendiskurs ein, der ebenso extensiv wie erratisch operiert: Man konstatiert sogleich eine Krise der Familie und Kinderzimmer, eine Krise der Schule und der Medien, eine Krise des Sozialen und der Sozialisation, ein Versagen des Systems überhaupt. Sehr schnell jedenfalls konnten diese Fälle nur als Symptom, als hinweisende Zeichen für eine aktuelle kulturelle Lage aufgegriffen werden. Andererseits aber wiederholt diese diagnostische Arbeit auf geradezu tautologische Weise das, was die Taten und die Täter selbst diagnostizieren: dass eben diese Lage in ihrer Allgemeinheit, dass ihre Strukturen und ihr Systemcharakter Grund und Adresse eines Schlachtfelds und aller Kriegserklärungen sind.“
Wie man im Fall Münchens momentan beobachten kann, sind die beschriebenen Krisendiskurse bereits in vollem Gange. Es wird etwa über Mobbing oder den etwaigen Einfluss von Killerspielen diskutiert. Und es ist freilich nicht so, dass es nicht eine Reihe von gleichermaßen wichtigen wie notwendigen Maßnahmen gäbe, um die Wahrscheinlichkeit zukünftiger Amokläufe zu minimieren, etwa die Ausweitung von Therapieangebote oder die gesellschaftliche Sensibilisierung für entsprechend auffällige Personen. Nur besteht der Unterschied zu vielen anderen Krisen- und Präventionsdiskursen darin, dass diese kaum evaluierbar sind. Das heißt: Verhängt man etwa ein Tempolimit auf Autobahnen und stellt daraufhin fest, dass statistisch weniger Unfälle passieren, lässt sich daraus schließen, dass dies in Zukunft weiterhin so sein wird. Im Fall von Anschlägen durch Einzeltäter wird es durch keine pädagogisch-soziale Maßnahme der Welt ähnliches garantieren können.
Gerade weil dem so ist, wird zur vermeintlichen Verhinderung von Anschlägen, seien es Amokläufe oder franchise-terroristische Attacken, nicht nur der pädagogisch-soziale, sondern vor allem auch der klassische sicherheitspolitische, also polizeiliche, militärische und geheimdienstliche Präventionsdiskurs aufgerufen. Und abgesehen davon, dass kein noch so potentes Geheimdienstsystem für totale Sicherheit sorgen kann, was allein schon die regelmäßigen mass-shootings in den USA zeigen, offenbart sich der Versuch sicherheitspolitischer Immunisierung am Ende stets als demokratische Autoimmunreaktion. Sprich: Gerade in dem Willen die freie Gesellschaft vor ihren Feinden zu schützen, beginnt erstere oft sich selbst zu zerstören. Sei es durch die Ausrufung des permanenten Ausnahmezustands, die Totalüberwachung der Bevölkerung oder die Militarisierung des Inneren.
Totale Sicherheit?
Dementsprechend lässt sich die zwangsläufige Frage „Was tun?“ in diesem Zusammenhang eigentlich auch nur ex negativo beantworten. Also: „Was nicht tun?“. Und was das betrifft, kann man sich vielleicht an Franz Kafkas Der Bau halten, eine Erzählung, die sich dieser Tage als präzise Parabel auf die Gegenwart liest. In der vierzigseitigen Geschichte, die aus dem inneren Monolog eines nicht näher benannten Tieres besteht, wobei es sich aber allem Anschein nach um einen Fuchs oder Dachs handelt, illustriert Kafka, als Angestellter der „Arbeiter-Unfallversicherungs-Anstalt für das Königreich Böhmen in Prag“ ja ein Experte für Prävention, die Paradoxien sicherheitspolitischer Vorsorge.
Denn das Tier, das gleichermaßen nervös wie neurotisch durch seinen labyrinthischen Bau streunt, träumt von totaler Sicherheit, von der Möglichkeit sich beim Bewohnen des Baus vom Eingang aus selbst zu beobachten. „Das Beobachten des eigenen Beobachtens würde es ermöglichen“, schreibt Eva Horn, „die blinden Flecken, das Unwissbare der eigenen Gefahrenemanzipation mitdenken zu können.“ Jedoch, das zeigt Kafkas Tier, ist dies gewissermaßen nur zum Preis der Paranoia zu haben. Immer stärker bildet sich das Tier es sich ein, dass sich ein zischender Feind dem Bau nähere. Seine Angst wird gleichermaßen amorph wie allgegenwärtig. Genau darin richtet es sich jedoch ein und bekennt gegen Ende: „Ich bin so weit, dass ich Gewissheit gar nicht haben will.“
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