Geht es dem Sexismus der Tech-Industrie jetzt an den Kragen?
Foto: der Freitag, Material: Imago Images
Mit den ersten Mikroprozessoren, dem Aufkommen der Programmiersprachen und den ersten Videospielen waren die 1970er Jahre die Geburtsjahre des modernen Computerzeitalters. Die technologische Entwicklung machte in den 1980er Jahren einen Quantensprung: Pioniergeist und Aufbruchstimmung allerorten. Nur die IT-Sparte ist von Beginn an cis-männlich dominiert. „Das bis heute anhaltende Ungleichgewicht, das wir derzeit etwa in der Gaming-Industrie sehen, geht zurück auf die Anfänge der IT-Industrie“, meint Kate Edwards. Lange Jahre war sie Direktorin der International Game Developers Association, einem weltweiten Berufsverband für mehr als 10.000 Computerspieleentwickler*innen. „Damals waren Tech-Jobs extrem männlich dominiert – was kulturelle Gr&
Gründe hatte und auch mit den Ausbildungsmöglichkeiten zusammenhing“, so Edwards. Gender-Vorurteile hätten in der Industrie eine lange Tradition. „Erst jetzt sehen wir eine langsame Veränderung“, meint Edwards.Gerüttelt wurde an diesem System aber bereits damals. Die neuen Möglichkeiten des Cyberspace wurden zum Verheißungsraum verschiedenster Gruppen und Interessen. Und so männlich dominiert die IT-Branche auch war – es formierte sich bald eine feministische Gegenbewegung: Der Cyberfeminismus. Erste Ansätze dieser Bewegung entstanden bereits in den 1970er Jahren. Mit Shulamith Firestones The Dialectic of Sex. The Case for Feminist Revolution erschien 1970 ein Meilenstein feministischer Literatur, der auch den Cyberfeminismus entscheidend prägte. In Firestones Buch geht es um die Möglichkeit, wie Technologie dazu genutzt werden kann, Frauen aus dem patriarchalen Würgegriff zu befreien.„Wir sind die Moderne, Fotze“Der Durchbruch kam aber erst 1985 mit Donna Haraway. „Vor allem ihr Essay A Manifesto for Cyborgs war das, worauf sich die frühen Gründer*innen des Cyberfeminismus stützten“, erzählt Sandy Stone, die selbst eine Größe der Bewegung ist und als eine*r der Gründer*innen der Transgender Studies gilt. In ihrem Essay stellt Haraway den grenzüberschreitenden Charakter von Cyborgs heraus, die nicht an genderkulturelle Vorurteile gebunden sind und damit die öffentliche wie private Sphäre transzendieren könnten. Technologie biete die Möglichkeit, die Dualismen, die viele Gesellschaften grundsätzlich beherrschen und alles Denken und Handeln in ihnen beeinflussen, aufzubrechen – etwa tradierte Dualismen wie Natur-Kultur, Mensch-Tier, männlich-weiblich oder richtig-falsch. Das grenzüberschreitende Potenzial der sich verbreitenden Netztechnologie führt zu einem Boom des Cyberfeminismus in den 1990er Jahren.Während man in den USA und Großbritannien von der dritten Welle des Feminismus spricht, verbreitet sich in Deutschland der Begriff vom Netzfeminismus. Das australische Künstler*innenkollektiv VNS Matrix ist eines der ersten, die den Begriff Cyberfeminismus prägen. 1991 schreiben sie das Cyberfeminist Manifesto. Darin heißt es: „Wir sind die Moderne, Fotze, positiv gegen Vernunft. Ungebunden, entfesselt, erbarmungslos.“ Und weiter: „Die Klitoris ist eine direkte Verbindung zur Matrix.“ 1997 findet die erste „Cyberfeminist International“-Versammlung in Kassel statt. 37 Frauen aus zwölf Ländern nehmen teil. Organisiert wird das Ganze vom Old Boys Network, der ersten internationalen cyberfeministischen Organisation.Man lehnt es ausdrücklich ab, sich auf einen Nenner festzulegen, was Cyberfeminismus denn nun genau sei. Stattdessen werdendie 100 Anti-Thesen des Cyberfeminismus formuliert. Die Uneinheitlichkeit und die Vielfalt der Bewegung werden als Stärke begriffen. „Zu Beginn diente der Begriff Cyberfeminismus vor allem dazu, feministische Ausdrucksformen, die online stattfanden, von denen im realen Leben zu trennen“, erzählt Amy Richards, eine der Aktivistinnen, die die Bewegung entscheidend mitprägten. „Als das Internet mehr und mehr zum Ort wurde, an dem sich unsere Leben abspielen, hat sich der Begriff geändert und meint jetzt allen Feminismus, der im digitalen Raum stattfindet.“Was Cyberfeminismus genau ist, hängt auch davon ab, wen man in der Szene fragt. Die Medientheoretikerin Sandy Stone denkt, dass es mindestens drei Perspektiven dazu gibt: „Die eine ist politisch: Frauen haben aufgrund ihrer langen Historie der Unterdrückung weniger Zugang zur Technologie. Das gilt noch mal in verschärfter Form für nichtweiße Menschen, Menschen aus der Unterschicht, Menschen mit körperlicher oder geistiger Behinderung, Analphabet*innen, Menschen aus der LGBTQ+-Community und so weiter.“Hier wolle der Cyberfeminismus helfen, diese Nachteile auszugleichen. Also einen besseren und gerechteren Zugang zur Technologie schaffen und das technologische Wissen und die Fähigkeiten dieser Personen fördern. Es gebe aber auch die philosophische Perspektive, so Stone. Hier folgten manche Strömungen etwa der Ansicht, dass bestimmte Merkmale, die kulturell gesehen oft einer Weiblichkeit zugeordnet werden – also zum Beispiel die Fähigkeit zum Vernetzen, zu Aufbau und Pflege einer Gemeinschaft –, im technologischen Kontext gewinnbringend genutzt werden könnten. „Wenn Frauen als natürliche Networker*innen begriffen werden, dann sind sie von Natur aus besser dazu befähigt, online zu sein.“ Andere philosophische Strömungen des Cyberfeminismus brechen dagegen gänzlich mit dieser Vorstellung und verstehen Männlichkeit und Weiblichkeit als sozial konstruierte Begriffe, die es via Netzkultur aufzubrechen gilt. „Es gibt die Ansicht, dass die Fähigkeit, Technologie lesen zu können, zwar wertvoll ist, aber nur ein Aspekt ist in dem Ringen um Machtasymmetrien, die sehr viel tiefer gehen“, sagt Stone. Diese Perspektive liege ihr am nächsten.Zu weiß, zu elitärLaut Stone ist „der*die Cyberfeminist*in dabei immer in einem Prozess begriffen, weil der Kampf ja kein Ende hat“. Und genau darum gehe es auch: sich finalen Erklärungen und Definitionen zu verweigern, das Ungewisse und Vorübergehende zu betonen und sichtbar zu machen, dass Perspektiven eben immer nur das sind: Momentaufnahmen, erklärt Stone.Mit dem Beginn des neuen Jahrtausends verliert der Cyberfeminismus an Schwung. Vielleicht liegt es an der bewussten Weigerung, die Bewegung über einen gemeinsamen Nenner zu bündeln. Vor allem aber läutet die im Jahr 2000 geplatzte Dotcom-Blase das Ende der allgemeinen Aufbruchsstimmung ein. Der Traum von der digitalen Utopie liegt erst einmal in Trümmern. Die nachfolgenden Jahre zeigen einen Rückgang cyberfeministischer Publikationen. In Cyberfeminism 2.0 von 2012 attestieren die Autor*innen dem Cyberfeminismus des neuen Jahrhunderts aber bei Weitem nicht den Untergang, sondern eine Richtungsänderung. Oder viele verschiedene. Der Fokus liege nun auf den unterschiedlichen Aspekten weiblicher Online-Teilhabe – von feministischen Blogs bis hin zu Frauen in Gaming-Communities.Aber der Boom der 1990er Jahre ist vorbei, das Ende des Narrativs von der Netzutopie setzt auch dem Cyberfeminismus zu. Zu utopisch sei die Vision des feministischen Raums im Internet. Zu elitär, zu weiß, zu wenig intersektional, sind die Kritikpunkte. Gerade zu Beginn der Bewegung in den 1990er Jahren sei die Bewegung kaum zu trennen gewesen von einer Hautevolee mit sozioökonomischen Privilegien. Die Aktivistin Annapurna Mamipudi schreibt schon 1999: „Lasst arme Frauen Zugang zum Internet haben, so wie auch wir ihn haben – wie zu Schokoladenkuchen oder AIDS.“ Sandy Stone kann das nur bestätigen: „Es sollte nicht vergessen werden, dass Cyberfeminismus in einem weißen, anglophonen Mittelklasse-Kontext entstanden ist.“ Und sie sieht ein weiteres Problem: „Wir sind heute mit ganz neuen Themen konfrontiert. So wie Falschinformationen, die durch Social Media noch mehr Aufwind bekommen haben.“Das wären auch die Stolpersteine für den heutigen Cyberfeminismus. „Es ist viel schwieriger, Netzwerke aufzubauen und Menschen dazu zu bringen, wie ich immer sage, in dieselbe Richtung zu rudern, wenn übelmeinende Personen und Trolle das so einfach sprengen können.“ Auch wenn der ganz große Boom vorbei ist – der Cyberfeminismus ist weiterhin präsent, meint Amy Richards, Aktivistin der ersten Stunde. „Er hat sich weiterentwickelt. Von einer Kritikinstanz zu gelebten Handlungen. Heute sind viel mehr Frauen in der Tech-Industrie.“Tot sei der Cyberfeminismus ganz und gar nicht, sagt die Künstlerin Virginia Barratt von VNS Matrix: „Es ist jetzt mehr als 30 Jahre her, seit wir das Manifesto geschrieben haben, und Menschen entdecken das immer noch mit Überraschung und Freude, als hätten wir es erst gestern geschrieben. Als wäre es ein Fixpunkt, von dem aus sie ihre ganz eigene Entdeckungsreise in die Frage nach Identitäten und Brüchen mit der herrschenden symbolischen Ordnung starten können.“ Es gibt also gute Gründe, optimistisch in die Zukunft zu blicken. Auch weil der der Tech-Kultur inhärente Sexismus zunehmend aufgearbeitet wird – das haben zuletzt die weitreichenden Klagen gegen führende Games-Konzerne wie Riot Games bewiesen. Aber „der Kampf ist ein Prozess ohne Ende“, wie Sandy Stone betont. Amy Richards schließt sich an: „Auch wenn Frauen große Schritte in Richtung Teilhabe in den Cyberwelten gemacht haben – der Hass ist noch stark. Die Herausforderung bleibt also, Frauen gänzlich zu integrieren und zu respektieren.“
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