Woran scheiterte Rambouillet?

LEKTIONEN UND LEGENDEN Der berüchtigte »Annex B« war nicht der Grund für den Abbruch der Verhandlungen, wohl aber ein Indiz für das Versagen der Diplomatie

Hat die NATO von Slobodan Milose vic etwas so Unmögliches verlangt, daß er nicht anders konnte, als sich einem Krieg zu stellen? An dieser Frage scheiden sich die Meinungen über die Autonomie-Verhandlungen auf Schloß Rambouillet im Februar/März dieses Jahres. Wer sie bejaht, nimmt die Verhandlungen folgerichtig als ein bloßes Vorspiel zum elfwöchigen Luftkrieg wahr, gedacht zur Einstimmung einer kritischen Öffentlichkeit im Westen. Das zentrale Argument dafür ist der berühmte Annex B im militärischen Teil des Rambouillet-Papiers. In diesem Annex - er wurde der jugoslawischen Delegation nach dem Scheitern der Verhandlungen formal zur Unterschrift vorgelegt und von der albanischen Delegation auch tatsächlich unterschrieben - sichert sich die NATO vollständige Bewegungsfreiheit in ganz Jugoslawien. Das sei ein »Freibrief für Militärs«, der hier »erstmals getestet« worden sei (Wolfgang Michal), heißt es heute vielfach. Die SPD-Abgeordnete Andrea Nahles erklärte, mit dem Annex sei »den Serben quasi ein Besatzungsstatut aufdiktiert« worden. Es sei »vollkommen klar« gewesen, so die Grünen-Abgeordnete Angelika Beer, »daß Milosevic so etwas nicht unterschreiben konnte«.

Sind die Serben in Rambouillet betrogen worden? Wer den Vertrag im Wortlaut nachliest, kann in der Tat leicht zu einem solchen Urteil kommen. »NATO-Angehörige«, so heißt es in der umstrittenen Passage des Annex B, »sollen sich mitsamt ihren Fahrzeugen, Schiffen, Flugzeugen und ihrer Ausrüstung frei und ungehindert und ohne Zugangsbeschränkung in der Bundesrepublik Jugoslawien und ihrem Luftraum sowie ihren Territorialgewässern bewegen können. Dies schließt ein, ist aber nicht begrenzt auf das Recht zur Errichtung von Lagern, das Abhalten von Manövern sowie das Recht zur Nutzung sämtlicher Gebiete, die für den Nachschub, Übungen oder Operationen benötigt werden.«

So steht es tatsächlich da. Aus dem Kontext - sowohl des Vertrages als auch der Verhandlungen ergibt sich aber eine ganz andere Bedeutung. Das Kapitel VII des Rambouillet-Papiers spricht eindeutig von der Stationierung einer internationalen Friedenstruppe »im Kosovo«. Nie wollte die NATO ganz Jugoslawien besetzen.

Geht es in einem zwischenstaatlichen Abkommen auch um Truppenstationierung, werden stets auch Abkommen zwischen der Organisation, die Truppen stationiert - also der UNO oder der NATO - und dem Stationierungsland geschlossen. Das kann ein Appendix oder Annex zum eigentlichen Vertrag sein, ein gesondertes Abkommen (wie bei der Stationierung der OSZE-Beobachter Ende 1998), oder es kann über sogenannte Side letters geschehen, die zwischen den Außenministern ausgetauscht werden. Im Vertrag von Dayton sind diese Fragen im Appendix B zum Annex 1-A geregelt. Die oben zitierte Passage aus dem Rambouillet-Papier ist wörtlich aus diesem Vertrag abgeschrieben. Nur, wo in Rambouillet »Bundesrepublik Jugoslawien« steht, hieß es in Dayton »Bosnien und Herzegowina«. Vertragstechnisch war es nicht ganz sauber, im Rambouillet-Vertrag die Details der Stationierung in einen Annex zu fassen, da - anders als in Dayton - die andere Verhandlungspartei, sprich: die Kosovo-Albaner, ja niemandem die Zustimmung zur Stationierung geben mußte. Ein bilateraler Side letter des jugoslawischen Außenministers an seine Kollegen in der Kontaktgruppe - gleichen Inhalts - wäre passender gewesen. Aber damals ahnte wohl niemand, daß die kleine Unkorrektheit einmal den Anlaß für ein großes Mißverständnis bilden könnte.

Warum aber hat US-Unterhändler Christopher Hill, der das militärische Abkommen einschließlich des Annex B den Rambouillet-Parteien vorgelegt hat, in dem Annex überhaupt so weitgehende Rechte für die Friedenstruppe verlangt? Sein EU-Kollege Wolfgang Petritsch gibt dafür eine plausible Erklärung: Man habe in das Draft Agreement, den Entwurf, einfach die bequemste Regelung hineingeschrieben. Es wäre tatsächlich praktischer gewesen, wenn man die Friedens truppe über Kroatien oder Ungarn und dann über Serbien hätte dislozieren können, statt - wie es dann kam - über Saloniki und Mazedonien. Niemand wollte in Serbien Manöver abhalten. Schon der Verdacht zeugt im übrigen von einer lebensfernen Sicht auf Diplomatie. Bei völkerrechtlich wirksamen Verträgen wird nie eine Partei versuchen, die andere einfach auszutricksen; man legt Wert darauf, daß die andere Seite die Konsequenzen versteht. Im Falle Jugoslawiens mußte man da keine Sorgen haben. Das Land verfügt über eine hervorragend geschulte Diplomatie aus der Zeit, als es die Bewegung der Blockfreien anführte. Der serbische Präsident Milan Milutinovic, der die Rambouillet-Verhandlungen in der zweiten Phase de facto führte, war früher Außenminister und davor ein sehr erfolgreicher Botschafter.

Doch zweifellos hat sich die nachlässige Formulierung von Maximalforderungen als propagandistischer Nachteil herausgestellt. Milutinovic nutzte ihn; schon bei seiner Pressekonferenz im Pariser Kongreßzentrum Kléber deutete er an, daß die NATO »geheime Absichten« verfolgt habe. Journalisten fragten erst später nach und bekamen dann den Annex B vorgelegt. So erklärt sich der dreiwöchige Zeitverzug, mit dem das Thema in die deutsche Presse (taz) geriet und für Empörung sorgte. Regierungspolitiker, die (wie Fischer in der Zeit) darauf angesprochen wurden, reagierten schwach. Sie hatten die Bedeutung der Debatte wahrscheinlich selbst nicht verstanden oder scheuten sich, die taktische Ungeschicklichkeit zuzugeben.

Die Rambouillet-Verhandlungen sind also nicht am Annex B gescheitert. Daß das Unternehmen ergebnislos endete, lag vielmehr an der Weigerung der jugoslawischen Seite, weder die NATO, noch überhaupt eine internationale Friedenstruppe, auch eine auf das Kosovo beschränkte, zu akzeptieren. Diese Weigerung läßt sich an den politischen Statements Belgrads ablesen. Bis zum Tag des Verhandlungsbeginns wurde - so bei Tanjug und in der Politika nachzulesen - die bekannte Position wiederholt, kein ausländischer Soldat werde jugoslawischen Boden betreten. Der damals für die Außenpolitik zuständige Vize-Premier Vuk Draskovic hatte dagegen schon im Januar gesagt, man können »unter Umständen« eine UN-Friedenstruppe akzeptieren. In der ersten kritischen Phase der Rambouillet-Verhandlungen wiederholte er den Vorschlag. Die jugoslawische Delegation griff ihn aber nicht auf.

Es ist bekannt, daß die jugoslawische Seite die ersten neun Tage lang starr blieb. Die Unterhändler bemühten sich in dieser Phase, wenigstens die albanische Delegation zu Zugeständnissen zu bewegen. Die Albaner wollten, daß nach einer dreijährigen Übergangsphase ein Referendum über den endgültigen Status der Provinz entscheiden sollte. Die Unterhändler wollten dagegen - gemeinsam mit der jugoslawischen Seite - eine Dauerlösung durchsetzen. Als die Albaner nach mehr als einer Woche Bewegung zeigten, wurde auch die jugoslawische Delegation zugänglicher und begann, ernsthaft zu verhandeln - wenn auch nur über das Autonomiestatut, noch nicht über den militärischen Teil. Dann aber - nach drei Tagen - verhärtete sich deren Position wieder, offenbar auf eine Anweisung aus Belgrad hin. Als Milutinovic eintraf, focht er eine Kontroverse mit dem faktischen Verhandlungsführer Ratko Markovic aus und ließ die Verhandlungen endgültig scheitern.

Aus Belgrader Sicht ist Rambouillet an der Sturheit gescheitert, mit der der Westen auf der Stationierung eines NATO-Kontingents beharrte. Auch im Westen hat diese Position einige Fürsprecher. »Man hätte doch die Autonomieregelung verabschieden und ihre Absicherung zunächst der Politik überlassen können«, schrieb der deutsche Friedensforscher Ernst-Otto Czempiel. Das haben die Unterhändler der USA und der EU in der Tat nicht gewollt. Man kann auch mit guten Gründen daran zweifeln, ob ein solches Vorgehen eine Perspektive gehabt hätte. Längst hatten sich zuviel Haß und Mißtrauen angesammelt, als daß beide Seiten ohne straffe internationale Vermittlung und exekutive Gewalt einer Friedenstruppe ein Abkommen hätten einhalten können. Vielleicht hätte man es zur Unterschrift gebracht; der Konflikt wäre dadurch nicht beendet worden.

Ohne Friedenstruppe ging es nicht. Wer hätte den Abzug der Armee überwacht, wer die UCK entwaffnet? Jedes einzelne dieser Probleme hätte ein Abkommen zum Scheitern gebracht. Der Krieg wäre nicht zum Stillstand gekommen.

In einem wichtigen Punkt hat die Kritik an Rambouillet aber recht: Die Drohung mit Militärschlägen war dem Erfolg der Verhandlungen nicht dienlich. Die eine Seite, Belgrad, stand unter militärischem Druck, die andere, die albanische, nicht. So wurde aus dem Verhandlungsangebot ein Diktat für die eine Seite. Daß es abzüglich dieser Drohung kein Diktat war, läßt sich aus den relativen Erfolgen der Rambouillet-Verhandlungen ablesen: Immerhin ist es gelungen, den Albanern das Referendum nach drei Jahren auszureden und ihnen damit eine wesentliche Forderung abzuhandeln. Auch wenn Teilnehmer der albanischen Delegation später eine irrige Darstellung verbreitet haben - das in Rambouillet verhandelte »Interims-Statut« wäre in Wirklichkeit eine Dauerlösung gewesen, denn es konnte nach dem Ablauf von drei Jahren nur mit Zustimmung beider Seiten geändert werden. In der Atmosphäre extremen Mißtrauens aber, die durch die militärische Drohung geschaffen wurde, ließ sich dieser Sieg über die Albaner der serbischen Seite nicht mehr verkaufen. Jedes Nachgeben Belgrads wäre nicht als Gegengeschäft, sondern als Erfolg der militärischen Drohung aufgefaßt worden. Selbst wenn man einen Luftkrieg für sinnvoll hielt, war es unnötig und kontraproduktiv, die Drohung damit über die Zeit der Verhandlungen aufrechtzuerhalten. Genauso gut hätte man die Drohkulisse ab- und nach Scheitern der Verhandlungen bei der nächsten Gelegenheit wieder aufbauen können.

In den Wochen vor den Verhandlungen hat sich Belgrad vor allem darum bemüht, die militärische Drohung vom Tisch zu bringen; auch viele westeuropäische Diplomaten waren darüber nicht glücklich. Besser wäre ein Arrangement gewesen, das es Milosevic erlaubt hätte, wenigstens das Gesicht zu wahren. Allerdings hätte das Konsequenzen gehabt: Bei Äquidistanz zu den Verhandlungspartnern hätte der Westen sich unmittelbar der Frage zuwenden müssen, wie sollte denn das von Sanktionen zerstörte Jugoslawien mit Milosevic an der Spitze wieder aufgebaut werden? Den Verhandlungen hätte dieser Zwang gut getan: Man hätte neben den sticks auch carrots im Angebot gehabt. Unter der Drohung aber war das Beste, was Milosevic erreichen konnte, das Ausbleiben der Luftangriffe.

Danach hat sich auch bis heute nichts geändert. Nach wie vor stehen Versuche, die Region zu stabilisieren, vor dem unauflösbaren Widerspruch, daß der wichtigste Krisenproduktionsmechanismus in Belgrad nicht beeinflußt werden kann.

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