Sie kam wie aus dem Nichts. Eine dieser Musikdateien, von Freund zu Freund verlinkt, nett, kurzweilig, meist schnell vergessen. Doch hier lag der Fall anders, das mit Hide betitelte Stück blieb mit seiner seltsam stillen Tragik in Erinnerung. Oder was war es, das die helle, junge Stimme der Sängerin mitteilen wollte? Euphorie gar? Den Gesang begleitete ein metronomischer Takt, der am Ende im mechanischen Klackern eines Uhrwerks erstirbt, dessen Federwerk die letzte Spannung entweicht.
Unsere flüchtigen Pop-Phänomene entstehen heute fern der Printmedien, im Stille-Post-Prinzip. Das Flüstern verstärkte ein Video: Ein schlanker nackter Körper von Bauchnabel bis Knie vor ochsenblutrotem Hintergrund. Der Körper schwarz-weiß, das Geschlecht verdeckt eine signalrote Flamingoblume, ein Spiel mit den Assoziationen des schildförmigen Hochblatts und des aufragenden Blütenstands.
Über die Künstlerin, die sich Twigs nannte, war nichts zu erfahren, derweil drei weitere Stücke nebst ähnlich künstlerisch reduzierter Videos erschienen. Dann sah man die Britin im Herbst 2012 auf dem Cover des trendgebenden Magazins i-D, als eines von mehreren hoffnungsvollen Gesichtern der „Just Kids“-Ausgabe. Kids, die bald vergessen sein werden? Längst regiert routinierter Zynismus die Pop-Wahrnehmung, stets geht man davon aus, dass etwas nur clever lanciert worden ist. Doch von wem? Twigs’ vier Stücke erschienen als Privatpressung auf Vinyl. Auch ließ sich die Musik kaum verorten. Man einigte sich auf R&B mit diversen Zusätzen: „Dark“, „Alternative“ oder gar „Gothic“.
Klassischer Tanz
2013 musste Twigs sich nach Beschwerden einer gleichnamigen Band umbenennen. Als FKA twigs – Formerly Known As twigs – veröffentlicht sie nun ihr Debütalbum. Dieser Anlass führt sie schließlich auch für Interviews nach Berlin. Die 1988 als Tahliah Barnett Geborene wirkt trotz ihrer augenscheinlichen Liebe für auffällige Looks zurückhaltend, fern von Star-Ambitionen, eher wie jemand, der einfach etwas anders tickt. Und sie beschreibt erstaunlich präzise, was sie tut. Die Eigenheiten so mancher Songs führt sie auf ihre klassische Tanzausbildung zurück: „Ich habe durch den Tanz verstanden, dass in einem Stück alles möglich ist, man kann das Tempo variieren oder die Sounds, man ist frei, muss nicht allen Details des Songs folgen. Das hat mir einen anderen Blick auf die Grenzen gegeben, an die sich so vieles in der Popmusik hält.“ Dieses physische Verständnis von Musik ist in den langsamen, gar nicht so eingängigen Stücken zu erkennen. Vertonter Tanz, nicht Tanzmusik, sondern die beweglichen Skulpturen des Balletts, zurück in Musik überführt.
In der damit gestifteten Verwirrung liegen Assoziationen zur jungen Kate Bush nahe. Erst kürzlich konnte man anlässlich von Alfred Bioleks 80. Geburtstag noch einmal sehen, wie die damals 19-jährige Kate 1978 in Bio’s Bahnhof exzentrisch tanzend Wuthering Heights vortrug – und eine Weltkarriere begründete.
Doch FKA twigs ist kein Wunderkind. Da ist etwas anderes, was sie ausmacht. Ihre Teenager-Helden, erzählt sie, waren die New Romantics aus den frühen 80ern. Jene Clubkultur, mit der Ex-Punks einen extrem artifiziellen Glam schufen, mal spielerisch wie Adam and the Ants, oft düster wie Visage, doch stets bemüht, möglichen Festlegungen zu entkommen. Hier assoziiert sich FKA twigs: „Die New Romantics konnten sich heute so, morgen so stylen und geben, gerade wie es der Stimmung entsprach. Ich denke, diese experimentelle Freiheit habe ich mir bewahrt, ob im Sound oder als Ästhetik.“
Bling-Bling und Stilfragen
Diese Freiheit, sagt sie noch, habe sie vor allem bei Malcolm McLaren und Siouxsie and the Banshees gefunden. Siouxsie and the Banshees’ (noch nicht sehr neu-romantisches) Debütalbum The Scream war ein monolithisches Manifest, so eingebunden wie fremd in seiner Welt des Jahres 1978. Ein eigener, anfangs gleichförmig scheinender und sich dann zusehends öffnender Kosmos, so wie jetzt FKA twigs’ erstes Album LP1. Das Indie-Label Young Turks (zu Geld gekommen mit der Band The xx) ließ ihr offensichtlich den Freiraum, den eine große Plattenfirma einer jungen Frau mit ihrer Stimme und Erscheinung nie zugestanden hätte. Man denke nur an ein vergleichbares Internetphänomen, die US-amerikanische Sängerin und Rapperin Azealia Banks. Nach ihrem Stück 212 anno 2011 wie wild umworben, unterschrieb sie bei Universal Music. Die Veröffentlichung eines Albums wurde dann nahezu zwei Jahre hinausgezögert, vermutlich begleitet von endlosen Meetings zu Stilfragen und Hitpotenzial. Am 11. Juli dieses Jahres verkündete die Künstlerin, ihr Vertrag sei aufgelöst und sie endlich frei.
Das Neue an Azealia Banks’ Stil war eine Referenz auf die ganz frühen 90er, die Kultur des Voguing und den kurzlebigen Stil Hip House. Darüber hinaus präsentierte sie sich nicht so fern der stereotypen Bling-Bling-Kultur des R&B. Anders FKA twigs. Es mag am Identitätsspiel der New Romantics liegen oder aber auch an der seit jeher größeren Offenheit britischer Popkultur. Eine Prägung jedenfalls jenseits von Gucci, eher dem verbunden, was New-Romantic-Veteranen dazu veranlasste, einen Blog mit Fotos aus alten Tagen The Dangers of going home zu betiteln. Kommt ihr das bekannt vor? „Oh ja! Meine Freunde und ich sind in Südlondon oft in Auseinandersetzungen geraten. Ich bin dann in den Kiosk an der Ecke geflohen und der Besitzer eskortierte mich heim. Am Ende zeigt es einem nur, ob man die Intoleranz der Anderen ertragen kann.“
Aus Erfahrungen wie dieser erwachsen andere Statements des Selbst, als sie der R&B in den vergangenen Jahren zu bieten hatte. Nicht die Toughness der jungen Frau, die sich alles selber kaufen kann: „Mitunter hat die Kraft, die in der Musik liegt, für mich fast etwas Irres, aber das muss ich nicht proklamieren, indem ich davon singe, wie unabhängig ich doch sei. Ich glaube, es ist offensichtlich, dass ich ein starkes Mädchen, na, fast eine Frau bin. Ich schreibe meine Stücke, produziere sie und bin die Regisseurin meiner Videos. Verletzlichkeit kann dann auch sexy sein.“
So kreist man um diese sonische Fragilität, um das, was sie andeutet und nicht explizit sagen mag. Es wäre ein Leichtes, sie in ihrem Nichtentsprechen anzugreifen, ihr die Ambivalenz der Videos oder die Passivität in manchen Texten vorzuhalten. Doch genau das ist Pop: Er überwindet dogmatische Zuschreibungen, rüttelt an Identitäten und versetzt Grenzen. Lange jedenfalls keine Musik mehr gehört, die so wenig passt, sich Genres entzieht und so das Herz der Popmusik schlagen lässt: das Recht auf sich selbst, das Recht, nicht zu passen. FKA twigs erfindet sich, wir hören und schauen ihr zu, und vielleicht erweitert sie dabei sogar ein wenig unsere eigene Welt.
LP1 FKA twigs Young Turks/XL/Beggars 2014
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