Die mächtigen Patrioten

Gesellschaft & Debatte Geht es in der Flüchtlingspolitik um Macht? Falls ja, dann ist diese eindeutig verteilt. Allerdings nicht dort, wo man sie vermuten würde.

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Dann wird das Volk seinen Kanzler lieben“ - pochte Andrea Nahles (SPD) entsetzt über das Vorhaben Gerhard Schröders (SPD), gezielt Neuwahlen herbeiführen zu wollen. Es war eine Anspielung auf die Fußball-WM 2006 in Deutschland. Schröders Vorhaben, das Günter Bannas in der FAZ im Mai ausführlich rekonstruierte, war der Anstoß für ein Identitätengeplänkel, das bis heute Debatten durchzieht und sich bisweilen in einem Begriff subsumieren lässt: Patriotismus.

Flüchtlinge und Fußball

Auf der Suche nach Identität wird dieser Begriff, Patriotismus, gemieden. Stattdessen begreift der Historiker Herfried Münkler Deutschland als Hegemon Europas; Pegida schreit: „Wir sind das Volk“; in Griechenland werden medial historische Analogien vermittelt; Angela Merkel (CDU) wird nach der Trost spendenden Streicheleinheit für das palästinensische Flüchtlingsmädchen Reem Sahwil international als „kalt“ dargestellt. Und während eine „Leitkultur“ anscheinend gefunden werden muss, erfreut sich der Wikipedia-Artikel zu „Deutschland“ einer rekordverdächtigen Konjunktur.

Alsdann der Spiegel titelt:„Dunkles Deutschland – Es liegt an uns, wie wir leben werden. ...“. Das Magazin thematisiert die Brandanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte, deren Anzahl sich im ersten Halbjahr 2015 laut Bundesinnenministerium auf 202 beziffern lässt. Bundespräsident Joachim Gauck spricht ebenfalls von einem „dunklen“, aber auch von einem „hellen“ Deutschland. Und TV-Moderatorin Maybrit Illner fragt nach „guten“ und „bösen“ Flüchtlingen.

Die Debatten sind entfacht. Analog wie digital. Doch wie sieht es tatsächlich aus, das Deutschland 2015. 2014 war eine Kür: zum beliebtesten Land überhaupt avanciert und dazu noch Fußballweltmeister. Erwartet die Bundesrepublik getreu der Sportsprache ein „Sommermärchen der Moral“, wie es der Journalist Wolfram Weimer ausdrückte, oder kommt es zu einem „Kampf der (Leit)Kulturen“, um eine Theorie des US-Amerikanischen Politologen Samuel Huntington zu zitieren. Eines steht jedenfalls fest, ein politischer Kampf findet bereits statt, jedoch jenseits der Debatte.

Das ist keine Moral

Anders als die Beispiele suggerieren, geht es (noch) nicht um Moral. Der Entschluss der Bundesregierung, hauptsächlich SyrerInnen aufzunehmen, ist ein politischer. Moral ist eine universelle Kategorie. Wer sie anwendet, kann angesichts der 200 Millionen Flüchtlinge weltweit schnell der Heuchelei bezichtigt werden. Auch sind Bilder des Grauens, stammen sie nun vom Mittelmeer oder Sub-Sahara-Afrika, täglich für uns sichtbar. Der Heilige Gral des Asyls erscheint damit nicht universal. Zudem sind Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte nicht moralisch, sie sind politisch. Ebenso wie (Leit)Kulturen, Fußball, und DebattenteilnehmerInnen politisch sind. Im aristotelischen Sinne ist BürgerIn damit ein zoon politikon, ein politisches Tier.

Ein zoon politikon kann sich allein im öffentlichen Raum verwirklichen. Das ist einer der Kerngedanken der republikanisch-politischen Theorie. Deren bekannteste Vertreterin: Hannah Arendt. Ursprünglich eher als elitär denunziert, sagt der Republikanismus sehr viel über das gegenwärtige deutsche Selbstverständnis aus. Seine politische Grundfrage „Wie sollen wir leben?“ ist nicht nur eine grundlegende Version der derzeitigen Regierungskampagne „Gut leben in Deutschland“ (im Rahmen dieser Kampagne traf Merkel übrigens auf das Flüchtlingsmädchen), sie verweist auch auf eine Hervorhebung von Tugendhaftigkeit und Gemeinwohlorientierung, einer nach Normen und Werten fahndenden, fundamentalen Frage. Alle mit politischen Überzeugungen werden jene Frage für sich zu beantworten wissen. Jetzt darf gestritten werden.

Die neue soziale Frage

Der republikanische Fokus liegt auf politischer Selbstgesetzgebung. Autonomie ist eine Grundwert der Moderne, Eigenjustiz jedoch nicht. Und Brandanschläge sind ein extremer Ausleger davon. Flüchtlingshilfe an Bahnhöfen und anderen öffentlichen Orten allerdings ebenso. Beide Ausleger nehmen auf ihre Weise Anteil an den öffentlichen Angelegenheiten. Beide Gruppierungen kommen mit jeweils Gleichgesinnten in ein produktives Verhältnis gemeinsamen Handelns. Die Betonung des Handelns, der Tat, rückt angesichts der Lage auf ironische Art die Tatenlosigkeit in den Mittelpunkt und Hannah Arendt, die die Moderne als „weltvergessen“ kritisierte, wirkt erstaunlich real. Denn wer die politische Realität als Nachrichten in den Medien wahrnimmt, hält sich auf Abstand. Das Reale, es ist abstrakt. Das gesellschaftliche Ordnungssystem damit auch. Dennoch sind konkrete Analogien beobachtbar.

Während der Industrialisierung sind die Menschen in die Städte „geflohen“. In einer Zeit, in der sich der Nationalismus entwickelte, hatten die nach Arbeit suchenden Menschen nichts anzubieten als ihre bloßen Körper. In der heutigen Zeit, wenn von Globalisierung und Massenmedien die Rede ist, strömen Menschenmassen nach Europa, mit nichts anzubieten als ihrer Körper. Mit dem Philosophen Giorgio Agamben gesprochen: Menschen reduziert auf ihr „nacktes Leben“. Das nackte Leben ist Gegenstand der Politik. Asylgesetzgebende Paragraphen, sie sind konkret, und Einzelschicksale sind mit Selbstmordgedanken konfrontiert. Flüchtlinge, sie setzen ihr Leben aufs Spiel, Träumen folgend legen sie es in die Hände von Schleppern, von Paragraphen, von Live-Tickern. Das ist alles andere als abstrakt.

Bisweilen erwartet ein technokratisch-politischer Zeitgeist die Zerbrechlichkeit Einzelner und die geballte Kraft Vieler. Mit Arendt: „Mathematiker, Ingenieure, Architekten, hier ist Eure Aufgabe: Fünf Millionen Flüchtlinge sind innerhalb von fünf Jahren mit jeweils 30 Quadratkilometern gut beheizbaren Wohnraums zu versorgen. ...“. Ist das nicht möglich, wird die Liste der „sicheren Herkunftsstaaten“ erweitert. Hingegen von der Asylliste gestrichen werden Wirtschaftsflüchtlinge. Diese Argumentation betrifft nicht nur die Bundesregierung, auch grüne Länderregierungen und/oder Kommunalpolitiker teilen die technische Sprache. Die Gefahr, eine politische Frage als rein technische zu verkennen, ist groß. Soziale Fragen aber die ALLE etwas angehen, sind konkret und genuin politisch.

Gewalt und Macht

Bernd Ladwig, Professor an der FU Berlin, sieht eine Stärke von Arendts Theorie darin, dass sie „die Verteidigung des Eigensinns politischen Handelns gegen dessen gedankliche Angleichung an Technik“ ermöglicht. Die eigentlich politisch Handelnden sind somit die „Dunklen“ und die „Hellen“, weshalb sie allein die neue soziale Frage beantworten. Für jeden Politologen ist das eine erstaunliche Aussage, ist es heute keine Selbstverständlichkeit, dass BürgerInnen tatsächlich eine Rolle im politischen Prozess spielen. Was aber viel wichtiger ist, wie Ladwig festhält, ist die Tatsache, dass eine politische Zusammenfindung - dunkel oder hell - immer eine Erfahrung von Macht, ja von konkreter Macht, ist.

Die dunkle Macht jedoch, wie sie im gegenwärtigen Deutschland zunehmend zu Tage tritt, ist keine Macht im Sinne Arendts. Sie bestimmt Macht allein normativ, im Miteinander-Reden-und-Handeln innerhalb einer Gemeinschaft. Die Anschläge aber, die pure Gewalt, sie greifen Flüchtlinge, das nackte Leben direkt an. Brutale Gewalt, erkannte die Philosophin Simone Weill, „kann niemals eine souveräne Macht in dieser Welt darstellen. So kann sich eine Welle immer höher und höher erheben, aber an einem bestimmten Punkt erreicht sie ihre Grenze und stürzt in sich zusammen“. Macht hingegen entfaltet sich durch gemeinsame Verständigung. Es wird deutlich, wie auch für Arendt fest steht, dass sich Macht und Gewalt gegenseitig ausschließen. Mit anderen Worten: Macht ist Gemeinwohlorientierung durch Sprache im sozialen Nahbereich. Sie entsteht im öffentlichen Raum.

So wollen republikanisch-politisch Handelnde nicht den eigenen Nutzen maximieren, sondern am Gemeinwohl mitwirken. Eine Mitwirkung, die auf Gefühlen basiert. Und Republikaner schätzen diese Tugenden, die sich in eben jenem Gefühl äußert, das auch Patriotismus genannt wird. Spezifischer ausgedrückt steht der Verfassungspatriotismus jenseits einer ethnisch-kulturellen Bindung für unveräußerliche Menschenwürde mit universaler Geltung. Er drückt die Liebe zum Gemeinwesen aus und zudem ein Handeln, das im vorpolitischen Raum grundlegende Wertvorstellungen unter Beweis stellt. An die Stelle von reflektierender Ratlosigkeit rückt das mächtige, gefühlsbasierte Handeln und damit das Entdecken der eigenen Tatkraft. Hannah Arendt war offen für Neues. Weltoffen und nicht weltvergessen, das Gemeinwesen öffnend, „wie eine Blume zum Licht“.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Paul Felx

Interessen: Kino/TV, BigData, Gesellschaft.

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