Untenrum offen

Klischees Wenn ein Mann einen Rock trägt, wundern sich viele. Dabei hat das eine lange Tradition
Ausgabe 21/2018
Untenrum offen

Foto: Eamonn M. McCormack/Getty Images

Wenn die Tage länger werden und die Temperaturen steigen, kann man sie wieder vermehrt bewundern: Röcke. In allen Farben und Größen. Lange Röcke, kurze Röcke, Jeans- oder Lederröcke. Sie werden fast ausschließlich von Frauen getragen und – ähnlich wie Kleider – mit einem geschlechtsspezifischen Imperativ belegt. Denn Männer tragen keine Röcke.

Kilt tragende Schotten und Metalfans auf Festivals mögen Ausnahmen sein. Aber der Grundsatz bleibt. Dass dies weder historisch noch gegenwärtig zwingend so sein muss und Männer schon seit Jahrhunderten aus verschiedensten Gründen Röcke tragen, wissen die meisten Menschen nicht. Dabei haben Männer in Röcken eine lange Geschichte, die bis in graue Vorzeit zurückreicht.

Schon im 4. Jahrtausend vor Christus trugen sumerische Männer in der Region am Persischen Golf ein Stück Fell, das ihnen als knielanger Halbrock diente, während es die Frauen als Umhang benutzen. Griechen und Römer fertigten zumeist aus Lederstreifen die „Pteryges“ an und befestigten sie als eine Art Schurz an ihrem Militärgürteln. In weiten Teilen Europas war das Tragen von Waffenröcken und Gehröcken gang und gäbe. Auf dem Athener Platz paradiert die griechische Präsidialgarde täglich vor dem Grab des unbekannten Soldaten in der traditionellen „Fustanella“ – einem Faltenrock für Männer. Und wenn die Nazis nicht befürchtet hätten, dass das Kölner Funkenmariechen Assoziationen mit Homosexualität hervorrufen könnte, dann würde diese Karnevalsfigur bis auf den heutigen Tag von Männern in Röcken repräsentiert werden.

Sarong, Longyi oder Pareo

Irgendetwas muss also geschehen sein. Denn dass Mann dem Rock modisch mit der Zeit einfach entwachsen ist, erscheint wenig überzeugend. In weiten Teilen Asiens tragen Männer ganz selbstverständlich Sarong, Longyi oder Pareo, niemand stört sich daran. Der Grund: Es wird nicht als Cross-Dressing gelesen, also als Tragen von Kleidungsstücken, die dezidiert dem anderen Geschlecht zugeschrieben werden. Es stellt kein sichtbares Durchbrechen von Geschlechterbarrieren dar.

Die männliche Abkehr vom Rock hängt mit der gesellschaftlichen Funktion von Kleidung zusammen, hierarchische Ordnung abzubilden und einzuhalten. Bis zum Aufkommen und Erstarken des europäischen Bürgertums im 18. Jahrhundert war diese Hierarchie vor allem ständisch geprägt. Der Adel ging geschlechtsübergreifend im Rock auf hohen Schuhen und trug dabei Perücke. Die neuen bürgerlichen Werte hierarchisierten hingegen verstärkt zwischen einer zweigeschlechtlichen Normierung. Und da Schwesterlichkeit nicht Teil des Wahlspruchs der Ersten Französischen Republik war, galt es für die überlegenen Herren der Schöpfung, sich nicht zu kleiden wie der Adel und das „Weibsvolk“.

Die Röcke verschwanden allmählich von den Männerbeinen und tauchten nur noch in vor allem militärisch geprägten und – aus europäischer Sicht – folkloristischen Kontexten auf. Oder eben als geduldeter beziehungsweise unerhörter Tabubruch des Cross-Dressings. Geduldetwurden Männer in Röcken zu Unterhaltungszwecken – in Verbindung mit Travestie. Schauspieler wie Gustav Gründgens, Heinz Rühmann und Peter Alexander haben ihr Publikum in der Rolle von Charleys Tante erheitert. Tony Curtis und Jack Lemmon waren in „Manche mögen’s heiß“ nicht nur Joe und Jerry, sondern auch Josephine und Daphne. Robin Williams gab im biederen Faltenrock Mrs. Doubtfire, das stachelige Kindermädchen. Travestie war möglich, solange sie einen bestimmten Zweck in den Augen der Betrachter erfüllte: Komik.

Verachtet, verfolgt oder gar ermordet wurden Männer in Röcken, wenn sie es nicht komisch meinten, sondern ernst. Wenn sie dadurch ihrer Geschlechtsidentität Ausdruck verleihen wollten oder sich durch das Tragen sexuell stimulierten. Dann feminisierten sie sich, ohne dass ihnen hierfür die Erlaubnis erteilt wurde. Sie verließen mit der Heteronormativität den einzig gültigen Rahmen, in dem sie sich zu bewegen hatten. Sie nahmen sich heraus, nicht etwa anders für andere, sondern anders für sich selbst sein zu wollen. Rocktragen wurde in emanzipatorischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts als Cross-Dressing daher auch politisch genutzt: um sich und die Rechtsansprüche der schwulen, trans- oder intersexuellen Minderheit, der man angehört, sichtbar zu machen. Oder um sich solidarisch zu erklären. Solche und andere Formen des Protests funktionieren auch noch im neuen Jahrtausend. Denn trotz aller Fortschritte, die zweifellos in Bezug auf Geschlechtergerechtigkeit und Schutz vor Diskriminierung erreicht wurden, erregt ein Mann im Rock immer noch einiges an Aufsehen.

So protestierten 2013 fünfzehn schwedische Lokführer gegen die Bekleidungsvorschriften ihrer Arbeitgeberin. Die Tochtergesellschaft der Deutschen Bahn hatte darauf bestanden, dass ihre Angestellten lange Hosen oder Röcke tragen. Für die Männer in den heißen Sommermonaten eine Tortur. Also entschieden sie sich, zwei Wochen lang im Rock zum Dienst zu erscheinen, und erzwangen so die Möglichkeit, ihrer Arbeit in kurzen Hosen nachzugehen.

2014 gingen im französischen Nantes Dutzende Schüler in Röcken unter großer medialer Aufmerksamkeit gegen Sexismus auf die Straße. Was im Jahr zuvor noch kaum jemanden interessiert hatte, fand nun sogar Nachahmer in den USA und brachte den Betreffenden den Vorwurf der „ideologischen Verwirrung, der Travestie und des Genderismus“ ein.

2015 ließen sich zehn Männer der Verkehrsbetriebe Hannover im Rahmen einer Werbeaktion zur Erhöhung des Frauenanteils im Betrieb in Röcken ablichten. Das Motto der Kampagne lautete: „Der schönste Grund, warum Männer Röcke tragen, sind Frauen.“

Und dann gibt es auch noch mich. Im Sommer 2012 zog ich mir einen roten Rock an und spazierte darin mit meinem fünfjährigen Sohn in seine Kita. Er trug sein Lieblingskleid. Das Kleid, das er von seiner großen Schwester geerbt hatte und im Sommer so gerne trug, weil es „fliegen kann“. Das Kleid, das in Berlin-Kreuzberg niemanden wirklich interessierte, aber in der süddeutschen Provinz dazu führte, dass man ihn verächtlich anstarrte, als schwul bezeichnete und als Mädchen zu verunglimpfen versuchte. Eine Beschimpfung, die er nicht verstand, weil in seiner Welt Mädchensein etwas Großartiges war.

Passanten, krawumms

Seine Bitte um meine Unterstützung veranlasste mich dazu, seine Welt mit jener zu vergleichen, in der die meisten anderen Menschen und ich leben. Und zu entscheiden, welche die bessere ist. Wie sich herausstellte, war es eine der leichtesten Entscheidungen, die ich je zu treffen hatte. Ich zog mir also einen roten Rock an und mein Sohn war glücklich. Die Menschen hoben ihren Blick von ihm auf mich, sie tuschelten, lachten oder liefen gegen Laternenpfähle. Ich schrieb darüber einen kleinen Text für die Zeitschrift Emma, man bat um ein Bild, ich lieferte eins.

Der Rest ist mittlerweile Geschichte, die mich auch nach sechs Jahren immer noch begleitet. Denn was für mich durch die Augen meines Sohnes sehr schnell nur ein Stück Stoff war, das ich mir auf seine Nachfrage hin oder bei großer Hitze anziehe, blieb für andere ein Politikum. Ein rebellischer oder ein widernatürlicher Akt. Ein Befreiungsschlag oder ein Schlag ins Gesicht. Eine Geste, die mir umso kleiner erschien, je größer sie andere dimensionierten.

Ein Rock ist ein Rock ist ein Rock ist ein Rock. Ein Kleidungsstück, das die westliche Welt im Laufe der Zeit weiblich konnotierte und nahezu ausschließlich Frauen auf den Leib deutete. An seiner Geschichte lässt sich verdeutlichen, wie Menschen Dinge verschiedentlich mit Bedeutung aufladen und über sie miteinander kommunizieren.

Er ist aber auch ein Lehrstück in Sachen Sexismus. Denn am Rock zeigt sich, wie unterschiedlich wir Geschlecht in der Vergangenheit bewertet haben und immer noch bewerten. Wenn ein Rock tragender Mann als schwach, weibisch, schwul oder entartet bezeichnet wird – und das sind nur einige der Begriffe, mit denen man mich und viele andere belegt hat –, dann stellt dies eine doppelte Abwertung dar. Der Verächtlichmachung von einzelnen Männern über den Vorwurf der „Weiblichkeit“ liegt die Verachtung von Frauen als Gruppe zugrunde. Was sagt es über das Mädchen- und Frauenbild einer Gesellschaft aus, wenn sowohl Kinder als auch Erwachsene versuchen, einen fünfjährigen Jungen mit dem Begriff Mädchen zu beleidigen?

Irgendwann wird mit einem Rock vielleicht keine Geschlechterhierarchisierung mehr kommuniziert. Bis dahin ist es zwar noch ein weiter Weg, aber die Betriebsunfälle in der normativen Kleiderordnung häufen sich. Ein Mann im Rock, das ist nach wie vor keine Selbstverständlichkeit, aber es gerät immer mehr zu einem routineartigen Störfaktor. 1984 erklärte der Modemacher Jean Paul Gaultier den Männerrock zum Trend. Ein paar Jahre später ließ sich Schauspielerikone Brad Pitt für die Zeitschrift Vanity Fair in Jeansjacke und einem ostafrikanischen Kikoi-Wickelrock fotografieren. Wenn Rocktragen als unmännlich gilt, ist das Problem womöglich nicht der Rock, sondern unsere Vorstellung von Männlichkeit – dieser Gedanke gewinnt immer mehr an Kraft.

Männer sind rockbar. Nicht nur geschichtlich, aus Versehen oder uneigentlich. Und sie tun womöglich gut daran, wenn sie sich hin und wieder einen Rock anziehen, um gemeinsam mit den Frauen die Welt zu rocken.

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