Das mikroskopisch kleine, unsichtbare Coronavirus lähmt nicht nur unseren Alltag: Es lässt uns auch in Zeitlupe miterleben, wie dem globalisierten Kapitalismus, so wie wir ihn kennen, die Luft zum Atmen wegbleibt. Mit jedem Tag, der vergeht, scheint wahrscheinlicher, dass unser Wirtschaftssystem nach der Krise nicht mehr das gleiche sein wird.
der Freitag: Herr Schulmeister, lassen Sie uns doch erst mal skizzieren, wie sich die Corona-Pandemie auf die Wirtschaft auswirken würde, wenn Regierungen und Notenbanken nicht eingreifen würden. Wie muss man sich das vorstellen?
Stephan Schulmeister: Wir steuern auf eine weitaus schwerere Krise als 2008/2009 zu, das kann man jetzt schon mit Sicherheit sagen. Einfach weil die Ausbreitung des Virus im besten Fall verlangsamt wird. Das heißt ja zugleich, dass sie sich bis mindestens 2021 fortsetzen wird.
Was wäre die unmittelbare Folge?
Wir müssten bei allen Konsumaktivitäten, die mit der Interaktion von Menschen verbunden sind, also im Tourismus, dem Gastgewerbe, im Kulturbereich, im Grunde bei allen sozialen Dienstleistungen, bei denen Menschen interagieren, mit Rückgängen von 70 Prozent oder sogar mehr rechnen.
Um welchen Zeitraum geht es da?
Das können wir heute nicht sagen. Es kommen ja mehrere Faktoren zusammen: Einmal hat das Coronavirus einen Börsencrash ausgelöst, der jetzt schon katastrophale Dimensionen erreicht. Bis Montag haben die größten Indizes rund 40 Prozent verloren. Das bedeutet, dass zum 31. März, wenn die Bilanzen fürs erste Quartal bestimmt werden müssen, die Banken und Unternehmen die Werte ihres Aktienportfolios massiv nach unten korrigieren müssen. Nach der Lehman-Pleite führte genau dieser Mechanismus innerhalb weniger Wochen dazu, dass das Eigenkapital der Banken verschwand, weswegen die Rettung so teuer war.
Nehmen wir eine Fluglinie wie British Airways. Da hält eine Bank Aktien daran, weil British Airways als solides Unternehmen gilt, fliegen werden die Leute auch immer, dachte man. Auf einmal sind diese Aktien jetzt nichts mehr wert: Ohne Staatshilfen, hieß es gestern, wären die meisten Fluglinien im Mai bankrott.
Richtig. Das würde dann auch dazu führen, dass in all den Ländern, wo die Menschen für ihre Altersvorsorge in Aktien investiert haben, ihre Rentenanwartschaften auf einen Schlag abgewertet sind.
Wie würde sich die Krise dann fortsetzen?
Also, Effekt Nummer eins war der Zusammenbruch eines großen Teils des Dienstleistungskonsums. Effekt Nummer zwei ist die Entwertung des Aktienvermögens. Die wird – indirekt über die Entwertung der Rentenanwartschaften und generell aufgrund des Bewertungsverlustes – zu massiven Einschränkungen bei den langlebigen Anschaffungen führen.
Weil sich die Leute erst mal kein neues Auto kaufen?
Ja, ganz gleich wie 2008/2009 verschiebt man den Autokauf und den aller anderen langlebigen Investitionsgüter. Das wird Deutschland sehr spezifisch und massiv betreffen.
Der nächste Dominostein wäre dann der, dass die Firmen ihre Produkte nicht mehr verkaufen können und deshalb Arbeitskräfte freistellen oder kündigen?
Sicher. Aber zuerst gibt es jetzt noch einen dritten Faktor, der eine Rolle spielt: der Erdölpreis, der nicht nur wegen Corona, sondern noch aus anderen Gründen auf ein extrem niedriges Niveau gefallen ist. Dadurch erhält der Welthandel einen zusätzlichen Dämpfer, weil die Exporte in die Ölförderländer einbrechen werden. Aber der niedrige Ölpreis wäre – entgegen dem, was man vermuten würde – auch fürs Klima katastrophal.
Wie das? Erst gehen doch die CO₂-Emissionen massiv zurück, wenn kein Flugzeug mehr fliegt und die Industrie brachliegt.
Sicher. Aber langfristig würde ein derart niedriger Ölpreis bedeuten, dass all die wunderbaren Vorhaben, wie jene von Frau von der Leyen zu einem „European Green Deal“, Makulatur wären. Warum? Die basieren ja alle darauf, die CO₂-Emissionen entweder durch eine CO₂-Steuer oder den Emissionshandel einzugrenzen. Letztere wären aber bei einem derartigen Ölpreisrückgang, besonders wenn er längere Zeit so bleibt, nicht mehr in der Lage, Preisanreize zu setzen, die nachhaltig sind, weil die Ölpreissenkung alles konterkariert.
Zur Person

Foto: Reiner Zensen/Imago Images
Stephan Schulmeister, 72, hat als Ökonom am Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung Wien (WIFO) gearbeitet. Für sein Buch Der Weg zur Prosperität – ein Angriff auf das neoliberale Paradigma – erhielt er 2020 den Wissenschaftspreis der Keynes-Gesellschaft
Und wie geht es dann weiter? Wann schlägt die Corona-Krise auf die Banken um?
Das wird sehr schnell passieren, schon in den nächsten zwei oder drei Wochen. Die Banken haben zwar mehr Eigenkapital als 2008, aber das Ausmaß der Aktienkursverluste bedroht natürlich den ganzen Finanzsektor. Ein Indikator dafür ist die Zinssenkung der US-Notenbank am Sonntag: Die war so stark und so überraschend, dass viele sie als Anzeichen dafür lesen, dass auf dem Geldmarkt in den USA bereits Liquiditätsknappheit herrscht und sich die Vertrauenskrise zwischen den Banken wie 2008 wiederholt. Aber das ist nur eine Vermutung.
Mehrere Faktoren kommen also zusammen, mit dem Resultat, dass der globalisierten Wirtschaft, wie wir sie kennen, die Luft wegbleibt, zumindest für eine gewisse Zeit.
Nicht nur für gewisse Zeit. Wenn die Staaten nicht massiv eingreifen, wesentlich stärker als 2009, dann halte ich einen Totalkollaps möglich. Eine Finanzschmelze.
Das wird aber nicht passieren!
Nein, denn die Notenbanken werden auf jeden Fall unbeschränkt Liquidität vorhalten, davon bin ich fest überzeugt. Worauf es aber noch viel mehr ankommen wird, ist, ob die Regierungen den explosiven Anstieg der Arbeitslosigkeit in bestimmten Bereichen radikal abstoppen.
Bis jetzt haben wir ja so getan, als würden Regierungen oder Zentralbanken nichts unternehmen, als würde die ganze Wirtschaft wie ein Dominostein nach dem anderen umfallen. So wird es ja nicht kommen: Was sollte getan werden?
Man müsste sich in aller Nüchternheit überlegen: Welche Unternehmen werden ungefähr welche Umsatzeinbußen erleiden? Der nächste Schritt muss dann sein, diese Einkommensausfälle möglichst sofort, wenn auch nicht in vollem Ausmaß, zu kompensieren. Nicht nur für Arbeitnehmer, wie 2008, sondern auch für Selbstständige. Also viel radikalere Maßnahmen als das deutsche Kurzarbeitsmodell im Jahre 2009, weil jetzt vom Volumen her viel mehr abgefangen werden muss. Österreich hat eben ein Kurzarbeitsgeld eingeführt von bis zu 100 Prozent, also selbst dann, wenn der Laden für einige Zeit völlig schließt. Natürlich reagieren die Leute, wenn sie nicht gekündigt werden, sondern weiterbeschäftigt sind, ganz anders. Das wird natürlich sehr viel kosten, aber Budgetdefizite von fünf bis zehn Prozent des BIPs sind meiner Ansicht nach absolut unvermeidlich.
Wie lange kann sich eine Regierung das leisten?
Das ist vollkommen egal.
Na ja, aber wenn Sie sagen, zehn Prozent Defizit, wie lange kann ein Land wie Italien das durchhalten?
Wir können auch 15 Prozent Defizit machen, das ist wurscht! Die Zinsen bleiben, wenn jetzt nicht die Finanzschmelze kommt, noch mindestens 20 Jahre bei null. Das geht ja gar nicht anders. Man kann es auch so interpretieren: Jetzt tritt der Unrat, der sich über 35 Jahre in diesem dysfunktionalen Finanzkapitalismus aufgestaut hat, zutage.
Werden wir jetzt auch eine Staatsschuldenkrise erleben?
Nein. Eine Staatsschuldenkrise gibt es immer nur dann, wenn Staaten versuchen, notwendige Schulden zu vermeiden. Aber stellen Sie sich vor, alle Länder in Europa machen Budgetdefizite von 5 Prozent, 15 Jahre lang. Der Schuldenberg erreicht dann irgendwann 200 Prozent des BIP. Sagen wir, wir nehmen all diese Schulden bei einem "Europäischen Transformationsfonds" auf, der sich bei der EZB refinanziert. Damit schaffen wir vernünftige Dinge: Ein riesiger Green New Deal, Hochgeschwindigkeitszüge statt Flugverkehr, der gesamte Wohnbaubestand in der EU wird energetisch saniert und so weiter. Nach 15 oder 30 Jahren haben wir eine wirklich ökologisch sanierte Ökonomie, aber riesige Schulden. Dann erlässt der Fonds den Staaten die Schulden und wird aufgelöst, die EZB hat ein negatives Eigenkapital von paar Billionen, und das wird durch eine "Neustartbilanz" entsorgt.
Ein bisschen wie nach einem Krieg?
Ja, de facto hätte die Zentralbank dann die Staaten finanziert, um vernünftige, ökologische Investitionen zu tätigen, und ihnen dann die Schulden erlassen.
Macron will plötzlich Gesundheit „außerhalb der Marktgesetze“ regeln, Spanien stellt private Kliniken unter staatliche Kontrolle: Wird die politische Ökonomie nach der Krise eine andere sein?
Mein Post-Krisen-Szenario geht davon aus, dass die Finanzmärkte entmachtet werden. Das wäre ein Leichtes, wenn die Politik nur will. Zum Beispiel kann man einen europäischen Währungsfonds gründen, der den Marktakteuren die Möglichkeit nimmt, auf den Staatsbankrott von Euroländern zu spekulieren. Technisch-ökonomisch wäre das überhaupt kein Problem. Wir sehen ganz außergewöhnlichen Zeiten entgegengehen, daher muss man sich außergewöhnliche Gedanken erlauben.
Ist jetzt die Stunde gekommen für ein bedingungsloses Grundeinkommen oder für Helikoptergeld von der Zentralbank, 10.000 Euro für jeden? Manche fordern Konsumgutscheine.
Ich glaube nicht. Jetzt werden manche Unternehmen und Menschen viel stärker betroffen sein als andere. Eher als Helikoptergeld bräuchte es eine Krisenunterstützung für diese bestimmten Gruppen. Warum sollten Staatsbeamte jetzt Konsumgutscheine kriegen?
Sie scheinen verhalten optimistisch zu sein, dass die Regierungen verstanden haben, dass es jetzt gilt, schnell und drastisch zu agieren, koste es, was es wolle.
So optimistisch bin ich nicht. Die Notenbanken werden alles tun, damit es zu keinem Kollaps kommt, aber das reicht natürlich nicht aus. Ob etwa die deutsche Regierung wirklich mit Absicht bereit ist, im Jahr 2020 ein Budgetdefizit von fünf, sechs oder sieben Prozent zu machen?
Olaf Scholz hat immerhin die Bazooka ausgepackt und ein „unbegrenztes“ Angebot gegeben, den Firmen auszuhelfen.
Wir müssen wissen, was er damit genau meint. Nur Steuerzahlungen zu stunden, das ist viel zu wenig. Eher müsste er allen Unternehmern ihre Gewinnsteuervorauszahlungen erlassen, was einen unglaublichen Einnahmenausfall im Finanzministerium bedeutet. Das ist eine sehr leicht organisierbare Maßnahme, setzt aber voraus, dass Scholz bereit ist, das durch Schulden zu finanzieren, oder zu negativen Zinsen.
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