In der Mitte der doppelspurigen Trasse vom Airport zum Stadtzentrum der Hauptstadt Niamey verläuft eine eingleisige Eisenbahnstrecke, bis sie im Nichts vor der Stadtgrenze endet. „Ich weiß nicht, was das soll. Noch nie fuhr hier ein Zug entlang. Warum dann diese Piste?“, rätselt der Taxifahrer Amadou. Die rund 140 Kilometer Schienenstrang waren Teil eines ehrgeizigen Bahnprojekts des französischen Unternehmens Bolloré. Man wollte fünf Länder Westafrikas verbinden. So der Plan, bis 2015 in Benin das Vorhaben wegen Unregelmäßigkeiten bei der Vergabe eines öffentlichen Auftrags gestoppt wurde. „Millionen, einfach so abgeschrieben!“, empört sich Amadou, Bürger des ärmsten Landes der Welt.
Heute ist Niger de
t Niger der Staat in Afrika mit der höchsten Rate an europäischen Entwicklungsgeldern pro Kopf der Bevölkerung. Nicht allein wegen der Armut, sondern weil das Land bereitwillig den Gendarmen der EU im Kampf gegen die Migration spielt. Seitdem fließt Geld in die Sahelzone, denn seit den 1990er Jahren ist Niger Transitraum und wird von Migranten aus Zentral- und Westafrika in Richtung Norden, auf dem Weg nach Algerien, Libyen und weiter nach Europa durchquert. Die EU will dem ein Ende setzen.Schon 2015 wurde deshalb von der nigrischen Regierung ein Gesetz erlassen, das die Migration nach Norden kriminalisiert, ohne dass es darüber irgendwelche Debatten im Land gegeben hätte. Tatsächlich wirksam wurde das Dekret jedoch erst, nachdem Kanzlerin Angela Merkel im Oktober 2016 Niger besucht hatte. „Es war ein Schlüsselmoment“, sagt ein einheimischer Doktorand, der über die Folgen der europäischen Migrationspolitik in Niger forscht, aber nicht namentlich genannt werden will. „Danach wurde es Ernst mit dem Gesetz“, fügt er hinzu. Inzwischen gehen die Zahlen der Transitmigranten zurück, und die Transitwirtschaft kommt zum Erliegen. Geld aus Europa soll den betroffenen Menschen helfen, die bittere Pille zu schlucken. Zum Beispiel denen in Agadez, der letzten Stadt im Norden, in der viele von den Migranten profitiert haben. „Es waren die Verkäufer auf den Märkten, die Brillen, Handschuhe, Zelte und Decken – alles, was man in der Sahara so braucht – anboten. Auch Frauen, die Wasser und Eis verkauften oder Essen für die Migranten zubereiteten oder Zimmer vermieteten – alle machten ihr Geschäft. Dazu kamen Busunternehmen und die Besitzer der Fahrzeuge, die man für die Wüste mieten konnte“, erzählt der Doktorand. „Das alles ging verloren.“Nach Schätzungen des Regionalrats von Agadez profitierten 100.000 Menschen indirekt vom Geschäft mit der Migration. Dass diese Einnahmequelle nun weitgehend entbehrt werden muss, ist ein harter Schlag für eine Region, die zurzeit auch unter dem niedrigen Preis für Uranerz leidet, das zu 40 Prozent den Uranbedarf Frankreichs abdeckt. Es gab Hunderte von Entlassungen in den Minen nördlich von Agadez. „Die Projekte, die mit dem Geld der EU finanziert werden, ersetzen nicht die Verluste bei der Migration“, meint Harouna Mounkaila, Professor an der Universität von Niamey. „Vor allem Eigentümer der Fahrzeuge für die Sahara fühlen sich geschädigt.“ Zwischen 300 und 350 Wagen wurden konfisziert, für viele Nigrer eine Schikane des Staates.Ehemalige RebellenMigration galt in Niger lange Zeit nicht als illegal, was zur Konsequenz hatte, dass auch Schlepper nicht als Kriminelle gesehen wurden. Als 2017 Fernsehbilder des US-Kanals CNN auftauchten, die zeigten, dass Migranten in Libyen wie Sklaven verkauft wurden, glaubten viele in Niger – auch Professor Mounkaila und der Doktorand – zunächst an eine erfundene Story. Da dieser Sklavenmarkt aber real war, konnte die EU so tun, als würde sie mit ihrer Politik Menschenleben retten und nicht den Weg nach Libyen sperren, um Menschen schon in Afrika von Europa fernzuhalten.Allerdings sprechen die Zahlen der Internationalen Organisation für Migration (IOM) eine andere Sprache. Nicht nur die Zahl der Ertrunkenen im Mittelmeer hat bei insgesamt abnehmenden Migrantenzahlen zugenommen, auch Todesfälle in der Sahara häufen sich. Durch die Kriminalisierung der Migration sind Touren durch Niger gefährlicher geworden. „Man fährt nachts und benutzt Pisten, die weit weg von Wasserstellen verlaufen. Wege, wie sie die Drogenschmuggler benutzen“, erklärt Professor Mounkaila. Das Schlepperhandwerk hat sich seitdem professionalisiert und verteuert. Die Schlepper verlangen wegen des gestiegenen Risikos mehr Geld. Zumeist seien das ehemalige Tuareg-Rebellen, so Mounkaila, die man nach den Friedensvereinbarungen von 1995 ermutigt habe, im Transportsektor zu arbeiten. Einige der ehemaligen Rebellen haben gewarnt, sie könnten wieder zu den Waffen greifen, erhielten sie ihre Fahrzeuge nicht zurück.Neben dem Anstieg des Banditentums fühlen sich die Menschen im Norden Nigers durch Migranten auf dem Rückweg gestört, die es nicht übers Mittelmeer geschafft haben, dem Inferno Libyen entkommen sind und wieder in Niger landen. Ein nicht abreißender Strom der Rückkehrer, wenn man weiß, dass bis zu 400.000 Menschen aus Ländern südlich der Sahara in Libyen gestrandet sind.Almoustapha Alhacen aus der Stadt Arlit unweit der Grenze zu Algerien erzählt: „Es vergeht kein Tag, an dem nicht Migranten auf dem Rückweg um Hilfe betteln. Was sie in den Aufnahmezentren der IOM bekommen, ist wenig. Sie sind überall in der Stadt zu finden, haben aber oft kein Geld mehr. Verständlich, wenn sich da die Menschen in Arlit und Agadez um die eigene Sicherheit sorgen.“ Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR wird nicht müde zu betonen, dass „Niger das ärmste, aber großzügigste Land der Welt“ sei. Was sicher zutrifft, da neben den Rückkehrern auch Flüchtlinge aus Mali und Nigeria aufgenommen werden, die nach Europa umgesiedelt werden sollen, was freilich sehr langsam vonstatten geht.Professor Mounkaila ist besorgt über die Instrumentalisierung der Migrationsfrage durch die Exekutive von Präsident Mahamadou Issoufou: „Unsere Regierung ist der beste Schüler Europas. Das Geld, das sie kassiert, stärkt das Regime. Niger erlebt eine Regression der Demokratie, aber die Leute wollen es nicht sehen.“ Studenten und Journalisten sitzen im Gefängnis wegen kritischer Äußerungen oder der Teilnahme an nicht genehmigten Demonstrationen. Und Demonstrationen werden selten genehmigt. „Seit Mitte der 2000er Jahre arbeiten wir an einer nationalen Strategie zur Migrationspolitik“, sagt Professor Mounkaila. „Aber durch die Europäer ist daraus nun ein Kompendium zur Bekämpfung illegaler Migration geworden. Doch das liegt nicht in unserem Interesse. Wir müssen unsere Stimme hörbarer machen. Kurz gesagt: Wir hätten anderes zu tun, als uns um den Transit der Migranten nach Europa zu kümmern.“Für den katholischen Pfarrer Mauro, der seit sieben Jahren in Niamey lebt, gären Unmut und Unbehagen der Bevölkerung unter der Oberfläche. Viele würden ihrer Regierung vorwerfen, der Politik des Westens blindlings zu folgen. Dabei gehe es nicht nur um Migration, sondern auch um ein neues Finanzgesetz, das 2019 in Kraft treten soll und Steuererhöhungen vorsieht, weil der Staat – dem Ratschlag des Internationalen Währungsfonds (IWF) folgend – seine Einnahmen verbessern will. Gleichzeitig würden jedoch Großinvestoren in den Genuss von Steuernachlässen kommen, wie das auf Orange, den großen französischen Telekommunikationskonzern, zutreffe.Fremde SoldatenVerdruss entzündet sich ebenso an der Präsenz ausländischer Soldaten in Niger, ein Drehkreuz für den Kampf gegen Dschihadistengruppen in der Sahelzone. Militärs aus Deutschland, Italien wie den USA sind zuweilen im Land und die Franzosen gerade dabei, ein Militärlager in Niamey auszubauen. Die US-Amerikaner haben ein Camp im Osten Nigers errichtet, um von dort bewaffnete Drohnen zu starten. Auch Italien will Soldaten in den Norden Nigers schicken, um bei der Grenzkontrolle zu assistieren. Ein Vorhaben, das noch im Januar 2018 von der nigrischen Regierung blockiert, aber dann doch erlaubt wurde. Insgesamt gibt es neun ausländische Miltärbasen im Land.Wie im benachbarten Mali fühlt sich die Bevölkerung dadurch nicht sicherer, weder vor marodierenden Banden noch vor Attacken der Dschihadisten. Ohnehin ist die fremde Militärpräsenz einfach dekretiert, nicht demokratisch entschieden worden. Dass US-Soldaten im Land stationiert sind, wurde der Bevölkerung erst nach einem Gefecht Ende 2017 bewusst, bei dem vier Amerikaner ums Leben kamen.Placeholder authorbio-1
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