Kalte Füße im Dienst des Tao

Alltag Leo Fischers Hund heißt "Lohengrin", ansonsten aber ist sein Leben der östlichen Weisheit verpflichtet. Besuch bei einem Lehrmeister

Das Tao kam zu Weihnachten. Am Heiligabend des Jahres 1981 saß Theo Fischer in seinem Haus in Karlsruhe und trank gerade einen Aperitif, als er in der Brust einen heftigen Schmerz spürte - "wie ein eiserner Reif, den jemand langsam zudreht". Fischer dachte: "Jetzt stirbst du!" Es folgte ein zweiter Gedanke: "Wenn du das überstehst, dann hörst du auf."
Er musste weniger überstehen als befürchtet. "Es war nur eine vegetative Dystonie", sagt er heute selbstironisch. Trotzdem hat Fischer aufgehört. 20 Jahre lang hatte er als Unternehmensberater gearbeitet, hatte "viel Geld verdient und noch mehr ausgegeben". Das alles interessierte ihn nicht mehr.
Inzwischen ist Theo Fischer 70 Jahre alt. Mit seiner Frau Sabine lebt er in einem kleinen Gehöft in Murazzano, einem Ort in der norditalienischen Region Piemont. Die Lage des Anwesens ist paradiesisch. Auf den umliegenden Hügeln wird Wein angebaut, in der Ferne sieht man die schneebedeckten Gipfel der Ligurischen Alpen. Mit dem Auto ist man in weniger als einer Stunde an der Riviera.
Ende März blühen im südlichen Piemont schon Kirschbäume und Nussbäume. Am Karfreitag ist es in diesem Jahr noch einmal kalt geworden. Theo Fischer hat ein Kaminfeuer angemacht. Wir sitzen im Wohnzimmer. "Wie sind Sie denn an dieses Anwesen gekommen?", frage ich. "Hat auch da das Tao eine Rolle gespielt?" Theo Fischer zieht die buschigen Augenbrauen hoch. "Das Tao spielt bei allem, was wir tun, eine Rolle, auch beim Klospülen."
Er kann ziemlich schroff sein. In diesem Fall ist die Schroffheit pädagogisch gemeint. Fischer spielt auf den chinesischen Weisen Tschuang tzu an, den er in einem seiner Bücher zitiert. Auf die Frage, wo das Tao denn sei, hat Tschuang tzu geantwortet: "In einem Scheißhaufen." Soll heißen, das Tao ist überall. Es ist der Urgrund alles Seienden, allen Geschehens, aller Gedanken und Gefühle - ein "göttliches" Prinzip. Deshalb kann man, selbst wenn man wollte, dem Tao auch gar nicht entrinnen. Daraus folgert der Taoist: Für ein Gelingen des Lebens kommt es darauf an, dass man sich der Weisheit des Tao anvertraut. Theo Fischers jüngstes Buch rät schon im Titel: Lass dich vom Tao leben.
Wie macht man das? Ich bin nicht der Einzige, der von Fischer Näheres erfahren will. Für den Abend haben sich in Murazzano 20 Leute zu einem knapp zweitägigen Seminar angesagt. Bis dahin ist noch eine gute Stunde Zeit.
"Wir haben ein Vertrauen in das Leben." Das hatte Theo Fischer schon, bevor er vom Tao wusste. In den achtziger Jahren las er Alan Watts´ Buch "Der Lauf des Wassers". Da fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: "Mensch, das ist ja die Art, wie wir leben!", sagte er zu seiner Frau. "Du, das Ding hat jetzt ´en Namen." Der Name lautet Tao. Theo Fischer hielt den Schlüssel zum Verständnis seines Lebens in Händen. Er konnte nun seine Erfahrungen schlüssig interpretieren und hat dies in mehreren Büchern getan.
Als erstes schrieb er Wu wei - die Lebenskunst des Tao, ein Buch, das sich seither rund 10.000 Mal im Jahr verkauft. Die Lebenskunst des Tao besteht im "Wu wei", im "Nicht-Handeln". Das ist freilich nur der Versuch einer Übersetzung. Es geht nicht darum, die Hände in den Schoß zu legen; gemeint ist vielmehr: nichts erkämpfen, nichts erzwingen wollen und nicht allzuviel vom Denken erwarten. Wir denken in den Kategorien von Ursache und Wirkung. Dazu gebrauchen wir den Verstand. Das verstandesmäßige Denken aber schränkt unsere Möglichkeiten auf fatale Weise ein, denn es arbeitet nur mit der Vergangenheit. Aus den Erfahrungen der Vergangenheit schließen wir auf die Zukunft und missachten die Gegenwart. So sind wir nicht nur blind und taub für das Hier und Jetzt; wir werden zunehmend unfähig, überhaupt noch etwas Neues zu erfahren - so sehr ist unsere Wahrnehmung von der Vergangenheit bestimmt, in der der Verstand herumrührt wie in kaltem Kaffee.

Stehen Entscheidungen an, ist der Verstand ein schlechter Ratgeber. Jeder kennt die Situation: Sagt das Herz "ja", sagt der Verstand "ja aber". Das ist bei existenziellen Entscheidungen nicht anders als bei alltäglichen - ob es um einen neuen Job geht, um eine neue Beziehung oder nur um ein neues Fahrrad. "Das alte ist doch noch gut genug!", wendet der Verstand ein. "Ein neues Fahrrad wird dir nur geklaut!" Der Verstand ist immer darauf aus, Risiken zu vermeiden oder, wo sie sich nicht vermeiden lassen, möglichst gering zu halten. Über dem Vermeiden von Risiken kann man leicht das Leben versäumen.
Im Grunde, meint Theo Fischer, ist alles ganz einfach: Steht man vor einer Entscheidung, so bringt es nichts, das zugrunde liegende Problem mit dem Verstand zu analysieren. Es reicht aus, das Problem anzuschauen. Die Entscheidung stellt sich dann von selbst ein und kann intuitiv erfasst werden. Die ganze Kunst besteht darin, das Gespür dafür zu entwickeln. Eine intuitiv getroffene Entscheidung müsse man nie bereuen, betont Fischer. So wie er die Entscheidung, mit der Existenz als Unternehmensberater zu brechen, niemals bereut hat.
Das Einfache ist bekanntlich das Schwierigste. Schon der Weg nach Murazzano ist nicht leicht zu finden, man verfährt sich schnell auf den vielen Sträßchen. Dennoch sind die Seminarteilnehmer pünktlich. Sie kommen überwiegend aus Süddeutschland, Frauen und Männer zwischen Ende zwanzig und Mitte sechzig. Unter den Frauen sind viele Lehrerinnen, unter den Männern viele Ingenieure.
Das Seminar findet in einem ausgebauten Schuppen im Erdgeschoss des Anwesens statt. Eine hohe Fensterfront gibt den Blick frei in den Garten und die Hügellandschaft. "Sind alle einverstanden, dass wir uns duzen?", fragt Theo Fischer. Klar sind alle einverstanden. Fischer, von jetzt an also Theo, muss auch sonst keine große Überzeugungsarbeit leisten. Die meisten Teilnehmer haben mindestens eines seiner Bücher gelesen. "Ich wollte dich mal kennen lernen", sagt Gertraud rundheraus. Sie ist mit Anton verheiratet, einem Gymnasiallehrer für katholische Religion, der kurz vor dem Ruhestand steht. Anton sagt: "Ich möchte hier herausfinden, warum ich glücklich bin." Das kann nicht jeder von sich sagen. Viele stellen sich mit Formulierungen vor, die auf Unzufriedenheit schließen lassen. Zum Beispiel Robert, ein junger EDV-Mann. Er suche nach einer "General-Lösung", weil Teillösungen sich immer als unzureichend erwiesen hätten. Man hält sich bedeckt, die Runde ist groß.
Da kommt das Abendessen wie gerufen. Sabine Fischer hat ein Pilz-Risotto zubereitet. Außerdem gibt es Tomaten mit Mozarella und frischem Ruccola aus dem Garten, verschiedene Käse der Region und dazu eine kräftigen roten Landwein. "Wenn hier einer nichts lernen sollte, dann soll er wenigstens gut gegessen haben", scherzt Theo. [Er hat auch die Unterbringung der Teilnehmer arrangiert. Ich bin bei einer Weinbauernfamilie im Nachbarort untergebracht. Dort wohnen auch Barbara, eine Lehrerin aus Baden-Württemberg, und Rudi, ein Ingenieur aus der Schweiz.]
Am nächsten Morgen - Karsamstag - ist es noch ein wenig kälter geworden. Die Hügellandschaft liegt im Dunst. Die Sonne lässt sich nicht blicken. Auch im Seminarraum ist es kühl. Viele haben sich Wolldecken über die Beine geschlagen. Der freundliche Anton bietet mir ein Fell an, das er mitgebracht hat. Trotzdem kriege ich von dem Steinboden kalte Füße.
Theo Fischer verteilt Fotokopien von eigenen Texten. Einer handelt vom Denken, ein anderer wirft die Frage auf, wie frei der Wille ist. Mehrere Möglichkeiten sind vorgegeben, über die wir zu zweit eine Weile diskutieren sollen. Ich gehe mit Gertraud in den Garten. Das Problem des freien Willens bringt uns nicht recht in Schwung, und warm wird uns davon auch nicht. Gertraud blickt auf die Weinberge. Sie habe tatsächlich die Erfahrung gemacht, dass sie Teil eines Ganzen sei, sagt sie. Irgendwann sei dieses Gefühl da gewesen.
Das Seminar geht weiter. Theo fordert uns auf, wir sollten doch einfach mal versuchen, uns mit allem identisch zu fühlen, "zum Beispiel mit dem Kirschbaum da draußen". Ich weiß nicht, wie ich das anstellen soll. Theo sagt, dieser Teil des Seminars sei eben eine Ochsentour, die er uns nicht ersparen könne. Lohengrin, der Dackel, fängt an zu bellen. Theo schickt ihn hinaus. Manfred meldet sich zu Wort, einer der Ingenieure. Er finde diese Ochsentour doch ziemlich verkopft. "Ich sitze auf Hummeln. Ich brauche Erfahrungen."
Wie gut, dass es wieder was zu essen gibt. Alle stürzen sich auf den Tomatensalat, zu dem Sabine Fischer ein piemontesisches Käsebrot gebacken hat. Die Leichtigkeit, mit der sie gut 20 Leute bekocht, kommt mir taoistisch vor, der Verlauf des Vormittags weniger. Barbara geht es ähnlich. Ich treffe sie am Kofferraum ihres Autos, eine Zigarette rauchend. Didaktisch sei das nicht überzeugend gewesen, sagt sie. Während der Siesta gehe ich mit Rudi in den Weinberg. Er zeigt mir einige Tai-Chi-Übungen. "Merkst du was?" Ja, meine Füße sind wieder warm geworden.
Manfred berichtet, wie er einmal einen Vortrag vorbereitet habe. Auf der Fahrt zum Termin sei ihm dann eine ganz andere Idee gekommen. "Da habe ich das ganze Konzept in die Tonne gehauen." Das Seminar sei dann toll gelaufen. Robert, der EDV-Mann, eröffnet uns, er habe die Erfahrung gemacht, dass es unglaublich gut funktioniere, wenn er Entscheidungen intuitiv treffe. Das könne seinem Verstand schon Angst machen. Nelson Mendela habe gesagt, wir fürchteten uns weniger vor unserem Schatten als vor unserem Licht. Barbara zitiert Hermann Hesse: "Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden . . ."
"Der Impuls des Tao", sagt Theo Fischer, "hat weder Bilder noch Worte noch Gefühle". Wer den Impuls einmal erlebt habe, werde ihn niemals mehr verwechseln können.
Das Abendessen ist wieder hervorragend. Noch nie haben mir Tagliatelle mit Fleischsoße so gut geschmeckt, ganz zu schweigen von dem Vanilleeis mit frischen Nüssen. Auch Rudi meint es gut mit mir. "Das Schicksal will nicht, dass du angestrengt suchst", sagte er ganz unangestrengt, "das Schicksal will, dass du die Bedingungen schaffst, ihm Einlass zu gewähren." Gewiss hat er Recht, aber ebenso gewiss habe ich schon zu viel piemontesischen Landwein getrunken, als dass ich die Bedingungen noch schaffen könnte.
Barbara trinkt Mineralwasser; sie hat es auf sich genommen zu fahren. Während sie durch die engen Kurven braust, schildert sie uns ihre Lieblingskarikatur: Eine Schafherde schläft im Pferch. Zwei Schäfchen heben die Köpfe heraus. Sagt das eine zu dem anderen: "Im Grunde meines Herzens bin ich ein einsamer Wolf."
Am Sonntag herrscht Osterwetter. Schon am Vormittag scheint die Sonne so kräftig, dass das Seminar im Garten fortgesetzt wird. Theo Fischer spricht vom Tod, von der Liebe, von Pseudogefühlen und echten Gefühlen. Alles, was er sagt, erscheint mir wahr, aber es fällt mir schwer, zuzuhören. Die Sonne brennt mir auf den Schädel, aus dem der piemontesische Landwein noch nicht restlos entwichen ist.
Mein Blick fällt auf die blühenden Kirschbäume und Nussbäume. In der Ferne leuchten die schneebedecken Gipfel der Ligurischen Alpen. Wo ist das Tao? Überall natürlich, nur habe ich seinen Impuls nicht verspürt. Aber das kann ja noch kommen.

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