Blaupause Kollektivschuld

"AUFARBEITUNG DER VERGANGENHEIT" AUF DEM BALKAN? Serbien im Jahr 1999 kann man nicht mit Deutschland nach 1945 vergleichen

Kriegsschuld wird auf zweierlei Art zugemessen: innergesellschaftlich und international. Am Ersten Weltkrieg waren verschiedene nationale Akteure schuld, zum Beispiel, wenn auch in unterschiedlichem Maße, Deutschland mit seinem Größenwahn und Frankreich mit seinem Revanchismus. Man könnte den Nationen ein prozentuales Quantum Schuld zuteilen. Da es niemanden gibt, der über den Nationen stünde, findet die Verteilung von Schuld eben aus nationaler Perspektive statt. Die einzelnen Nationen sind aber natürlich parteiisch. Gut, der Kaiser war vielleicht nicht immer geschickt, aber Schuld war der französische Erbfeind; so etwa hörte es sich in Kreisen des deutschen Bürgertums noch lange Zeit an. Aus dieser, der internationalen Weise der Zumessung stammt das Konzept von der Kollektivschuld. Innerhalb einer Gesellschaft ist die Frage, wie hoch das nationale Quantum Kriegsschuld ausfällt, eigentlich uninteressant: Die Kriegstreiber im eigenen Lande haben im Rahmen der nationalen Möglichkeiten das jeweils Schlechteste getan und werden entsprechend verachtet. Dass es draußen in der Welt noch Stärkere und Bösere gegeben hat, gereicht ihnen nicht zur Ehre.

Die Trennung der beiden Arten, wie Kriegsschuld zugemessen wird, ist aber nur idealtypisch; in der Wirklichkeit lenkt die eine von der anderen ab. Solange kriegführende Nationen ineinander verkeilt sind, findet eine innergesellschaftliche Aufarbeitung nicht statt; man kann immer auf den anderen deuten, und wer es nicht tut, ist ein nationaler Verräter. Das ändert sich nach Revolutionen. Der Teil der deutschen Gesellschaft, der die Novemberrevolution mitgetragen hatte, konnte der Frage, welche Nation am meisten Schuld am Ersten Weltkrieg getragen hatte, vergleichsweise entspannt entgegen treten. Man wusste, was man vom Kaiser, den Junkern oder von Ludendorff zu halten hatte. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die deutsche Kriegsschuld so sonnenklar und übermächtig, dass die Auseinandersetzung in Deutschland sofort begann. In den Opfernationen, die ja auch ihre Verbrecher und Kollaborateure gehabt hatten, dauerte es manchmal Jahrzehnte. Kleine Nationen neigen dazu, sich aus Prinzip für unschuldig zu halten. Sie sind ja so arm und klein.

Die Auseinandersetzung mit Kriegsschuld war im Vielvölkerstaat Jugoslawien von besonderer Art. Eine jugoslawische Nation, die sich nach 1945 mit der Frage der eigenen Schuld hätte beschäftigen können, hat es nie gegeben, und die einzelnen Nationen, die im Krieg gegen einander gekämpft hatten, waren nachher keine autonomen Subjekte. Unter dem falschen Etikett der Vergangenheitsbewältigung fand ein Stück des ewigen Verteilungskampfes statt, der die Geschichte Jugoslawiens durchzieht. Man unterschied natürlich Arbeiterklasse und Bourgeoisie, Faschisten und Sozialisten, zählte aber gleichzeitig minuziös, wie viele Serben und wie viele Kroaten bei den Partisanen gewesen waren. Die Deutschen wurden überhaupt vertrieben. So wurde deutlich, dass das "gemeinsame Haus" Jugoslawien im Parterre einen Vermieter wohnen hatte, der die Hausordnung überwachte und Mietverträge auch kündigen konnte. Die Völker waren eben nicht auf Gedeih und Verderb zum Zusammenleben verdammt, wie etwa die Italiener oder Franzosen unter einander. Sie bildeten zusammen also keine Nation. Statt einer innergesellschaftlichen Auseinandersetzung fand eine "internationale" Verteilung kollektiver Schuld im innerstaatlichen Rahmen statt. Die Helden waren die Montenegriner und die Slowenen, und die Schurken, nach den jugoslawischen Deutschen, die Kroaten und die Albaner. Bei den Serben fiel die Bilanz zwiespältig aus. Eine Nation, die sich wirklich mit ihren eigenen Kriegsverbrechern auseinandergesetzt hätte, hätte sofort Punkte im innerstaatlichen Verteilungskampf verloren. In diesem vertrackten Verhältnis liegt ein nicht zu unterschätzender Impuls für die Kriege der neunziger Jahre. Franjo Tudjman wurde über Jasenovac zum Dissidenten. Er erforschte nicht wirklich, wie viele Menschen dort umgekommen sind, sondern wies nur nach, dass die anderen, die die Zahl von 700.000 in die Welt gesetzt hatten, das auch nicht getan hatten. In dem ständigen Verteilungskampf, der auf materiellem, politischen und ideologischem Gebiet geführt wurde, entstanden die Subjekte der jugoslawischen Auflösungskriege. Sie stritten weiter, diesmal um Territorium. Jetzt, da die Zeit der Kriege zu Ende geht, führen sie ihren letzten Verteilungskampf: den um die Kriegsschuld.

Obwohl sich in Serbien vielleicht einige an die nationale Brust klopfen: eine innergesellschaftliche Auseinandersetzung um Kriegsschuld hat dort noch nicht begonnen. Die Mehrheit verhält sich nach den Regeln des andauernden Verteilungskampfes und beklagt die eigenen Opfer, während sie die der anderen Seite verharmlost. Einige, die "besseren Serben", haben das nationale Subjekt "Serbien" noch gar nicht für sich akzeptiert. Sie sind noch immer Jugoslawen oder heimatlos. Ob und in welcher Form es "Jugoslawien" oder "Serbien" in fünf Jahren geben wird, kann niemand sagen; das Kosovo, das gestern noch dazu gehörte, steht heute schon im nationalen Niemandsland, die Montenegriner machen ihre eigene Nation auf. Wer hier mit Vergangenheitsaufarbeitung beginnen wollte, müsste erst einmal ein Wir sprechen, das dann wohl nur die Serben meinen würde. Soll man das wirklich von irgend jemandem erwarten? Serben in der Vojvodina bemühen sich zur Zeit gerade um ein anderes Wir, das auch die dort lebenden Ungarn, Kroaten und Rumänen umfasst. Wie immer das neue Wir sich konstituiert, es wird die serbischen Verbrechen der neunziger Jahre als Teil seiner Identität zu akzeptieren haben. Aber müssen die in Serbien lebenden Menschen wirklich die Identität annehmen, die Milosevic und Vojislav Seselj ihnen geben wollen?

Die Schuld an den Kriegen der neunziger Jahre liegt bei weitem nicht so eindeutig bei den Serben, wie die des Zweiten Weltkriegs bei den Deutschen lag. Dieser ist für viele deutsche Zeitgenossen zu einer Art Blaupause für alle späteren Kriege geworden, die den Blick auf sie verfälscht. Auch in Jugoslawien sieht man neue "Nazis" am Werk und neue "Juden" als Opfer; wie wenig das zutrifft, wird schon durch die Tatsache illustriert, dass manche Deutsche die Serben und manche die Kroaten oder die Albaner für die neuen Nazis halten. Wer die Kriege verstehen will, sollte das nationale Muster für einen Moment ganz vergessen und sich eine kommunistisch geführte Gesellschaft im Übergang ansehen, deren Eliten, durchaus einträchtig, nach einer neuen Rechtfertigung suchen. Dann gleicht Jugoslawien viel mehr Russland oder Rumänien heute als Deutschland damals. Die Geschichte wird allerdings doch als Ringen der Völker geschrieben werden, eben weil einzelne, sich selbst genügende Nationen das Ergebnis der Kriege sind; Nationen sind darauf angewiesen, sich in die Geschichte zu projizieren.

Der Prozess hat schon begonnen, und zwar in Kroatien, das einen Schritt weiter ist als Serbien. Vier Jahre nach dem Krieg beginnen die Kroaten, sich nicht mehr als Partei in einem interethnischen Streit, sondern als Staatsvolk zu fühlen. Nach dem Tode Tudjmans steht die erste politische Wende bevor. Lange Zeit haben die Kroaten bei Vorwürfen an ihre Adresse ausschließlich auf die Serben gezeigt, die an allem Übel schuld sein sollten. Das wird immer schwieriger: Die meisten, die im Lande lebten, sind vertrieben, und die in Serbien und Bosnien machen keine Anstalten, Kroatien zu bedrohen oder zu behindern. Damit ist auch der Zeitpunkt für eine Vergangenheitsaufarbeitung gekommen. Im Herbst ist der Strafprozess gegen den Lagerleiter von Jasenovac, Dinko Sakic, in Zagreb zu Ende gegangen. Das Verfahren hatte eine kathartische Wirkung; zum ersten Mal wurde den Kroaten unausweichlich vor Augen geführt, dass die Verbrechen ihrer Landsleute nicht bloß serbische Erfindung sind. Noch vor einem Jahr war eine große Mehrheit der Kroaten überzeugt, dass die eigene Seite im "Vaterländischen Krieg" des Jahres 1991 schon per definitionem keine Kriegsverbrechen begehen konnte, da man sich ja nur gegen die "serbische Aggression" verteidigt habe. Heute ist die Öffentlichkeit über die Zusammenarbeit mit dem Haager Gerichtshof gespalten. Immer mehr Kroaten verstehen, dass es in ihrem eigenen Interesse liegt, wenn es den Kriegsverbrechern und -profiteuren an den Kragen geht. Es ist ein paradoxer Vorgang: Erst seit das Unternehmen der Verselbstständigung Kroatiens gelungen ist, kann es kritisch betrachtet werden, und seine Aufarbeitung selber führt Kroatien ein großes Stück weiter auf dem Weg zur autonomen Nation. Wer die Unabhängigkeit des Landes noch nicht akzeptiert hat, kann dabei schlecht mittun.

Mit Demokratie hat der Fortschritt in der Vergangenheitsaufarbeitung entgegen einer verbreiteten Auffassung weniger zu tun. In Slowenien, wo die Demokratie viel weiter entwickelt ist als in Kroatien, ist der Mythos vom glorreichen Befreiungskrieg intakt. Die zwei Millionen Slowenen, von viel größeren Völkern umgeben, sind sich sicher, dass sie immer nur als Opfer in die Geschichte treten können. Der Krieg dauerte auch nur zehn Tage und forderte ein Hundertstel an Toten wie der Krieg in Kroatien; da ist soviel Schuld nicht zu verteilen. Wenn spätere Generationen herausfinden, dass die Todesopfer meistens hilflose jugoslawische Rekruten waren, die von marodierenden, häufig betrunkenen Befreiern umgebracht wurden, wird das Sloweniens nationales Selbstbewusstsein nicht weiter erschüttern. Mazedonien war am Krieg nicht beteiligt, braucht sich folglich auch keine Schuld zuzumessen. Bosnien besteht politisch und erst recht in seinem historischen Bewusstsein aus drei Teilen; eine "bosnische" Vergangenheitsbewältigung wird es voraussichtlich nie geben. Die Kosovo-Albaner sind - trotz UCK und vielen, vielen Nationalfahnen - noch weit davon entfernt, ein nationales Subjekt zu werden; die Todfeindschaft ihrer Anführer und die familiären Strukturen in Politik und Bandenwesen sprechen dafür. Für die Serben schließlich muss der Krieg erst vorbei sein, bevor er bewältigt werden kann.

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