Viel, viel Gefühl

VOM GOLF- ZUM BALKANKRIEG Hat sich die Friedensbewegung von der Straße in die Fernsehsessel zurückgezogen?

Im 18. Jahrhundert war die deutsche Geisteselite noch tief überzeugt von der rationalen Steuerbarkeit der Welt. Dann bebte im Jahre 1755 die Erde, und Lissabon wurde zerstört. Fortan wurde den Kräften der Natur wieder große Bedeutung beigemessen. Nicht dass man vorher keine Erdbeben für möglich gehalten hätte - natürlich hatten die Philosophen alles bis dato Geschehene in ihren Theorien über die Welt berücksichtigt. Aber von Erdbeben wissen und aktuell von ihnen hören, war dann doch selbst für sie zweierlei.

Der Golfkrieg hatte in der verrückten deutschen Geistesgeschichte eine ähnliche Bedeutung wie das Erdbeben von Lissabon: Er erinnerte uns daran, dass es auch regionale Eroberungskriege geben kann, denen man mit der Abrüstung der Supermächte nicht beikommt. Fortan schien es, als hätte die Friedensbewegung sich immer nur an die falschen Kriege erinnert: an den schmutzigen Vietnamkrieg zum Beispiel, in dem die USA ein korruptes Regime stützten. Hatte es nicht einen gerechten Zweiten Weltkrieg der Alliierten gegen Hitler-Deutschland gegeben, und hatten in diesem Krieg nicht wenigstens die USA politisch bewusst entschieden, dem Aggressor mit Krieg zu begegnen?

Der ideologische Nahkampf um den Golfkrieg endete für die deutsche Friedensbewegung in einem Desaster. Die Gegner der Intervention versuchten vergeblich, an die bekannten Muster anzuknüpfen: Ging es nicht um Öl? Wurde nicht das angeblich unschuldige Opfer Kuwait von einer diktatorischen Herrscherfamilie regiert, und konnte es den Kuwaitis nicht vergleichsweise egal sein, ob ihre Unterdrücker Landsleute oder Iraker waren? Einige, die noch vor kurzem den Frieden über alles gestellt hatten, machten das nicht mit und wandelten sich zu glühenden Interventionisten. Auf ihrem Weg konnten sie damals noch das Völkerrecht mitnehmen, das Saddam flagrant verletzt hatte, und den Weltsicherheitsrat, der die Krieger ermächtigt hatte. Mit ihnen segelte (und segelt bis heute) auch die Erinnerung an den Judenmord. Saddam bombardierte Israel, um die arabischen Länder auf seine Seite zu ziehen. Das miss lang. Dafür weckte er aber die Erinnerung an einen Krieg, in dem die USA den Opfern des Holocaust zu Hilfe kamen. Für eine politische Analyse des Geschehens waren diese Parallelen allzu entlegen. Aber es ging eben um Grundsätze, um die Frage, was der Mensch und hier besonders der Deutsche im Prinzip und unter außergewöhnlichen Umständen tun darf - Fragen, wie sie die oft religiös motivierten Friedensbewegten sich gestellt hatten und wie sie ihnen ironischer Weise auch gestellt wurden: bei den Befragungen eines Kriegsdienstverweigerers zum Beispiel. Der Golfkrieg schoss wie ein Blitz in den schwülen Himmel aus Ideologie, Religion, Werten und viel, viel Gefühl.

Nüchtern und realpolitisch betrachtet, war der Golfkrieg der gelungene Versuch der USA, einen neuen Konfliktherd einzugrenzen. Die moralische Qualität dieses »Containments« bleibt mäßig: Man hält sich in kritischen Regionen Schurken, denen es obliegt, die Nachbarn in Schach zu halten und im günstigen Falle an die Seite des Westens zu treiben, zeigt ihnen eine rote Linie, die sie nicht überschreiten dürfen, und lässt sie ansonsten gewähren. Es ist die schiere Großmachtpolitik; Zukunftshoffnungen oder gar Utopien lassen sich damit nicht verbinden, Bewegungen darauf nicht aufbauen. Es geht um »stability«, und das kann vieles bedeuten: Eingrenzung des Drogenhandels, Verhinderung von Flüchtlingsströmen und lästigen Fernsehbildern. Wenn Menschenrechte verteidigt werden, dann nebenbei. Schon gar nicht geht es um das Völkerrecht. War es vor zehn Jahren noch der Gefährte der Interventionisten, haben sie es spätestens im Kosovokrieg abgehängt. Wer von den Friedensbewegten von einst sich zu dieser Politik bekehrte, tat es aus Resignation.

Dass die Friedensbewegung sich vor dem Konflikt in Jugoslawien lieber ihre Ratlosigkeit eingestand, als für irgendeine falsche Seite Partei zu ergreifen, gereicht ihr noch zur Ehre. Nicht aber, dass sie von dem Krieg dort eigentlich nichts hören wollte: Was war das für eine Friedensbewegung, der ein realer Krieg argumentativ nicht in den Kram pass te? Zu einem nicht geringen Teil kultiviert die Generation von damals eine moralisch diffuse Abneigung gegen Interventionen. Sie wacht immer dann auf, wenn der Westen sich einzumischen droht. Zu den Anlässen der Einmischung will sie nichts hören, nichts sehen, nichts sagen. Vielleicht stimmt es gar nicht, dass Menschen in Kosovo-Dörfern von der Polizei zusammengetrieben und erschossen werden. Vielleicht sind die Millionen Vertriebenen selber Schuld. Das ferne Nikaragua hatte man noch prima verstanden. Jetzt scheint alles auf einmal so kompliziert, dass man gar nichts Gültiges dazu sagen kann: »Balkanische Kultur« ist im Spiel, eine »kriegerische Geschichte«, undurchschaubare »Interessen an Bodenschätzen, Märkten, Verkehrswegen.« Die Empörung über den Krieg löst sich in diesen »Argumenten« ganz auf. Zurück bleibt ein hässlicher Isolationismus von arrivierten Wohlstandsbürgern, die sich lieber mit dem Hang-Seng-Index als mit angeblichen Anachronismen im Osten befassen.

Doch nicht alle sind im Fernsehsessel gelandet. Zu Anfang des bosnischen Krieges gab es noch hilflose Versuche, den Opfern klarzumachen, dass Krieg etwas Schlechtes sei. Ein »Kreuzzug« durch Bosnien sollte zum Frieden mahnen; die dortige Bevölkerung fühlte sich davon verhöhnt. Viele Menschen nahmen Flüchtlinge aus Bosnien auf und kämpften dafür, dass sie bleiben konnten. Dieses Engagement gewann politische Qualität: 1992 musste sich die Bundesregierung wundern, dass mit Abschreckungspolitik gegen Flüchtlinge keine Wählerstimmen zu bekommen waren. Anfangs hatten deutsche Behörden die Last der Fluchtwelle den Gastarbeitern aufbürden wollen: Wer Verwandte oder Bekannte aufnahm, musste unterschreiben, dass er für deren Lebensunterhalt und für die Krankenversicherung aufkam. Das ging nicht mehr durch, und auch als danach eine rigorose Abschiebewelle einsetzte, regte sich Protest.

In der zentralen Frage aber, wie man den Krieg beenden könnte, blieben die Reste der Bewegung hilflos. Politisch ließ man sich in eine Sackgasse manövrieren: Die Bundesregierung, und besonders ihr geschickt agierender Verteidigungsminister Volker Rühe, nutzte den Bosnienkrieg, um die pazifistischen Bestimmungen des Grundgesetzes Zug um Zug zurückzudrängen.

1994/95 stand die Bosnienpolitik der NATO-Staaten vor einer Wende: Einige, unter ihnen der deutsche Außenminister Klaus Kinkel, setzten auf die Blauhelm-Mission der UNO. Hätte die UNO das Mandat erhalten, die seit 1993 bestehenden Schutzzonen militärisch zu verteidigen, hätte Srebrenica wahrscheinlich verhindert werden können. UNO-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali suchte händeringend nach Staaten, die der UN-Mission Verstärkung geben, sie vor allem politisch stützen könnten, und klopfte auch in Bonn an. Er bekam eine Abfuhr: Das Grundgesetz lasse einen deutschen Blauhelm-Einsatz nicht zu, hieß es - und die Antwort wurde von den Resten der Friedensbewegung, den Grünen und dem linken Flügel der SPD beifällig aufgenommen. Erst als die NATO sich einmischte, machten die Deutschen mit - diesmal ohne ernsthafte Gegenwehr der Opposition. Die historische Chance, an einer wirklichen neuen Weltordnung mitzuwirken, war vertan. Hier rächten sich der moralische Fundamentalismus und die politische Naivität, die der Friedensbewegung in den achtziger Jahre eigen war.

Eine neue Friedensbewegung wird dringend gebraucht, denn die modische Interventionspolitik versagt fast überall. Sie könnte sich ein klares, erreichbares Ziel stecken: ein Weltschiedsgericht, das auch über militärische Machtmittel verfügt, das den Menschenrechten verpflichtet ist und zugleich die reale Macht nicht einfach ignoriert - eine reformierte UNO, die nicht nur Staaten gegen Staaten, sondern auch Menschen gegen Menschen zu ihrem Recht verhilft. Die Kriegsverbrechertribunale für Jugoslawien und Ruanda sind Schritte auf dem Weg dahin. Das Beharren auf dem Grundsatz der Nichteinmischung ist ein Schritt davon weg. Für eine solche Friedensbewegung wäre es keine Schande, wenn sie zu den Konflikten der Gegenwart und dem Umgang mit ihnen eine ambivalente Beziehung hätte, statt sich immer mit einer Konfliktpartei zu identifizieren. Sie müsste in der realen Politik nach Zielen und Motiven suchen und das Richtige vom Falschen trennen. Richtig war es, nicht einfach zuzusehen, wie sich im Kosovo langsam ein Krieg von bosnischen Dimensionen entwickelte. Falsch war es, ohne erkennbare Strategie drauflos zu bomben und einen eingegrenzten, aber dauernd weiter glimmenden Krisenherd zu hinterlassen.

Eine neue Friedensbewegung hätte nur eine Chance, wenn sie die Parolen »Nie wieder Krieg!« und »Nie wieder Auschwitz!« miteinander versöhnte. Für eine solche Bewegung wären Demos vor ausländischen Botschaften wohl nur in Ausnahmefällen das geeignete Kampfmittel. Sie müsste fact-finding-missions losschicken, Tribunale veranstalten, Opfern eine Stimme geben und vor allem von ihren Regierungen verlangen, dass sie an ihre Politik draußen in der Welt dieselben strengen Maßstäbe anlegen wie zu Hause.

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