Serbien Die neue Regierung aus Nationalisten und Sozialisten hat wegen der Wirtschaftsmisere kaum Spielraum. Da käme ihr ein wenig Trouble mit der EU gelegen
Dank Premier Dačić verlieren die Sozialisten das Stigma der politischen Ächtung
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Die Geister der Vergangenheit, könnte man meinen, sind alle wieder versammelt. Der neue serbische Premier Ivica Dačić war einst Slobodan Miloševićs Regierungssprecher, der neue Präsident Tomislav Nikolić zur gleichen Zeit stellvertretender Ministerpräsident. Wenn Nikolić seinerzeit an seinem Chef etwas auszusetzen hatte, dann höchstens, dass der nicht klar genug für ein großes Serbien eintrat. Die Geheimdienste des Landes werden fortan von dem Mann kontrolliert, der in den neunziger Jahren die anfangs eher milde Milošević-Diktatur mit Angriffen gegen Journalisten auf weißrussisches Niveau brachte. Aber wer nach Kontinuität in der Politik oder der Ideologie sucht, geht in die Irre. Schon Milošević und
nd die Mächtigen seiner Ära hatten keinen Geist und keinen Plan. Sie haben immer nur reagiert und ihre Hilflosigkeit mit starken Sprüchen bemäntelt. Die Erben werden es genauso tun. Und das ist leider kein Trost.Die Sprüche sind noch nicht wieder so stark wie einst. Aber schon jetzt verspricht die neue Exekutive in Belgrad womöglich mehr, als sie liefern kann. Erstes Ziel von Premier Dačić, der als Sozialist eine Koalition aus der Fortschrittspartei (SNS) von Präsident Nikolić, der liberalen Allianz Vereinte Regionen (URS) und der Partei der Demokratischen Aktion führt, ist die „wirtschaftliche Erholung“ Serbiens. Bei mehr als 25 Prozent Arbeitslosigkeit, stets neuen Entlassungswellen und schrumpfender Wirtschaftsleistung liegt das nahe. Schon während des Wahlkampfes hat sich Dačić bemüht, dem Namen seiner Sozialistischen Partei (SPS) wieder einen Sinn zu geben, und sich als Keynesianer profiliert.Brüssel hebt den FingerNiemand solle „den Gürtel enger schnallen“ müssen, hat er in seiner Regierungserklärung beteuert. Ein Politiker, der als Generalist begann und sich dann als Fachmann für innere Sicherheit profiliert hat, versteht von Wirtschaftsstrategie nicht eben viel. Vor aller Augen offenbart er das mit seinen ersten einschlägigen Amtshandlungen: Erst hat er die Finanz- und Wirtschaftspolitik seinem liberalen Koalitionspartner Mladjan Dinkić von den Vereinten Regionen Serbiens überantwortet, einem Mann, der seit zwölf Jahren in verschiedenen Funktionen Gelegenheit hatte, seine Kompetenz zu zeigen, und dem vermutlich kaum etwas Neues einfallen wird. Als Zweites hat Dačić einen „Rat zur ökonomischen Erholung Serbiens“ gegründet, der ihm sagen soll, was zu tun ist.Um die Antwort zu kennen, muss man kein großer Ökonom sein: Serbien braucht dringend Geld, und das kann nur vom Internationalen Währungsfonds (IWF) oder der EU kommen. Beide stellen Bedingungen, die es Dačić unmöglich machen werden, Keynesianer zu bleiben und Investitionen zu fördern. Ein wenig pokern, ist alles, was ihm zu Gebote steht. Gleich sein erstes Blatt hat freilich nicht gestochen. Als er für seine Regierung den Zugriff auf die Nationalbank, ihre Entscheidungen und Devisen beanspruchte, hob Brüssel sofort warnend den Finger. Sobald Belgrad über seinen EU-Beitritt verhandelt oder Geld will, kommt das Thema zurück auf den Tisch. Lenkt die serbische Regierung nicht ein, hat sie eben Pech. Die EU hat genug andere Probleme. Serbiens Rettung genießt keine Priorität.Brüssel will folglich gnädig gestimmt werden; das hinzukriegen, wird nicht einfach. Alles, was mit Außen- und Europapolitik zu tun hat, haben die Sozialisten und ihr stärkerer Partner, die nationalistische Fortschrittspartei, den Liberalen der Vereinten Regionen überlassen. Das Außenministerium boten sie sogar der Opposition an, die dankend ablehnte. Tatsächlich steckt in dieser Art Arbeitsteilung nur eine Versuchung zum doppelten Spiel: Europa zeigt man die freundliche Seite, und wo es ums Umsetzen geht, sitzen dann die Blockierer. Sie rekrutieren sich nicht einmal aus den berühmten „alten Seilschaften“, die in der serbischen Provinz überall noch recht gut funktionieren. Blockierer sind auch alle, die entweder nicht fähig oder nur nicht mächtig genug sind, die vielen komplizierten Vorgaben der EU-Kommission zu erfüllen, die noch nie so kritisch und so pingelig war wie heute. Nicht böser Wille, sondern Mangel an Kompetenz ist das größte Defizit einer Regierung, deren Parteien sich aus ohnmächtigen Wutbürgern und allzu machtbewussten Selbstvertretern zusammensetzen.Dass irgendjemand auf das Doppelspiel von europafreundlichen Liberalen und stumpfen Provinzpotentaten hereinfällt, steht nicht zu erwarten. Nicht nur Berlin, auch Brüssel erwartet vom EU-Aspiranten Serbien, dass der Vereinbarungen nicht nur unterschreibt, sondern auch umsetzt. Daran haperte es schon bisher. Die Vorgängerregierung unter dem Präsidenten Boris Tadić konnte immer noch mit den Nationalisten und Sozialisten als Alternative drohen und sich so etwas Spielraum verschaffen. Jetzt haben die Genannten selbst das Ruder in der Hand. Sie sind die, vor denen die Älteren immer gewarnt haben; keine leichte Rolle, wie man weiß.Noch ein Pfund hatte die Vorgängerregierung unter dem EU-freundlichen Tadić, mit dem sie wuchern konnte: die günstige Rechtsposition Serbiens in der Kosovo-Frage. Aber schon Tadić musste erleben, dass dieses Pfund am Ende kaum noch etwas wert war. Jetzt hat Nachfolger Nikolić zum wiederholten Mal durchblicken lassen, dass er zu Fortschritten bereit sei, um aus der verfahrenen Lage herauszukommen. Aber andeuten reicht schon lange nicht mehr. Aufhorchen lassen würde Serbien allein noch mit der Bereitschaft, die abtrünnige Provinz völkerrechtlich anzuerkennen. Alles weniger Revolutionäre liegt schon unter der Wahrnehmungsschwelle der europäischen Diplomatie.Um ihrem Dilemma zu entkommen, hat die neue Regierung höchstens ein halbes Jahr Zeit. Das Haushaltsdefizit droht zu explodieren. Kredite auf dem internationalen Finanzmarkt sind kaum zu bekommen, und wenn doch, sind sie bei der raschen Entwertung des Dinar nicht mehr zu bezahlen. Investoren bleiben aus. Serbien war ohnehin spät dran, als Milošević im Jahr 2000 aus dem Präsidentenamt bugsiert wurde. Und jetzt in der Krise ist der Appetit der Anleger auf unsichere Anleihen, auf marode Staatsfirmen oder Investitionen gründlich gestillt. Kommt kein frisches Geld ins Land, können Gehälter und Renten nicht mehr bezahlt werden. Schon im Herbst dürfte die Streikwelle einem neuen Höhepunkt zustreben.Grenzhäuschen brennenHoch pokern bleibt tatsächlich die einzige Chance, die diese Regierung hat. Sonst kann sie nur die Karten auf den Tisch legen und sich vor Aufnahme des eigentlichen Regierungsgeschäfts zum demütigen Verlierer erklären. Aber Pokern können die neuen Mächtigen besser als alles andere; es ist eine Kunst, die man unter Milošević lernen konnte. Zwar hat der Altmeister seine letzte Partie am Ende verloren. Vorher aber hat er etliche gewonnen.Milošević selbst hätte kalkuliert: Steigern kann Serbien seine Chancen in Europa durch ein bisschen Ärger. Nicht nur in Serbien, auch in Europa gelten schließlich noch immer die gleichen Grundsätze wie in den neunziger Jahren: Probleme werden aufgeschoben, bis sie unaufschiebbar sind. Wer immer an der Peripherie den Vertröstungen der gestressten Politiker aus den Zentren Europas vertraut, hat schon verloren.Haben die Kosovo-Albaner nicht jahrelang passiven Widerstand und zivilen Ungehorsam praktiziert, ohne dass Europa sich rührte? Hilfe kam erst, als sie anfingen, Polizeistationen zu sprengen. Und über ihre Unabhängigkeit wurde erst nach Ausschreitungen gegen die serbische Minderheit in der umkämpften Provinz ernsthaft nachgedacht. Kommt man wirklich durch Willfährigkeit in die EU? Wenn Grenzhäuschen brennen oder wenn sich lange Traktorenschlangen an Grenzübergängen bilden, werden Serbiens EU-Annäherung und der Kosovo-Konflikt überall in Europa auf einmal wieder mit ganz anderen Augen betrachtet.
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