"Natürlich kann man hier nicht leben"

Rezension Özge Inans Debütroman ist erschienen - und liefert so viel mehr als man denken könnte.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Ich bin kein Literaturwissenschaftler und muss zu meinem Leidwesen zugeben, dass ich in letzter Zeit nicht viele Bücher gelesen habe. Voriges Jahr las ich "Im Westen Nichts Neues" von Erich Maria Remarque und befand, es sei das beste Buch, das ich je gelesen habe. Die Charaktere haben eine unfassbare Tiefe, die Handlung so viele Facetten und das Hauptmotiv - der Erste Weltkrieg und seine vielen Horrorgeschichten - sind so bildlich greifbar beschrieben, wie ich es vorher noch nicht gelesen hatte.

Das Buch von Özge Inan ist dem ganz ähnlich und doch auf so viele Arten anders. Die Handlung spielt fast siebzig Jahre später, die Charaktere sind völlig anders. Und dennoch haben Selim und Hülya, Ozan, Banu und alle anderen so eine Greifbarkeit und allgemeine Tiefe - es kam mir fast so vor, als würden Hülya oder Nilay mir diese Geschichte selbst erzählen.

Wie eine Zeitreise

Wir begleiten Selim und Hülya von den 1980er-Jahren bis 2013 und erleben, wie sich der Militärputsch für jene angefühlt haben muss, die in dieser Zeit politisch aktiv waren oder - viel genereller - diese Zeit durchlebt haben. Menschen, die man vielleicht persönlich kennt oder von denen man aus der Zeitung gehört hat, werden verhaftet oder schlimmeres und man selbst muss allen möglichen Fallstricken ausweichen, die solche Umstände mit sich bringen. Ich selbst bin Jahrgang 2000, habe den Militärputsch in der Türkei also nicht miterlebt - deswegen ist es auch so wichtig, dass für ein solches Publikum die Welt, in die wir zurücktransportiert werden, so genau wie möglich wiedergegeben wird. Hier wird deutlich, dass die Autorin sich wirklich Mühe gegeben hat - wie sie auch mehrfach in Interviews und auch auf der Buchpremiere gesagt hat. "Hattet ihr schon Taschenrechner, wie sahen eure Schultaschen aus, welche Gewehre nutzte das Militär" - all das, diese vermeintlichen Kleinigkeiten, machen diese Geschichte so glaubwürdig und nahbar.

"Wie so ein Hofknecht"

Nicht nur die Haupthandlung und die vielen Details darin machen dieses Buch so sympathisch, auch die Gespräche sind wie aus dem Leben gegriffen und erscheinen den Lesenden vielleicht wie Unterhaltungen, die sie selbst erst neulich geführt haben. Das Buch ist wie ein Gespräch unter Freunden in einem Café, die sich darüber austauschen, was sie oder ihre Eltern in ihrer Jugend gemacht und erlebt haben und zu dem sich die Lesenden einfach dazugesetzt haben. Es gibt viele solcher Vergleiche, die man hier anstellen könnte und sie alle würden zutreffen.

Die Vergessenen

Özge Inan hat es bei der Buchpremiere selbst gesagt. Dieses Buch ist unter anderem auch dazu da, daran zu erinnern, dass es neben der Gastarbeitergeneration eben auch noch jene gibt und gab, die wegen der politischen Lage in der Türkei nach Deutschland geflohen sind. Hülya und Selim dabei zu begleiten war für mich beim Lesen nicht einfach. Ohne die Handlung hier offenzulegen hat es mir gezeigt, wie damals und auch heute noch mit Personen umgegangen wird, die die - nicht einfache (!) - Entscheidung getroffen haben, ihre Heimat zu verlassen.

Was bleibt

Alles in allem ist dieses Buch, um es untertrieben auszudrücken, exzellent gelungen. Durch die Recherche und die Motivation seitens der Autorin Özge Inan liefert es einen Einblick in eine Welt, die viele Deutsche wahrscheinlich entweder gar nicht oder nur am Rande erlebt haben. Ein Kampf mit sich selbst und gegen andere, der so wunderbar präsentiert wird, dass man am liebsten gar nicht mehr aufhören will zu lesen und man ein wirkliches Gefühl des Vermissens bekommt, wenn man das letzte Satzende erreicht hat. Die Geschichte von Selim, Hülya und Nilay bleibt auch weiterhin aktuell und ich habe Hoffnung, dass wir irgendwann in der Zukunft vielleicht erfahren, wie es nach dem Ende dieses Buches weitergehen könnte.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

nkl.wlm

B.A. in Geschichte und sog. "Bananenhistoriker"

nkl.wlm