Kein Impfstoff für die Palästinenser

Westbank/Gaza Israel wäre als Besatzungsmacht verpflichtet, die besetzten Gebiete mit Vakzinen zu versorgen – hält sich aber zurück
Ausgabe 13/2021
Eine junge Frau in Gaza
Eine junge Frau in Gaza

Foto: Mohammed Abed/AFP/Getty Images

Das Coronavirus hat nicht vor dem von Israel besetzten Westjordanland und dem Gazastreifen Halt gemacht. In der Westbank wurden schon Anfang Februar etwa 115.000 Infektionen gezählt, Tendenz steigend – etwa 1.400 Tote waren bis dahin zu beklagen. Die Angaben für den Gazastreifen mit 2.471.000 Einwohnern lagen Ende Februar bei 56.500 Infektionen und 560 Toten bis dahin. Während sich Israel dafür feiern lässt, die höchste Impfrate weltweit vorweisen zu können, kämpfen die Palästinenser darum, wenigstens einige Dosen Vakzin egal welches Herstellers für das medizinische Personal zu erhalten.

Jedermann applaudiert Israel, die Regierungschefs Dänemarks und Österreichs pilgern sogar nach Jerusalem, um an offensichtlich reichlich vorhandenem Impfmaterial zu partizipieren. Verträge mit diesen Staaten sind allemal lukrativer als mit dem armen Palästina, das sich die teuren Präparate von Pfizer und Moderna ohnehin nicht leisten kann. Schon am 22. Dezember 2020, als die israelische Gesundheitsbehörde begann, die eigene Bevölkerung flächendeckend zu impfen, haben zehn israelische, palästinensische und internationale Gesundheits- und Menschenrechtsorganisationen von der Regierung Premier Netanjahus gefordert, Impfstoffe auch für die besetzten Gebiete bereitzustellen. Israel sei dazu nach Artikel 56 der IV. Genfer Konvention von 1949 verpflichtet. Darin heißt es, eine Besatzungsmacht habe „im vollen Umfang der ihr zur Verfügung stehenden Mittel die Pflicht, in Zusammenarbeit mit den nationalen und lokalen Behörden die medizinischen Einrichtungen und Dienste, die öffentliche Gesundheit und die Hygiene im besetzten Gebiet zu gewährleisten ...“. Besonders verwiesen wird auf prophylaktische Maßnahmen, um etwa Epidemien zu bekämpfen.

Die genannten Organisationen haben davor gewarnt, den bis dahin in Israel nicht zugelassenen russischen Impfstoff Sputnik V an die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) zu liefern. Dies würde der bisherigen Praxis des israelischen Gesundheitsministeriums widersprechen, keine Medikamente in die besetzten Gebiete zu liefern, die für die eigene Bevölkerung nicht zugelassen sind.

Verstoß gegen Oslo-Vertrag

Nach Angaben des Fatah-Politikers Hussein al-Sheikh, der für die Koordination mit Israel verantwortlich ist, hatte die PA Ende Dezember um die Lieferung von 10.000 Dosen Impfstoff gebeten, um zunächst medizinisches Personal zu immunisieren. Doch hatte Israel zu diesem Zeitpunkt Lieferungen erst für den Augenblick angekündigt, in dem die eigene Kampagne beendet sein werde. Die etwa 133.000 palästinensischen Arbeitskräfte, die in den Siedlungen oder direkt in Israel beschäftigt sind, wurden hingegen geimpft.

So standen der PA zunächst nur 2.000 Moderna-Impfdosen zur Verfügung, 3.000 sollten folgen, aber mit Sputnik V, wie Nachfragen in Gaza ergaben. Eine derart geringe Menge für über zwei Millionen Palästinenser lässt sich nur als besonders zynische Form der Verweigerung deuten. Das können auch die 20.000 Dosen Sputnik V nicht kompensieren, die mit dem COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation (WHO) aus den Vereinigten Arabischen Emiraten in den Gazastreifen geliefert wurden. Daraus erwächst keine wirksame Hilfe bei ansteigenden Infektionszahlen, auch wenn die palästinensische Gesundheitsbehörde inzwischen Sputnik V für die Westbank und Gaza freigegeben hat.

Israel begründet seine Weigerung damit, dass nach Artikel 17, Annex 3 des II. Osloer Abkommens von 1995 die PA für die medizinische Versorgung in den besetzten Gebieten, zu denen seinerzeit noch der Gazastreifen zählte, verantwortlich sei. Unter Punkt 1 ist formuliert: „Befugnisse und Verantwortlichkeiten im Bereich Gesundheit im Westjordanland und im Gazastreifen werden auf die palästinensische Seite übertragen, einschließlich des Krankenversicherungssystems.“

Obwohl das Oslo-Abkommen heute als politisch tot gilt, besteht es formal rechtlich weiter. Faktisch haben die palästinensischen Behörden ihre Verantwortung jedoch nie in dem vorgesehenen Umfang ausüben können, schon gar nicht im „Gebiet C“, dem größten Teil des palästinensischen Territoriums und dem völlig abgeriegelten Gazastreifen. Der firmiert international weiterhin als besetztes Gebiet, auf das die Genfer Konventionen Anwendung finden. Wie auch immer die Besatzungsmacht ihr Verhältnis zu diesen Entitäten regelt, sie bleibt daran gebunden und kann sich nicht durch eigenmächtige Entscheidungen von Pflichten lösen. Wer die Genfer Konventionen unterzeichnet hat, muss sich daran halten. Für die Vereinten Nationen, ebenso die Europäische Union sollte das ein Anstoß sein, um einzugreifen und die medizinische Versorgung der palästinensischen Bevölkerung zu sichern.

Norman Paech ist Jurist und emeritierter Professor für Politikwissenschaft und Öffentliches Recht. Er lebt in Hamburg

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