Das Herz denkt links

Philosophie Visionär der Freiheit oder doch konservativ? Hegel kann man auch progressiv lesen
Ausgabe 35/2020

Klingt wie Marx, ist aber Hegel: „An einer Stecknadel arbeiten in einer englischen Manufaktur 18 Menschen … Ein einzelner würde … nicht eine machen können.“ Die Arbeit der 18 ist aber „absolut tot“. Dem Autor geht es um entfremdetete Arbeit: Die Produktion von Stecknadeln hat nichts mehr mit den Bedürfnissen des einzelnen Arbeitenden zu tun. Sie macht die Arbeitenden „stumpf“, beschränkt ihre „Geschicklichkeit“, ist „Maschinenarbeit“. Hier geht es um die Degradierung der Arbeitenden zu Objekten, also um Verdinglichung. Und es entsteht die „blinde Abhängigkeit“ einer „ganzen Klasse“ von der Produktion. Wird die Produktion eingestellt, verelenden unzählige Menschen. Sie werden plötzlich „überflüssig und unbrauchbar“. Nicht nur an Marx, sondern auch an Georg Lukács und seine Gedanken zur „Verdinglichung“ erinnert dieses Passage. Aber Hegel selbst würde man sie nicht zuordnen: keine Dialektik, kein Weltgeist — sondern die scharfe Beschreibung einer Wirtschaftsordnung, die gerade erst im Entstehen ist. Er schreibt die Realphilosophie I, aus der hier zitiert wird, zwischen 1800 und 1804.

Zum 250. Geburtstag des Philosophen verhandeln wir nun Hegels Erbe. Es streiten sich Konservative und Liberale: Ist seine Rechtsphilosophie (1820) ein Loblied auf den starken Staat, in dem er sein Misstrauen gegenüber den Bürgern und deren Mitbestimmung ausspricht? Oder ist Hegel ein Philosoph der Freiheit, der die plurale Gesellschaft, die Vernunft des freien Marktes und die Selbstbestimmung des Einzelnen preist? In beiden Interpretationen liegt wohl ein bisschen Wahrheit.

Wie ist man wirklich frei?

Hegel verbindet Staat und Freiheit: Nur als Akteur im Staat ist man wirklich frei. Sein Freiheitsverständnis ist damit vor allem: nicht libertär. Hegel verabscheut einen Begriff von Freiheit, nach dem man frei ist, wenn man machen kann, was man will. Das ist für ihn lediglich Willkür. Wirkliche Freiheit beinhaltet, in vernünftigen Sozialstrukturen als voll anerkannter Mensch vernünftig zu handeln. Für Hegel formt der Staat seine Bürger erst zu solchen Menschen. Defizitär hingegen ist ein Staat, der jedem eine möglichst uneingeschränkte Willkür erlaubt, wie er heute im Neoliberalismus, in rechten Kreisen, oder auch von manchen Corona-Gegnern favorisiert wird. Dieser Staat ermöglicht keine Freiheit.

Neben der Debatte um den konservativen oder liberalen Hegel gibt es den (zumindest in der Analyse) oben zitierten, linken Hegel. Es ist dieser Hegel, der Philosoph*innen der letzten 250 Jahre begeistert, neben Marx und Lukács auch eine Simone de Beauvoir oder einen Frantz Fanon. In der Rechtsphilosophie bleibt Hegel besorgt um die wachsende Entfremdung und das Elend der Arbeiter. Marktwirtschaftlich organisierte Produktion erzeugt notwendigerweise eine Klassengesellschaft: „die niedrigste Weise der Subsistenz, die des Pöbels, macht sich von selbst“. Pöbel ist Hegels Begriff für die in „Abhängigkeit und Not“ lebende Klasse. Durch ihre ausweglose Situation wird diese Klasse unmoralisch. Hegel kritisiert mit dem negativ konnotierten „Pöbel“ also nicht eine soziale Gruppe, sondern eine Gesellschaftsordnung, die diese Gruppe hervorbringt.

Herren und Knechte

Was ist die Lösung für das Elend? Hier zeigt sich, dass Hegel in der Analyse links, in seinen Lösungsvorschlägen aber moderat ist. Statt die freie Marktwirtschaft komplett abzuschaffen, soll sie nur reguliert werden. Klassen sollen beibehalten werden — sie sind nützlich für den Staat. Lediglich die Privilegien der oberen Klassen sollen beseitigt werden. Das sagt schon der frühe Hegel der Realphilosophie. Es erinnert heute an das verlogene Dogma der Segregation in den US-amerikanischen Südstaaten: „separate but equal“ ist eben immer „unequal“.

Eine weitere Stelle in Hegels Werk lenkt spätestens seit Alexandre Kojèves Vorlesungen im Paris der 1930er linke Aufmerksamkeit auf sich: die Herr-Knecht-Dialektik der Phänomenologie des Geistes (1807). Hegel beschreibt einen Zweikampf um absolute Anerkennung. Um dem Tod zu entgehen, unterwirft sich eine Person der anderen und erkennt den Gewinner als ihren Herrn an. Hegel zeigt hier, wie in unserem Bedürfnis nach Freiheit ein Bedürfnis nach Anerkennung steckt. Der Knecht ist „für den Herrn (lediglich wie ein) Gegenstand“. Es besteht also nur „ein einseitiges und ungleiches Anerkennen“ zwischen den beiden. Für Kojève bedeutet diese Passage, dass der Mensch in seinem natürlichen Zustand „immer, notwendigerweise und essentiell entweder Herr oder Knecht“ ist.

Für Simone de Beauvoir im Anderen Geschlecht beschreibt die Position des Knechts auch die Situation der Frau in der Gesellschaft: Sie ist dem Mann untergeordnet, den sie anerkennen muss, der sie aber nicht anerkennt. Allerdings hat sie weder gekämpft noch sich freiwillig untergeordnet, noch hat sie eine Chance, sich durch Arbeit zu emanzipieren, wie der Knecht es tun wird. Frantz Fanon in Schwarze Haut, weiße Masken sieht im Knecht die Lebensrealität der Schwarzen Bevölkerung: degradiert auf die Stufe eines Objekts, werden Schwarze nicht für ihren „menschlichen Wert“ anerkannt. Das liegt vor allem daran, dass sie nicht für ihre Freiheit gekämpft haben wie der Knecht bei Hegel. „Der Schwarze ist ein Knecht, dem es erlaubt wurde, die Haltung des Herrn einzunehmen. Der weiße Mann ist ein Herr, der seinen Knechten erlaubt hat, an seinem Tisch zu essen“ — beidseitige Anerkennung unter Gleichen sieht anders aus. Ob eine sozialkritische Intention wirklich hinter Hegels Herr-Knecht-Passage steht, kann man bezweifeln. Trotzdem ist es der linke (oder als links interpretierte) Hegel, der bis heute fasziniert.

Paula Keller promoviert an der HU Berlin zu Hegel und sozialem Wandel

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