Für drohende Gefahr von außen kennt Europa seit jeher zwei Muster, ein westliches und ein östliches. Das westliche ist: Man schließt die Stadttore. Alle laufen auf dem Marktplatz zusammen und warten, dass Waffen ausgegeben werden. Das östliche ist: Alle ziehen sich in ihre Häuser zurück, mauern die Fenster zu Schießscharten um, belauern einander und warten, bis nach den feindlichen Heeren ein freundliches kommt und sie befreit. Das östliche Muster ist die Zukunft.
Eine „Koalition der Willigen“ wollte Angela Merkel nach dem Markplatzmuster noch rasch vor dem EU-Gipfel zusammenschmieden – ohne große Aussicht auf Erfolg, nachdem selbst aus Frankreich eine Absage kam. Die „Koalition der Unwilligen“ dagegen steht schon seit Wochen. Flüchtlinge sollen nicht mehr nach Europa kommen: Darüber sind sich die Nationen entlang der Balkanroute einig. Die einen, die Ungarn, wussten es schon seit dem Sommer. Für die anderen, die Österreicher, wird der Zeitpunkt X erst im Vorfrühling gekommen sein – dann, wenn Österreich seine selbst fixierte Obergrenze von 37.500 Flüchtlingen für das Jahr 2016 erreicht hat. Der D-Day fällt in den März. Danach geht nichts mehr.
Bad-Will-Tour
Fleißig geschrieben wurde zuletzt über die Versuche Berlins, europäische Partner für eine Wiederansiedlung von Flüchtlingen aus der Türkei zu gewinnen. Mit weniger Aufmerksamkeit im Nacken haben einige osteuropäische Länder sowie Österreich gleichzeitig an einer ganz anderen, östlichen Antwort auf die Flüchtlingskrise gearbeitet. Sie ist fertig: Sichtbar wird vorerst ein doppelter Zaun mit NATO-Draht an allen für Fußgänger erreichbaren Stellen an der 254 Kilometer langen Grenze zwischen Griechenland und Mazedonien. Bei einem Zaun wird es nicht bleiben. Schon jetzt schaffen die Österreicher mit freudigem Eifer viele weitere Zäune und bringen Wärmebildkameras, Hubschrauber und Drohnen in Stellung. Bald sieht die Welt hier wieder aus wie früher.
Weder sucht die „Koalition der Unwilligen“ eine Lösung für die Flüchtliungskrise, noch will sie eine gemeinsame Flüchtlingspolitik. Ihr Ziel ist der Ab- und Umbau Europas. Man sieht es schon daran, dass nicht die Balkanländer den Plan ausgebrütet haben, Länder also, die mit dem Transit eine gewisse – übrigens sehr überschaubare – organisatorische Last auf sich nehmen. Den Kern der Koalition bilden vielmehr Staaten, die seit Monaten immer wieder versichern, die Flüchtlingskrise sei eine Sache der Deutschen und gehe sie nichts an: Die Visegrád-Staaten nämlich – Ungarn, Polen, Tschechien und die Slowakei.
Für die Flüchtlinge haben die Ungarn, Tschechen, Slowaken, Polen, die Slowenen oder gar die Mazedonier keine Idee. Auf einer Bad-Will-Tour durch den Balkan hat Österreichs Außenminister Sebastian Kurz in aller Offenheit sein Kalkül dargelegt: Griechenland werde wohl, wenn es erst zur Sackgasse für die vielen Syrer geworden sei, im Mittelmeer andere Saiten aufziehen. Das Ergebnis ist eine kalkulierte humanitäre Katastrophe. Nicht nach uns die Sintflut, aber möglichst weit weg von uns. Auch wer an dem Desaster schuld sein wird, steht vorab fest: die Griechen; sie haben nicht gründlich genug registriert.
Dass Flüchtlinge aus den Kriegen im Nahen Osten künftig in der Türkei oder gar in Griechenland bleiben, glauben die Unwilligen selbst nicht. Sonst könnten sie auf die Mauer in Mazedonien vertrauen. Das tun sie aber nicht. Sie sichern vielmehr ihre eigenen nationalen Grenzen wie die USA den Rio Grande zu Mexiko.
Aus nachvollziehbarem Grund: Griechenland hat nicht nur eine Grenze mit Mazedonien, sondern auch eine doppelt so lange, ganz und gar ungesicherte zum EU-Land Bulgarien. Wird der wichtige Straßenübergang bei Kulata geschlossen, nur anderthalb Stunden mit dem Sammeltaxi von Saloniki, bieten sich die Rhodopen an, eine schwer kontrollierbare Gebirgslandschaft, die von einer muslimischen Minderheit besiedelt ist. Im unwahrscheinlichen Fall, dass die griechisch-bulgarische Grenze eines Tages ähnlich gesichert ist wie die griechisch-mazedonische, werden die Flüchtlinge durch Albanien kommen. Die griechisch-albanische Grenze, fast so lang wie die griechisch-mazedonische, ist seit vielen Jahren der Albtraum aller Behörden. Bis zum Beginn der Flüchtlingskrise fand hier jährlich etwa die Hälfte aller illegalen Grenzübertritte in ganz Europa statt. Staatliche Strukturen gibt es wenig, dafür aber umso mehr private. Gut organisierte Schmugglerringe finden in Albanien, aber auch in Montenegro und Bosnien ein ideales Betätigungsfeld. Von dort sind es noch gut 200 Kilometer bis nach Österreich.
Als Erstes betrifft die Politik der Zäune die Beziehungen der „Unwilligen“ untereinander. Aus zeitweisen Grenzkontrollen werden ständige. Dann kommt die Europäische Union an die Reihe. Je heftiger geschmuggelt wird, desto stärker ist davon auch der Transport über Schiene und Straße betroffen. Der freie Waren- und Personenverkehr – bisher eine Gemeinschaftsaufgabe und von der Kommission argwöhnisch beobachtet – kehrt zurück unter die Kontrolle der Nationen. Der Zaun war noch nicht gebaut, da regte sich in Österreich schon die erste hochrangige Initiative, nun auch die Freizügigkeit von Arbeitnehmern in der EU einzuschränken. Keine „Festung Europa“ ist das Ziel. Gewollt sind viele nationale Festungen.
Der Balkan wird nach dem Modell, was er immer war, nicht Festung, sondern Niemandsland; freies Schussfeld. Die Politik der Südosterweiterung ist gescheitert. Attraktiv war die EU für „Rest-Europa“ nicht als Absatzgebiet, sondern als Rechtsversicherung für seine Bürger und als eine Welt, in der man Arbeit und gerechten Lohn finden und das Geld nach Hause schicken konnte. Nach der Grenzschließung ist Europa auf dem Balkan nur noch für Mafiosi und Lokalpotentaten interessant. Sie können künftig den Hahn mit dem Flüchtlingsstrom nach Belieben auf- und zudrehen, auf Konferenzen über die „Bekämpfung des Menschenhandels“ referieren und sich „Hilfspakete“ schnüren lassen. Mazedoniens Mächtige widmen sich ihrer neuen Aufgabe als Torwächter Europas schon mit Hingabe. Vor Wochen mussten sie noch Angst haben, dass Brüssel sie fallenlässt und sie auf dem Weg ihres Landes in die EU im Gefängnis landen. Jetzt sehen sie sicheren Zeiten entgegen.
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