Blaues statt Graues

Portät Grit Hallal war Ökonomie-Studentin in der DDR, dann Beamtin in der BRD. Heute hilft sie Leuten bei der Suche nach Jobs mit Sinn
Ausgabe 11/2017
„Die Leute erzählen mir schon lange ihre Probleme“, sagt Grit Hallal
„Die Leute erzählen mir schon lange ihre Probleme“, sagt Grit Hallal

Foto: Lia Darjes für der Freitag

Und dann beginnen sie doch zu zittern. Mike Schröer* liegt mit dem Rücken auf einer grünen Yogamatte und hält die Beine im Winkel aufgestellt. Eigentlich hat er nicht geglaubt, dass seine Beine von selbst zu zittern anfangen. „Unser Körper weiß genau, was zu tun ist“, sagt Grit Hallal, die neben Schröer aufrecht an der Wand lehnt und selbst mit den Beinen wippt. „Das lässt sich bei Tieren beobachten. Wird eine Gazelle von einem Löwen gejagt und entkommt diesem, zittert sie sich nach der Verfolgungsjagd den Stress einfach ab und dann geht das Leben für sie weiter.“

* Name geändert

Grit Hallal arbeitet mit ungewöhnlichen Methoden, um ihre Klienten – sie selbst nennt sie „Coachees“ – in ein mit Sinn erfülltes Berufsleben zu führen. Die 52-jährige Hallal ist Mitgründerin des Vereins „LernSINN erlebBAR“. Zu ihr kommen Menschen, die arbeitssuchend sind, die Beratung für eine angehende Selbstständigkeit brauchen oder denen die Erfüllung in ihrem aktuellen Beruf fehlt. So wie Mike Schröer, der viele Jahre Leiter eines Restaurants war, in diesem Job aber nicht mehr glücklich ist. In einem großen Raum bei „LernSINN“ in Berlin-Charlottenburg liegen neben Schröer sieben weitere Menschen auf ihren Yogamatten und üben „heilsames Zittern“, um Stress abzubauen. An diesem Tag findet kein gewöhnliches Coaching statt. Grit Hallal bildet die Teilnehmer selbst zu Coaches aus und erklärt ihnen, wie sie aus Klienten herauskitzelt, was diese wirklich bewegt. Hallal fragt nach Visionen und Werten. Das hat sie sich aus der Marketing- und Kommunikationstheorie abgeschaut. Hallals Ansatz: So wie ein Unternehmen sich als Marke aufbauen kann, so kann das auch ein Mensch tun. Es müsse aber „authentisch“ sein.

Fähig zur Freiheit

Als die Körperarbeit beendet ist, schickt Hallal den Probanden Schröer auf eine Traumreise. Er hat die Augen geschlossen, während Hallal ihn in einen meditativen Zustand versetzt. In Kurzform erzählt sie ihm Folgendes: Er steht in einem wunderschönen Garten und dann kommt ein Bote vorbei. „Was hat er dir überbracht?“, fragt Hallal, als Schröer die Augen wieder geöffnet hat. „Ich soll Liebe geben“, antwortet der. Hallal übersetzt: „Du willst dazu beitragen, dass Menschen in deinem Umfeld glücklich sind.“

Danach erarbeiten sie gemeinsam, welche Fähigkeiten Schröer mitbringt, um seine Berufung verwirklichen zu können. Schröer hat zum Beispiel Spaß daran, Pläne zu machen. Auffällig ist, dass Hallal nur Fragen stellt. „Ich will die Leute in ihren Gedanken anstoßen. Die Antworten müssen sie selbst finden“, wird sie später erklären. Und dann nennt Schröer noch Werte, die ihm wichtig sind. Freiheit zum Beispiel. Das deutet Hallal so, dass Schröer selbstbestimmt arbeiten möchte. Aus früheren Sitzungen weiß Hallal, dass Schröer im Team gerne die Rolle des Organisators übernimmt. In der nächsten Sitzung sollen sich die Auszubildenden überlegen, für welches Unternehmen Schröer mit seinen Fähigkeiten geeignet sein könnte.

„Wenn wir in einem Beruf landen, in dem wir unsere Begabungen nicht nutzen können, werden wir nicht nur unglücklich. Auch Unternehmen verlieren viel Geld, denn wir gehen dem Beruf nicht mit Liebe nach. Er kostet uns viel Energie“, sagt Hallal, als sie nach der Ausbildungseinheit an ihrem Schreibtisch im Büro von „LernSINN “ sitzt. Sie trägt ein blaues Gewand, wie man es bei Frauen in Indien sieht. Hallal war zwar noch nie in Indien. Aber sie mag die Farben sehr. „In Deutschland ist immer alles schwarz oder grau. Und Krawatten erst! Sie schränken die Menschen ein“, sagt Hallal.

Sie selbst hat viele verschiedene Berufe ausprobiert. Mal kellnerte sie, mal war sie Inhaberin eines Gemüsestands. Sie arbeite bei der Agentur für Arbeit und für das Bundeszollamt. Doch dazu später.

Wie weiter mit der Weiterbildung?

Aktivierend statt aktiv – mit der Agenda 2010 hat die Arbeitsmarktpolitik einen Paradigmenwechsel durchlaufen: schnelle Trainingsmaßnahmen zur fixen Vermittlung in Jobs statt berufliche Weiterbildung mit dem Ziel des Erwerbs von Abschlüssen, eine Reduktion öffentlicher Ausgaben, die strengere Reglementierung der Träger und der Erwerbsfähigen durch die Vergabe von Bildungsgutscheinen.

Ein kritisches Fazit dieser Neuausrichtung zieht die Mitte Februar vorgelegte Studie Qualitätsoffensive Weiterbildung in Deutschland der Hans-Böckler-Stiftung. So prüften etwa Jobcenter und Agentur für Arbeit Bildungsträger sehr viel mehr nach quantitativen Kriterien wie Wirtschaftlichkeit, dagegen würden qualitative Gesichtspunkte wie integrierte Lern- und Sprachförderung oft vernachlässigt. Zudem orientierten sich die Angebote „weniger an den Interessenlagen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und mehr an abstrakten Wirtschaftlichkeits- und Arbeitsmarktgesichtspunkten“. Und: Wer Förderung am dringendsten braucht, kommt oft zu kurz.

Von den circa 1,3 Millionen ungelernten Arbeitslosen etwa beginnen pro Jahr nur 50.000 eine Fortbildung mit dem Ziel, einen beruflichen Abschluss zu erhalten. Viele aus dieser Personengruppe ergreifen dann prekäre Helferjobs, obwohl sich eine Weiterbildung sehr viel mehr auszahlen würde. Ihnen oder auch den vielen prekären Solo-Selbstständigen müsse der Staat stärker helfen bei der Weiterbildung. Sebastian Puschner

Grit Hallal, geborene Rößiger, ist die Tochter eines Volkswirts und einer Krankenschwester. Sie wuchs in der DDR auf, in Potsdam. Der Vater war dort Wirtschaftsrat. „Doch er hat immer darauf geachtet, dass ich seine Beziehungen nicht ausnutze“, sagt Hallal. Das Klima zu Hause war streng. Über Gefühle wurde nicht gesprochen, denn das hatten die Eltern – Nachkriegsgeneration – selbst nie gelernt. Da empfand Hallal es fast als Befreiungsschlag, als sie mit 19 Jahren zum Studium der Betriebs- und Volkswirtschaft an die Handelshochschule in Leipzig durfte. Im Gedächtnis geblieben ist ihr das Seminar „Sozialistische Arbeitswissenschaften“. „Da wurde uns eingetrichtert, dass wir stets den Gegenspieler im Unternehmen finden sollten. Also den Feind“, lacht Hallal. So kam sie erstmals in Kontakt mit den Themen Beruf und Führung. In Leipzig lernte Hallal einen Studenten aus dem Libanon kennen, der später ihr Ehemann werden sollte und dessen Nachnamen sie bis heute trägt, obwohl die beiden seit vielen Jahren geschieden sind.

Nach Ende des Studiums ging ihr damaliger Freund zunächst zurück in den Libanon. Hallal arbeitete für drei Jahre beim staatlichen Unternehmen für Ladenetzplanung. Danach brauchte sie eine radikale Veränderung. Und begann als Kellnerin in der Berliner Kneipe „Niquét-Klause“, damals ein Treffpunkt von Journalisten der Tageszeitung Der Morgen. „Da lag so eine Stimmung in der Luft. Wir dachten, wir könnten jetzt gestalten und die wahren Thesen des Sozialismus umsetzen“, erzählt Hallal. Dann kam die Wende. Für Hallal anfangs ein Schock. „Wir sind nach Westberlin gefahren und haben all die DDR-Bürger gesehen. Wie sie in die Läden gestürmt sind. Da habe ich mich in Grund und Boden geschämt“, erinnert Hallal sich. Spätestens seit dieser Erfahrung ist sie Konsum gegenüber kritisch eingestellt. Mit der Wende kam auch Hallals Freund aus dem Libanon zurück nach Berlin. Mutter Rößiger drängte zur Hochzeit. Die sollte bitte noch vor der Währungsunion stattfinden, das wäre günstiger. „Ich wollte eigentlich gar nicht heiraten“, erzählt Hallal. Sie wehrte sich allerdings nicht. 1991 wurde ihr Sohn geboren. Hallal blieb einige Zeit zu Hause. Doch allein Hausfrau zu sein, das war nichts für sie.

1996 fing sie bei der Agentur für Arbeit in Berlin-Mitte an. Die Aufgabe: illegale Arbeiter auf der Baustelle aufspüren. Die Tätigkeit missfiel ihr. „Es war immer der Arbeiter, der abgeschoben wurde. Der deutsche Unternehmer dahinter wurde nicht so konsequent zur Rechenschaft gezogen. Da gab es so viele Lücken im Gesetz“, erzählt Hallal. Sie suchte das Gespräch mit den Staatsanwälten, die sich mitunter kooperativ zeigten. Bei ihrem Arbeitgeber stieß sie mit ihrer Kritik aber auf taube Ohren. Als Ausgleich zu ihrem Job absolvierte Hallal zusätzlich eine Ausbildung zur Seelsorgerin. „Die Leute kamen damals schon zu mir und erzählten mir von ihren Problemen. Ich fand die richtigen Worte.“ Die Wochenenden verbrachte sie in Schichten von jeweils sechs Stunden am Telefon und hörte den Menschen zu – vom Kind, das Angst vor der Schule hatte, bis zum Erwachsenen, der einen Suizidversuch hinter sich hatte. 2003 wurde Hallal zur Bundeszollverwaltung versetzt, in die Abteilung, die sich mit illegaler Beschäftigung befasste. Auch hier galt Hallal schnell als Störenfried, sie hielt es nur noch bis 2009 aus, gab dann die Urkunde zurück, die sie eigentlich zur Beamtin auf Lebenszeit machte. Wegen der Kündigung hatte Hallal keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld. Doch sie wagte den Sprung ins kalte Wasser: die Selbstständigkeit.

Die Idee, Menschen anzuleiten, die unglücklich in ihrem Job sind oder überhaupt den richtigen für sich finden müssen, kam ihr durch ihren Sohn. Der langweilte sich mit zunehmendem Alter in der Schule zu Tode. Der Frontalunterricht habe ihm seinen Forschungsdrang genommen. „Die Kinder werden in unserem Bildungssystem zu absoluten Konsumenten erzogen. Da bleibt kaum Raum, sich selbst zu entdecken. Auch die berufliche Orientierung beginnt viel zu spät“, empört sich Hallal. Viele Kinder haben ihrer Meinung nach keine Ahnung, was es abseits der üblichen Berufe Arzt, Anwalt oder Koch noch alles gibt.

Hallal absolvierte weitere Ausbildungen, unter anderem in professioneller Stressbewältigung. Mit dem Verein „LernSINN erlebBAR“ startete sie zusammen mit weiteren Coaches 2013, damals noch in der Thinkfarm Berlin, einem sozial-ökologischen Co-Working Space im Bezirk Kreuzberg. Schnell war die Nachfrage so groß, dass Hallal und ihr Team in größere Räumlichkeiten umziehen mussten. Zuerst in den Wedding, nun sitzen sie in Charlottenburg.

Zehn feste Coaches arbeiten mittlerweile bei „LernSINN“. Hallal selbst absolviert zwischen sechs bis acht Coaching-Einheiten pro Tag und arbeitet oft am Wochenende. „Aber es fühlt sich kaum nach Arbeit an, weil ich das Richtige für mich gefunden habe“, sagt Hallal. Zwischendurch greift sie in eine Schale mit kleinen, geraspelten Kakaoschalen, die sie aus dem Bioladen hat. „Die geben viel mehr Energie als herkömmliche Schokolade“, sagt sie.

Seine „Coachees“ bekommt „LernSINN“ zu 90 Prozent von der Agentur für Arbeit. Diese übernimmt die Kosten der Beratung. In der Regel sind die Suchenden zwischen 20 und 60 Jahre alt. Der Verein nimmt aber nicht jeden an. „Die Leute müssen offen für unsere Methoden sein. Und sie müssen eben den Sinn hinter ihrer Arbeit finden wollen“, sagt Hallal. Sie habe schon Leute nach Hause geschickt, die explizit formuliert hätten, einen Job ausschließlich wegen des Geldes machen zu wollen.

Esoterische Ecke

Warum arbeitet sie mit so ungewöhnlichen Methoden wie dem „heilsamen Zittern“? Hallal lacht. „Da werden wir oft in die esoterische Ecke gesteckt. Aber das sind uralte Heilmethoden, die uns dabei helfen, unsere Natürlichkeit freizulegen.“ Und nur im diesem Zustand würden wir überhaupt erkennen können, mit welchen Gaben wir ausgestattet seien. Zudem hänge im Körper alles zusammen. Emotionale Blockaden wirkten sich sehr schnell auf die berufliche Situation aus und anders herum. Deswegen fragt Hallal in ihren Coachings auch sehr persönliche Dinge ab und es gibt öfter Tränen im Gespräch. „Wir sind aber keine Psychiater“, betont sie.

Gerade hat der Verein eine neue Crowdfunding-Kampagne aufgesetzt. Die Spendengelder sollen ermöglichen, dass „Coachees“ und geeignete Unternehmen über eine eigens entwickelte Datenbank zusammenfinden, das Ganze möglichst kostenlos. Geeignete Unternehmen sind in diesem Fall solche, die den Prinzipen der Gemeinwohlökonomie folgen, also klar nach ethischen Kriterien wirtschaften.

Hallal sieht sich als Botschafterin der Gemeinwohlökonomie und spricht darüber oft in Vorträgen. Langfristig möchte sie sich aus dem eigentlichen Coaching zurückziehen, um noch mehr neue Projekte direkt in Unternehmen zu planen. Schafft sie das bei all den Terminen? „Bestimmt“, sagt Hallal und schaut auf die Uhr. Der nächste Coaching-Termin soll just in diesem Moment beginnen.

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