Ihr Jahrhundert

Philosophie Eine Ausstellung im Deutschen Historischen Museum zeigt Leben und Werk von Hannah Arendt
Ausgabe 22/2020

Vieles in Hannah Arendts Werk handelt von der Öffentlichkeit. Nur als Teil des politischen Diskurses sind wir frei, schreibt sie etwa in Freedom and Politics. Freiheit bedeutet dabei nicht die Möglichkeit, zu tun, was man will, sondern sie entsteht durch öffentliches Vertreten meiner Meinung. In der Ausstellung im Deutschen Historischen Museum in Berlin wird nun klar, wie die Denkerin dieses Bekenntnis auch gelebt hat. Auf zwei Etagen lassen sich die hervorragend aufbereiteten öffentlichen Debatten praktisch durchwandern, zu denen Arendt beigetragen und die sie angestoßen hat: Wie beurteilte sie als Jüdin den Zionismus? Was hielt Arendt von der Studentenbewegung der 60er Jahre, was vom deutschen eifrigen Wiederaufbau? Und auch – was bedeutete es, Flüchtling zu sein? Besonders eindrucksvoll sind in der Ausstellung die Video- und Audiobeiträge. Arendt kommt hier entweder selbst zu Wort oder es sprechen Kritiker*innen, Freund*innen und Verehrer*innen über sie.

Akademische Provinz

Eine Ausstellung über Hannah Arendts Schriften kann nur scheitern — denn lesen muss man die Theoretikerin eben selbst. Das Deutsche Historische Museum versucht erst gar keine solche Schau. Stattdessen widmet man sich Arendt als Figur im öffentlichen Diskurs. Weil dieser Ansatz gerade das Fundament ihres Denkens spiegelt, wird sogar eine Verbindung mit der Theoretikerin Arendt erreicht — öffentliches Handeln und Urteilen sind Grundbegriffe ihres Denkens. Das ist eine elegante Hintertür. Und es ist kein Zufall: Arendt trennt Akademisches nicht von Politischem. Allerdings ist der öffentliche Bereich für sie streng separat vom Privaten und vom Sozialen. Was auch Probleme birgt. Denn diese Unterscheidung, und die daraus resultierende Blindheit der Denkerin für Politisches in der privaten und sozialen Welt, gilt es heute zu kritisieren. Die Ausstellung hält sich aber an die Trennung und so erfährt die Besucherin erfrischend wenig über Arendts Privatleben — nur am Rande gibt es ein paar persönliche Gegenstände, Fotos von Freund*innen, und einen obligatorischen Brief von Martin Heidegger, dessen Affäre mit Arendt weltbekannt sein dürfte.

Aus der „akademischen Provinz“ herausgelockt, wie Günter Gaus 1964 formuliert, ist Arendt zeit ihres Lebens laut, mutig und kontrovers. Über die Jüdin Rahel Varnhagen, die im „romantischen“ Berlin einen bekannten Salon führt und die wie Arendt aktuell eine Renaissance erlebt, habilitiert sie bis 1933. Arendt erzählt anhand Varnhagens Leben eine Geschichte erneuter und erneut scheiternder jüdischer Emanzipationsversuche. Mit diesem Varnhagen-Buch fängt die Ausstellung an: Von einer roten Sitznische aus hört man zu, wie Arendt ihr Buch gegen Kritik verteidigt. Auch im Exil in Frankreich und später in New York hagelt es weiter immer wieder Kritik an Arendts Auftritten in politischen Debatten: Sie warnt, dass die Gründung des Staates Israel erneuten Antisemitismus provozieren könnte. Damit eckt sie bei vielen an, auch dem Intellektuellen Gershom Scholem, der einen jüdischen Nationalismus für die angemessenere Position hält. Ihre Thesen zu Gemeinsamkeiten zwischen Nationalsozialismus und Stalinismus provozieren, besonders innerhalb der deutschen Studentenbewegung. Von der hält Hannah Arendt ohnehin nichts — weder gute Theorie noch fähig zur praktischen Organisation, urteilt sie hart. Und dann ist da natürlich der Eichmann-Prozess. Den SS-Obersturmbannführer bezeichnet sie als „größten Verbrecher seiner Zeit“. Aber auch als „Hanswurst“. In ihrer Berichterstattung vom Prozess, 1963 im New Yorker, prägte sie den Begriff von der „Banalität des Bösen“. Schockiert wirft Scholem ihr vor, das jüdische Volk nicht zu lieben. Daran zerbricht die Freundschaft der beiden. Arendt betrübt das. Sie hatte gehofft, „dass einem Menschen mehr wert sind als Meinungen“ – und dass das sowohl für sie als auch für Scholem gelte. Im öffentlichen Diskurs nimmt Arendt sich ernst, aber nicht zu ernst: Man kann Freunde bleiben. Und was wäre ein Streit ohne Humor? Dass dieses Idealbild keinesfalls allgemein geteilt wird, zeigt besonders die Kontoverse um ihren Eichmann-Artikel – „dass ich da noch lachen kann“, nimmt man ihr übel.

Die Diskursteilnehmerin Arendt wird in der Ausstellung zum Vorbild für Zivilcourage. Das zeigt sich vor allem im letzten Raum, in dem Menschen aus verschiedenen Teilen der Gesellschaft über die Wichtigkeit des Urteilens reflektieren. Arendt ermutigt uns, eine Meinung zu haben und sie zu vertreten — auch in unbequemen und konfrontativen Situationen. Dabei sollen wir aber unsere Menschlichkeit behalten, wir sollen sympathisch bleiben, wie Arendt es ist. Das ist vielleicht die größte Stärke der Schau: Sie bringt uns die politische Hannah Arendt näher, zum Schluss mag man sie.

Wagnis der Öffentlichkeit

Bereits in der Antike ist Urteilen eine Tugend der Öffentlichkeit. Dass die Konzepte „frei sein“ und „handeln“ eng miteinander verbunden sind, darüber und dafür schreibt Arendt ein Leben lang. Dass Freiheit heute vor allem im Kontext von Willensfreiheit diskutiert wird, hielt Arendt für eine Verirrung des Christentums. Doch was passiert, wenn unsere öffentlich vertretene Meinung falsch ist? Ihr Freund, der Philosoph Hans Jonas schreibt Arendt einmal, er habe die Erfahrung gemacht, „dass Du Gründen nicht zugänglich bist, auf niemanden hören und immer nur Recht behalten willst“. Taugt die sture Arendt doch nicht zum Vorbild?

An diesem Punkt wird die Ausstellung besonders spannend. Denn sie zeigt noch eine andere, eine einsichtige, lernende Arendt. In ihrer neuen Heimat USA beteiligt sie sich an Diskussionen um die Segregation an Schulen mit einem fragwürdigen Artikel: „Reflections on Little Rock“. Darin spricht sie sich für Rassentrennung aus. Der schwarze Schriftsteller Ralph Ellison reagiert empört: Hannah Arendt „hat absolute keine Vorstellung davon, was in den Köpfen schwarzer Eltern vor sich geht, wenn sie ihre Kinder durch die Reihen feindlicher Menschen schicken. Sie sind sich der Obertöne eines Initiationsritus, den solche Ereignisse für die Kinder darstellen, sehr wohl bewusst. (…) Das ist ein harter Test. Aber wenn das Kind diese entscheidende Prüfung nicht besteht, dann wird sein Leben noch härter sein.“ Natürlich hat Ellison recht. Das erkennt Hannah Arendt, als sie ihm antwortet: „Ihre Bemerkungen scheinen mir völlig richtig. Sie machen mir klar, dass ich einfach die Komplexität der Situation nicht verstanden hatte.“ Öffentlicher Diskurs bedeutet also nicht nur Freiheit, sondern auch Wissensgewinn, wenn man die Größe hat zuzuhören.

Für die männlichen Bürger der antiken Polis mag das Ideal der Öffentlichkeit lebbar sein. Doch was ist mit modernen Flächenstaaten, in denen es viel mehr Menschen und noch mehr Ungleichheit gibt? Die Botschaft der Ausstellung — und auch Arendts gesamte Theorie — scheint unter diesen Voraussetzungen manchmal haltlos idealistisch. Doch schon ihre frühe Auseinandersetzung mit Rahel Varnhagen zeichnet ein konkretes Gegenbild. Statt das „Wagnis der Öffentlichkeit“ eingehen zu müssen, können und müssen wir auch an intimeren Öffentlichkeiten teilnehmen — nach Vorbild von Varnhagens Salon. Rhetorische Kunst wäre dort unwichtiger. Man würde einander sorgfältiger zuhören. Man würde versuchen zu verstehen, nicht zu gewinnen. Auch in diesen Öffentlichkeiten könnten wir frei sein und dazulernen, so wie Arendt von Ellison dazulernt. Dieses Argument stammt von der Philosophin Seyla Benhabib. Ein Gespräch mit ihr wäre Teil des Begleitprogramms der Ausstellung gewesen. Sollte es doch noch stattfinden, muss man auf jeden Fall dabei sein.

Bei einem Thema — dem Feminismus — hat das mit dem Dazulernen jedoch nicht so gut geklappt. Die Ausstellung zitiert Arendt: Die Frauenbewegung sei genauso fragwürdig „wie die Jugendbewegung nur um der Jugend willen“. Für Arendt fehlt es dem Feminismus schlicht an gesamtgesellschaftlicher Relevanz. Das ist schwer zu verdauen, gilt Arendt doch heute neben Susan Sontag und Simone de Beauvoir als eine der größten Denkerinnen des 20. Jahrhunderts. Aber die von Hannah Arendt gepriesene Öffentlichkeit muss und kann schwierige Positionen aushalten.

Info

Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert bis zum 18. Oktober 2020 im Deutschen Historischen Museum

Paula Keller promoviert aktuell an der HU Berlin zu Hegel und sozialem Wandel

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Wissen, wie sich die Welt verändert. Abonnieren Sie den Freitag jetzt zum Probepreis und erhalten Sie den Roman “Eigentum” von Bestseller-Autor Wolf Haas als Geschenk dazu.

Gedruckt

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt sichern

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden