Die Fälscher sind unter uns. "In seiner Ausgabe vom 4. Januar 1993", schreibt Peter Brock, "veröffentlichte Newsweek ein Foto von mehreren Leichen mit einem Begleittext, der mit den Worten begann: ÂGibt es keine Möglichkeit, die serbischen Gräuel in Bosnien zu stoppen?Â" Alle waren erschüttert. Bloß der US-Journalist Brock von der El Paso Herald Post hat sich von der Suggestion dieses Bildes nicht einfangen lassen. Er enthüllte: "Tatsächlich zeigte das Bild serbische Opfer, darunter einen deutlich erkennbaren Mann in roter Jacke." Sein Artikel in der Zeitschrift Foreign Affairs, in dem er mehrere ähnliche Fälle zusammentrug, löste die erste große Debatte über Kriegsberichterstattung in Jugoslawien aus. Logen die Reporter und Korrespondenten uns etwas vor? War in Wirklichkeit alles ganz anders?
Leider hat Brock uns nicht in die Fälscherwerkstatt von Newsweek blicken lassen. Aus gutem Grund: denn damit wäre seine These, dass die bosnische Kriegsgeschichte umgeschrieben werden müsste, wohl kläglich verendet. Der "Fälscher" war vermutlich ein harmloser Bildredakteur, der einen Korrespondentenbericht vor sich liegen hatte und sich aus einem riesigen Stapel von Fotos das beste heraussuchte. Vielleicht war das Bild auf der Rückseite als Aufnahme von "Kriegsopfern in Bosnien" ausgezeichnet, vielleicht war auch schon der Agentur der Irrtum unterlaufen. Aber sagt eine solche Nachlässigkeit irgend etwas aus - außer vielleicht dass unser Bildredakteur Krieg grundsätzlich scheußlich findet und ihn die Frage bedrängt, wie das Gemetzel beendet werden kann.
So banal und zufällig wie die erste sind bisher alle nachträglichen Debatten über die jugoslawischen Kriege geblieben. Seit dem Jahrestag des NATO-Bombardements vor einem Jahr werden zahlreiche, auch seriöse Medien von einem manischen Kosovo-Revisionismus beherrscht. Nicht, was man in der verfahrenen Lage des Winters 1999 hätte tun sollen oder tun können, wird diskutiert, sondern "wie es wirklich war". Wieder waren Bilder der erste Anlass: diesmal die eines Massakers in dem Ort Rugovo, der von Rudolf Scharping zum Exempel für einen aktuellen serbischen Vernichtungsfeldzug erkoren wurde, obwohl es sich zu früh ereignet hatte, um von dem Feldzug Zeugnis geben zu können.
Aus solchen Bildverwirrgeschichten wie der von Rugovo aber lässt sich über den Krieg nichts lernen. Sie bleiben alle in dem professionellen Irrtum, der offenbar Politiker und Fotografen, Textjournalisten und Medienkritiker gleichermaßen gefangen hält: dass Kriegsbilder etwas beweisen können. "Beweisfotos" aber schießt höchstens die Kamera in einer Bankfiliale, kein Journalist. Die eindrucksvollen Fotos von den Kriegen im früheren Jugoslawien haben nur illustriert, was schon vorher und auf vielfältige und bedeutend kompliziertere Weise bekannt war: dass dort ein grausamer Krieg stattfand, in dem für alle handelnden Parteien die Zivilbevölkerung der eigentliche Kriegsgegner war, dass die meisten Kriegsverbrechen dabei von serbischen Zivilisten und Freischärlern begangen wurden.
Bei den Massakern, der Erstürmung und "ethnischen Säuberung" von Dörfern war kein Fotograf dabei, bei keiner Vergewaltigung, nicht bei der Trennung von Männern und Frauen, nicht bei den Massenerschießungen wehrfähiger Männer, beim Anzünden von Häusern und beim Verminen der Ruinen. Wir wissen von alledem aus den Zeugenaussagen, die im Kosovo von der OSZE und in Bosnien von der UNO und Helsinki Watch systematisch zusammengetragen wurden, und von den Prozessen in Den Haag, die zur Zeit stattfinden. Gegen diesen Aufwand von Beweismaterial hätte kein einzelnes, noch so eindrucksvolles Bild eine Chance.
Der UN-Menschenrechtsbeauftragte Tadeusz Mazowiecki schätzte (vielleicht etwas zu hoch, aber in der Tendenz richtig), dass 80 Prozent der Kriegsverbrechen im bosnischen Krieg von der serbischen Seite begangen worden seien. Ein toter Muslim in Bosnien auf einem Foto ist dafür ein Symbol, und als solches wird er auch abgebildet; nicht als Beweis. Denn selbst wenn 99 Prozent aller Toten Muslime gewesen wären, so gab es doch auch ermordete Serben. Sie waren genauso tot, genauso unschuldig, ihr Schicksal genauso schrecklich. Nur als Symbole taugten sie nicht.
Fatale Symbole
Der Symbolismus der Bildersprache hat sich nicht erst im Kosovokrieg auf den Umgang mit historischen Fakten ausgebreitet. Das erste dieser fatalen "Symbole" war das sogenannte "Brotschlangenmassaker" von Sarajewo am 5. Februar 1994: Eine Granate schlug auf einem Markt der belagerten bosnischen Hauptstadt ein und tötete 68 Menschen. Die neue US-Administration, die sich gerade entschlossen hatte, in Bosnien eine aktivere Rolle zu spielen, nahm den Fall zum Anlass, die Öffentlichkeit für die neue Politik zu gewinnen. Fast zwei Jahre lang waren bis dahin beinahe täglich Granaten von serbischen Stellungen auf die Neustadt und zum Teil auch auf die Innenstadt abgefeuert worden; an die 10.000 Menschen waren dabei schon ums Leben gekommen. (Übrigens wurden auch von muslimischen Stellungen Granaten auf vorwiegend serbisch bewohnte Stadtteile abgefeuert, was aber auf der einen wie auf der anderen Seite meistens unerwähnt blieb.) Gut drei Wochen nach dem "Brotschlangenmassaker" schlug die NATO zum erstenmal zu und schoss vier serbische Flugzeuge ab, die ein Flugverbot verletzt hatten.
Nicht das Massaker hatte die Wende verursacht, es hatte nur dazu gedient, sie öffentlich plausibel zu machen. Die Kritiker der Washingtoner Wende nahmen den Anlass für den Grund und zogen den Hergang in Zweifel. Obwohl bis zu jenem 5. Februar niemand je bestritten hatte, dass es serbische Stellungen waren, aus denen auf die Innenstadt gefeuert wurde, entstand plötzlich ein besonderer Bedarf an Beweisen. Nach kriminalistischen Kriterien war tatsächlich nicht nachzuweisen, dass Serben die Täter waren; ein UNO-Bericht, der diese einfache Tatsache festhielt, wurde zurückgehalten, damit er nicht eine neue Debatte entfesselte. Das gab den Verschwörungstheorien natürlich nur noch weitere Nahrung.
Der Fall Racak
Das Massaker von Racak spielte im Kosovokrieg eine ähnliche Rolle. Am 15. Januar 1999 starben 45 Albaner im Dorf Racak, unter ihnen eine 18-jährige junge Frau und ein 12-jähriger Junge. Obwohl aus den Umständen heraus völlig plausibel, wurde der Fall Racak zum Kriminalfall isoliert und peinlichen, oft auch zweifelhaften Untersuchungen unterzogen. Journalisten reisten noch zum Jahrestag in den Ort und spielten den Kriminalkommissar, der durch geschickte Befragung der Dorfbewohner (mit Hilfe schlechter Übersetzer) den entscheidenden Aspekt zu Tage fördern könnte. Der Leiter der OSZE-Mission, Walker, hatte schon am 16. Januar, bei einem Lokaltermin, von "Massaker" gesprochen; danach drehte sich vor allem in den USA die Stimmung. Es kam zu einem Ultimatum an Belgrad, zu den Verhandlungen von Rambouillet und schließlich zum NATO-Bombardement. Ohne Racak, so scheint es, hätte es keinen Kosovokrieg geben müssen.
Die Recherchen der Kosovo-Revisionisten konzentrierten sich nun auf die Frage, ob die Getöteten "Kombattanten" im Sinne des Kriegsrechts oder "Zivilisten" waren. Zeitweise ging man dem Verdacht nach, die Opfer wären nach ihrem Tode umgezogen worden, hätten vorher also Uniform getragen. Als sich dafür nach den Berichten eines finnischen Pathologenteams keine Anhaltspunkte fanden, ging es darum, ob "Schmauchspuren" an den Händen der Toten auf Schusswaffengebrauch deuteten. Es wurde nichts gefunden, obwohl man einräumen musste, dass gründlicher hätte untersucht werden können. Auf einer Pressekonferenz in Prishtina wurde die Leiterin des finnischen Ärzteteams, Randa, mit der durchaus legitimen Frage bestürmt, ob es sich nach ihren Erkenntnissen um ein "Massaker" gehandelt habe. Ebenso legitim war allerdings die Antwort der Ärztin, der Begriff "Massaker" sei keiner der Pathologie, politische Wertungen abzugeben nicht ihr Auftrag.
Dass Randa sich weigerte, von einem "Massaker" zu sprechen, tauchte in späteren Zeitungsartikeln immer wieder als Indiz für Zweifel am Hergang der Tat auf. Ein französischer Journalist entdeckte in Racak zu seinem Erstaunen Schützengräben. War das albanische Dorf in Wirklichkeit ein Partisanennest? War die Weltöffentlichkeit Objekt eines Täuschungsmanövers geworden? - Wie absurd die Fragen sind, wird erst klar, wenn man den Kontext wieder einblendet, aus dem der Fall Racak isoliert wurde. Fast ein Jahr schon befanden sich die Kosovo-Albaner im Aufstand. Die UÇK, ursprünglich eine Terrortruppe, war zum Synonym für den bewaffneten Widerstand geworden; eine Armee unter zentralem Kommando war sie nie. UÇK war alles, was albanisch war und Waffen trug, auch die zahlreichen Dorfwehren, die aus den jungen Männern kleiner Orte bestanden und von niemandem zentral kontrolliert wurden. Auch nach der Stationierung von OSZE-Beobachtern Anfang 1999 hielten die Sprecher der UÇK daran fest, von "befreiten Gebieten" zu sprechen. Der serbischen Polizei und Sonderpolizei war das Anlass, die in diesen Gebieten liegenden Dörfer anzugreifen. Häufig lagen solche Orte, besonders im Drenica-Gebirge, einfach unter Artilleriebeschuss. Mangels schwerer Waffen beschränkte sich die UÇK darauf, serbische Polizeistreifen in Hinterhalte zu locken und zu erschießen. Die Polizei reagierte auf diese Partisanentaktik mit Terror gegen die Dörfer, aus denen sich die Partisanen versorgten. Dorfbewohner entschieden von Fall zu Fall, ob sie sich gegen eventuelle Strafexpeditionen militärisch verteidigen wollten oder nicht. Dem Massaker von Racak gingen zwei Hinterhalte gegen serbische Polizisten voraus.
Was immer an jenem 15. Januar 1999 genau passiert ist, ein echter Kampf fand jedenfalls nicht statt. Kein serbischer Polizist wurde getötet oder nur verletzt, obwohl doch Eroberer eines feindlichen Ortes normalerweise einen viel höheren Blutzoll zahlen als die Verteidiger. Racak hat sich offensichtlich nicht verteidigt. Einige Revisionisten haben festgestellt, dass etliche Opfer von weiter her, nicht mit aufgesetzten Schüssen, getötet wurden; tatsächlich dürften nach den ersten Schüssen viele zu fliehen versucht haben, die dann doch noch getroffen wurden. 20 Männer waren nach (natürlich albanischen) Zeugenberichten schon am Vortag des Massakers von den anderen getrennt und in Gewahrsam genommen worden. Sie waren alle unter den Toten. Kombattanten oder nicht: Wenn die 20 in Gewahrsam waren, war es Mord, und wenigstens, was mit ihnen geschah, darf man getrost ein Massaker nennen.
Die Racak-Falle
Aber selbst mit wieder eingeblendetem Kontext führt die Racak-Debatte auf eine falsche Fährte. Wenn Männer aus Racak es waren, die in den Tagen zuvor serbische Polizisten getötet haben, ja, selbst wenn Racak von sich aus die Polizei angegriffen hätte - als Begründung für die weitere Entwicklung zu Rambouillet und zum NATO-Bombardement hätte der Fall trotzdem ausgereicht. Racak hat klargemacht, dass auch die Präsenz der OSZE am Kämpfen (und Morden) im Kosovo nichts geändert hatte. Daran waren nicht allein - und nicht einmal überwiegend! - "die Serben" Schuld. Das vage Abkommen, das den Waffenstillstand im Kosovo garantieren sollte, wurde weit häufiger von der UÇK gebrochen; mangels militärischer Kraft und Kompetenz beschränkte sich die Guerilla auf erfolgreiche Provokationen. Das mag einen zu der Annahme führen, in diesem historischen Augenblick seien die Albaner die "Bösen" und die Serben die "Guten" gewesen - auch wenn man für ein solches Urteil einen zehnjährigen Polizeiterror vergessen muss.
Die Annahme führt aber zu nichts anderem als wiederum zu Rambouillet und zu den NATO-Luftangriffen. Man hätte 1999 die Albaner - ob sie Recht hatten oder nicht - kaum auffordern können, die Waffen abzugeben und sich mit ihrem Status zu bescheiden. Sie befanden sich im Aufstand, aus dem sie niemand einfach zurückpfeifen konnte. Ohne westliches (nicht unbedingt militärisches) Eingreifen wäre der Partisanenkrieg noch Jahre weitergegangen. Die UÇK als den "Schuldigen" zu bombardieren hätte, selbst wenn es möglich gewesen wäre, am Geschehen nichts geändert. Den Schlüssel für eine politische Lösung hielt Belgrad in der Hand, das die Souveränität über das Kosovo ausübte. Deshalb wurde Belgrad bombardiert.
Das Vertrackte an Racak ist, dass es sowohl symbolisch als wirklich Anlass für das NATO-Bombardement war. Symbolisch, weil es die Öffentlichkeit gegen einen internationalen "Bösewicht" einnahm, wirklich, weil es die Hilflosigkeit der bisherigen Strategien bewies. Aber nur auf die symbolische Bedeutung des Massakers von Racak konzentriert sich die Revisionismus-Debatte; deshalb dreht sie sich im Kreise. Nur wenn man glaubt, Symbole und Bilder bewiesen den ganzen Schrecken des Krieges, kann man auch annehmen, dass ein Fehler im Symbol oder auf einem Bild denselben Schrecken widerlegt. Davon lebt eine naive Variante von Medienkritik. Wenn der eine Mann auf dem berühmten Foto gar kein Muslim ist, dann sind in Wirklichkeit wahrscheinlich gar nicht die Muslime, sondern die Serben die Opfer. Irgend jemand will uns da was vormachen. Solche Vorstellungen kann man nur grundsätzlich ausräumen. Wenn man versucht, sie im Einzelfall zu widerlegen, kommt nur Absurdes dabei heraus.
Der zitierte Peter Brock behauptete in seinem Artikel auch, dass der berühmte "Mann vor dem Stacheldraht" aus dem serbischen Lager Trnopolje (dessen Fall der deutsche Journalist Thomas Deichmann akribisch recherchiert hat) in Wirklichkeit ein Serbe gewesen sei. Die Gesellschaft für bedrohte Völker wies dann nach, dass es doch ein Muslim war. Beide Seiten waren ideologisch motiviert und führten einen Streit um Kriegsschuld: Für Brock waren die Serben die Guten, für die GfbV dagegen waren sie Wiedergänger der Nazis. Damit beide Unrecht behalten konnten, führten sie einen Streit um ein Bild, das nichts bewies. Beide sind Partisanen einer Kriegspartei, beide brauchten Symbole, weil ihnen die Fakten im Wege waren.
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