Unser Gespräch fand in der Kunsthalle Dominikanerkirche in Osnabrück statt, kurz vor Beginn einer Ausstellung der Bilderzyklen, mit denen sich die in München lebende Fotografin einen Namen gemacht hat: Das deutsche Wohnzimmer, Jüdische Porträts, Starke Frauen, Spuren der Macht, um nur einige zu nennen. Wuchtige Hammerschläge dröhnen durch den Kirchenraum. Ein Museumsmitarbeiter bringt noch Schrifttafeln an. Herlinde Koelbl lässt sich durch den Lärm nicht beeinträchtigen. Gespräche führt sie voll konzentriert. Sie hält ein hohes Maß an Blickkontakt, versichert sich immer wieder der Aufmerksamkeit des Gegenübers.
Was Herlinde Koelbl macht, das macht sie ganz. "Man muss sich entscheiden: Will ich etwas Authentisches ode
iden: Will ich etwas Authentisches oder will ich etwas Artifizielles machen. Aber nicht halb-halb!" Die Fotografin hat sich für das Authentische entschieden und deshalb, sagt sie, inszeniere sie bei ihren Aufnahmen nicht. "Schau´n Sie!", Koelbl deutet auf ein Porträt Gerhard Schröders, den sie für ihr Buch Spuren der Macht fotografiert hat: "Diese Art Handhaltung, wie Gerhard Schröder sie hat, wie er zum Beispiel die Zigarre hält - das könnten Sie nie so wunderbar inszenieren."Auch die Aufnahmen in ihrem neuen Bildband Schlafzimmer seien nicht inszeniert. Nie, sagt sie, habe sie die Anweisung gegeben, die Leute sollten sich in ihrem Schlafzimmer so oder so aufstellen, sollten diese oder jene Geste machen. Das Resultat ist erstaunlich. Die Menschen, die Koelbl in New York, London, Paris, Rom, Berlin und Moskau fotografiert hat, präsentieren sich dem Betrachter so locker, als hätten sie eine gute Freundin ins Schlafzimmer hereingelassen. "Wie nehmen Sie den Menschen die Befangenheit?" - "Das kann ich Ihnen nicht genau sagen. Ich denke, jeder Fotograf muss es mit seiner eigenen Persönlichkeit tun." Ein Patent-Rezept gebe es nicht. In jedem Fall sei es wichtig, dass der Fotograf sich zurücknehme. Auch müsse man den Leuten das Gefühl geben, "dass sie nicht funktionieren müssen".Das Gefühl der Befangenheit kennt Koelbl auch selbst. "Es gibt Menschen, denen ein Ruf wie Donnerhall vorausgeht." Bei dem amerikanischen Physiker Edward Teller, der als "Vater der Atombombe" gilt, sei das so gewesen. Koelbl hat ihn für ihre "Jüdischen Porträts" fotografiert. Teller war ihr als äußerst schwierig geschildert worden. So habe er im Fernsehen Live-Interviews einfach abgebrochen und sei aus dem Studio gegangen. Der Termin mit Teller sei dann in der Tat schwierig gewesen. Der Physiker wollte sich nicht fotografieren lassen: "Ich kann Ihnen hundert Fotografien geben!" Koelbl hat ihn mit Ruhe und Beharrlichkeit doch so weit gekriegt. "Bleiben Sie einfach so sitzen, wie Sie jetzt sitzen! Sie müssen nichts machen."Streng genommen ist auch das eine Regieanweisung. Die Fotografin räumt ein, dass die Grenze zwischen dem Authentischen und dem Artifiziellen fließend ist. Aber mit Einwänden und Bedenken hält sich Herlinde Koelbl nicht auf. Sie inszeniert nicht, basta. Entschiedenheit ist ein Grund für ihren Erfolg. Man kann es schon an ihrer Aufmachung erkennen. Sie trägt eine schwarze Hose, einen roten Pullover und dazu eine weiße Muschelkette. Schwarz, rot, weiß: auch farblich sind das klare Verhältnisse.Das erste Foto in ihrem Bildband Schlafzimmer zeigt ein Millionärsehepaar beim Frühstück im Bett. Beide telefonieren. Sie streichelt dabei ihren Mops, er macht sich Notizen auf einem Aktenkoffer. Koelbl hat jedes Bild mit kurzen Aussagen der Abgebildeten versehen. "Es gibt keinen Grund, vor zwölf Uhr aufzustehen", hat der Millionär zu Protokoll gegeben. Die meisten Menschen würden ihm den einen oder anderen Grund nennen können. Herlinde Koelbl bestreitet vehement, Reiche und Prominente seien in ihren Bilderzyklen häufiger zu sehen als nichtprominente Menschen. "Die Prominenten bleiben nur stärker im Gedächtnis, eben weil sie prominent sind."In dem neuen Bildband sind Investmentbanker und Künstler aber doch zahlreicher vertreten als Sozialhilfeempfänger und Rentner. Gleichwohl hat Herlinde Koelbl auch diese nicht vergessen. Die Fotografin hat sich ein ehrgeiziges Ziel gesetzt: Einen "Querschnitt der Bevölkerung" möchte sie abbilden, einen "gesellschaftlichen Kosmos" darstellen. Und wirklich hat Koelbl kaum eine gesellschaftliche Gruppe ausgelassen: Alte und Junge, Christen und Juden, Schwule und Lesben, Weiße und Schwarze. Selbst ins Gefängnis ist sie gegangen und hat einen Häftling neben seiner Pritsche fotografiert. Herlinde Koelbls Projekte erinnern an den legendären August Sander und seine Menschen des 20. Jahrhunderts.Natürlich hat die gesellschaftliche Mischung auch einen dramaturgischen Grund. Die edlen Interieurs der Reichen entfalten ihren Glanz erst im Kontrast zu den Rumpelkammern der Armen. Auch würde man der Designer-Betten und Louis-Seize-Kommoden schnell überdrüssig, sähe man nicht auch immer wieder Möbel aus dem Kaufhaus oder gar vom Sperrmüll. Unberechtigt wäre jedoch der Vorwurf, die Fotografin missbrauche die Armen als bloßen Kontrast. "Man muss sich für die Menschen interessieren", sagt Herlinde Koelbl, und dass sie dieses Interesse hat, sieht man den von ihr fotografierten Menschen an, den Reichen wie den Armen.In London hat sie einen kranken älteren Mann aufgenommen. Halbnackt sitzt er auf seiner Bettstatt, Kopf an Kopf mit seiner Mischlingshündin, hinter den beiden eine kahle Wand. "Annie ist sehr feinfühlig", wird der Mann zitiert, "sie spürt, wenn ich Schmerzen habe. Dann liegt sie ganz ruhig neben mir." Auf dem Bücherbord neben dem Bett liegen, sorgfältig aufgereiht, ein paar Münzen. "Ein gutes Foto", sagt Koelbl, "muss Geschichten erzählen."Die meisten Schlafzimmer-Fotos erzählen von Lebensfreude und Lebenslust. Ungeniert räkeln sich die Leute vor der Kamera, ungeniert sprechen sie von ihrem Privatleben. "Unsere Tochter wurde nicht im Bett gezeugt", verrät eine 54-jährige englische Hausfrau. "In einem Augenblick der Leidenschaft brachen wir einen Polizeiwagen auf, dort geschah es." Ein junger Bundeswehroffizier in Berlin mag es auch weniger leidenschaftlich: "Wir kuscheln gerne und sehen im Bett fern." Bei den Russen geht es gleich zur Sache, wenn man einem Moskauer Geschäftsmann glauben darf: "Ein russischer Mann macht es oft und schnell." Auch Prominente lüften die Bettdecke. Christoph Schlingensief sagt: "Was ich im Bett mache? Ich lese, telefoniere und wichse."Der Fotografin selber sind auch weniger freimütige Bekenntnisse nicht zu entlocken. Herlinde Koelbl blockt Fragen nach ihrem Privatleben rigoros ab. Selbst die Frage, ob sie mit einem Partner zusammenlebt, geht ihr zu weit. "Über die Dinge rede ich nicht öffentlich." Um so lieber redet sie von ihrer Arbeit. Sie betrachtet die Arbeit als eine große Erfüllung, ja als Glück. "Ich sehe so viele Leben, die nicht gelebt werden." Sie habe bei ihrer Arbeit auch viele Freunde gewonnen, vor allem bei der Arbeit an den Jüdischen Porträts. Viele der alten deutschsprachigen Juden, die sie fotografiert und interviewt hat, sind inzwischen gestorben. "Aber es gibt immer noch welche, mit denen ich telefoniere." So wichtig ihr die Arbeit ist - sie ist doch nicht alles. "Wenn man nur Arbeit hätte, würde man verarmen." Sie kenne Fotografen, die auch im Urlaub fotografierten. Nicht so Herlinde Koelbl. Wenn sie Urlaub macht, macht sie Urlaub.Ihr erstes größeres Projekt war Das deutsche Wohnzimmer. Der Bildband erschien vor mehr als 20 Jahren. Viele haben gute Ideen, wenige setzen sie auch um. Herlinde Koelbl hat den Mut, die Entschlossenheit und die Ausdauer. Ihre Projekte ziehen sich über Jahre hin. Stets habe sie ohne Vorschuss angefangen und ohne die Zusage eines Verlages. "Bei all den Projekten bin ich immer auf Risiko gegangen." Was sie durch Auftragsarbeit verdient, investiert sie in ihre Projekte. "Sie werden natürlich nie reich, wenn Sie das machen!" Sie lacht.Schwierigkeiten sind für diese Frau nur da, um überwunden zu werden. "Natürlich gibt es kritische Situationen, aber die muss man halt meistern." Auf Interviews bereitet Koelbl sich gut vor - "extrem gut", wie sie betont. Als sie für ihr Buch Im Schreiben zu Haus Schriftsteller besuchte, da hatte sie "praktisch von fast allen alles gelesen". Aber das ist ja Wahnsinn! "Ja", sagt sie, "das war Wahnsinn." Darunter geht es für sie nicht. "Ich finde es schlicht eine Unverschämtheit, wenn man als Fotograf zu einem Schriftsteller kommt, die Sachen nicht gelesen hat, und sagt, den guck ich mir jetzt einfach mal an. Das ist auch eine Respektlosigkeit seinem Werk gegenüber."Respekt ist ihr wichtig. Für ihr Buch Starke Frauen hat sie auch eine Achtzigjährige namens Nina porträtiert, von deren Ausstrahlung sie beeindruckt war. Als Nina die Treppe herunterkam, um zu öffnen, war Koelbl vollends überwältigt: "Eine Haltung! Eine Grandezza! Eine Souveränität! Klar - mit dieser Frau muss ich arbeiten!" Die Grandezza kam nicht von ungefähr; Nina war die Tochter eines russischen Fürsten. In München hatte sie jahrzehntelang in der Kunstakademie Modell gestanden. Für Herlinde Koelbl tat sie es noch einmal. Ohne Scheu zeigte Nina ihren 80-jährigen Körper, und Koelbl hat ihn ohne Scheu fotografiert.Auch sie ist keine junge Frau mehr; die Fotografin hat die 60 deutlich überschritten. - "Haben Sie vor dem Alter keine Angst?" Herlinde Koelbl schüttelt heftig den Kopf. Das Alter, sagt sie, spiele für ihre Arbeit keine Rolle. "Ob man sein Leben lebt oder nicht lebt: das ist entscheidend."Der Bildband Schlafzimmer ist im Knesebeck-Verlag erschienen; 240 Seiten mit 300 farbigen Abbildungen; München 2002
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