Seit beinahe zehn Jahren wechseln in Serbien Lethargie und Endkampfstimmung einander ab. Erst war es Vuk Draskovic, der die Belgrader Studenten in Straßenschlachten gegen die Polizei führte, jetzt ist es Zoran Djindjic, der unablässig zum letzten Gefecht ruft. Aber spotten ist leicht. Eine schlüssige Strategie lässt sich in dem verzweifelten Land kaum formulieren. Die Opposition nutzt nur die historischen Sekunden, wenn wieder einmal die Wut über die Apathie siegt. Echte Gelegenheiten für den allgemeinen Aufstand gibt es nicht mehr. Das Regime empört niemanden mehr. Was an Schlimmem passieren könnte, ist alles schon passiert.
Nur kurze Zeit hat man sich im Westen und in den Zentralen der Belgrader Oppositionsparteien die Hoffnung machen dürfen, der Verlust des Kosovo sei die letzte Gelegenheit für die Serben, Slobodan Milosevic los zu werden. Aber wenn es sie gab, ist sie vorbei. Es wird Zeit, sich der trostlosen Realität zu stellen: Milosevic bleibt, wo er ist - wenigstens solange der Westen dafür sorgt, dass er bleibt, wer er ist. So lange geht nichts voran; nicht nur in Jugoslawien nicht. Wie ein eingerosteter Sperrriegel liegt das Land auf dem Balkan und steht allen Wünschen nach Kooperation, Integration, wirtschaftlicher Prosperität und demokratischer Entwicklung, wie man sie Südosteuropa zur Zeit herbeibetet, hartnäckig im Wege. Solange in Jugoslawien der Wiederaufbau nicht beginnen kann, wird er auch in den Nachbarländern misslingen. Solange Belgrad den Bösen gibt, dürfen Geistesverwandte im Kosovo, in Bosnien oder Kroatien ungestraft den Zweitbösesten geben. Mögen die UÇK im Kosovo oder die Tudjman-Partei in Kroatien unsympathisch sein, sie taugen immerhin noch als Verbündete gegen Milosevic. Solange in Belgrad der Blinde regiert, dürfen überall auf dem Balkan die Einäugigen die Könige bleiben. Kein »Stabilitätspakt« kann darüber hinwegtäuschen, dass die Politik des Westens gegenüber Südosteuropa in eine Sackgasse geraten ist.
Aus Sackgassen führt nur ein Weg: Zurück. Die Sanktionen, die 1992 gegen das stark verkleinerte Jugoslawien verhängt wurden, haben das Gegenteil von dem erreicht, was sie erreichen sollten. Zuerst bewirkte das Embargo, dass auch die Zweifelnden sich um den starken Mann scharten: Waren die Sanktionen nicht der ausstehende Beweis dafür, dass Genscher, der Vatikan und die Freimaurer sich gegen das Volk der Serben verschworen hatten, wie die nationalen Hysteriker behauptet hatten? Als besondere »Verschärfung« dachte man sich das sogenannte »Kulturembargo« aus, das jede Lesereise, jeden Studentenaustausch, jedes internationale Basketballspiel untersagte. Allein bleiben! Was für eine schreckliche Strafe für nationale Autisten! Schlimmer als die Paradoxien des ersten war der zweite Effekt: Allen Schmugglern, Gangstern und Mafiosi, die das Embargo trickreich umgingen, musste die Solidarität der Regierenden und der ganzen Bevölkerung gelten - schließlich waren sie es, die überhaupt noch Öl ins Land schafften. Sie nutzten ihre Stellung weidlich aus. Das Embargo ist ihr Biotop. Ginge es nach ihnen, bliebe es ewig bestehen, und es geht immer mehr nach ihnen. Die Sanktionen waren ein sicheres Rezept, eine Volkswirtschaft, ja eine ganze Gesellschaft zu kriminalisieren. Drittens: Die Sanktionen haben bestehende Konflikte weiter verschärft. Die Kosovo-Albaner hätten nichts davon gehabt, sich mit dem bankrotten Belgrad zu einigen; dass Abspaltung ihre einzige Perspektive war, lag auch am Embargo. Und zu allem Überfluss nehmen die Sanktionen einer Revolte der demokratischen Serben, die sie doch anstacheln sollten, heute noch die Perspektive und das Potenzial. Wer jung ist, etwas gelernt und seine fünf Sinne beisammen hat, sieht zu, dass er ins Ausland kommt. Zoran Djindjic, der im Westen gefeierte Oppositionelle, war immer ein leidenschaftlicher Gegner der Sanktionen. Man hat es meistens überhört, und wenn er zu laut wurde, hat man ihn der geheimen Komplizenschaft mit dem Regime verdächtigt. Jetzt zeigt sich, dass er Recht hatte.
Auch immer mehr europäische Diplomaten sehen das ein. Als letztes Argument bleibt für das gescheiterte Embargo, dass man es nach allem, was geschehen sei, nicht einfach aufheben könne. Man nennt dieses Argument gern »das moralische«: Es wirke ja wie eine Belohnung für Milosevic, wenn man jetzt umsteuere. Nach dieser Logik allerdings dürfen Fehler grundsätzlich niemals korrigiert werden. Und was ist das für eine Moral, die uns dazu zwingt, alles nur noch schlimmer zu machen? Wenn es nur darum geht, dass der Westen sein Gesicht wahrt, werden sich schon Wege finden lassen - für solche Nöte hat man ja gerade in Belgrad viel Verständnis. Die Weltbank zum Beispiel hat jahrzehntelange Erfahrungen in heiklen Kreditgeschäften und weiß genau, wie man Programme auflegt, die man eigentlich nicht auflegen dürfte. Wenn man in Novi Sad die Brückentrümmer aus der Donau holte, ließe sich das zum Beispiel mit den Interessen der Donauschifffahrt begründen. Es wäre ein Anfang. Man bräuchte auch nicht Slobodan Milosevic die Hand zu schütteln, wenn man in Serbien das Kleingewerbe fördern wollte. Natürlich wird man mit jeder Förderung auch die falschen Leute mästen. Aber so ist das eben mit Sackgassen: Je weiter man hineinfährt, desto länger muss man wieder zurückfahren.
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