Stefan Dercon über Entwicklungshilfe: „Geld ist nicht das Problem“
Eliten und Macht Der belgisch-britische Entwicklungsökonom Stefan Dercon hinterfragt, ob Entwicklungshilfe wirklich so viel bewirkt, wie wir manchmal gerne glauben würden
„Entwicklung ist eine Entscheidung“, sagt Stefan Dercon
Foto: Monika Keiler für der Freitag
Stefan Dercon ist Ökonom. Seine Forschungsfrage: Warum bleiben manche Länder und manche Menschen arm? Dercon hat in vielen Ländern, vor allem in Afrika, und in vielen Jobs versucht, Antworten zu finden, unter anderem im britischen Department für Entwicklungszusammenarbeit DFID. Klar, dass man dort nicht amusedwar, als er in seinem Buch Gambling on Development schrieb, Entwicklungshilfe sei nicht entscheidend dafür, ob sich ein Land besser als ein anderes entwickle.
der Freitag: Herr Dercon, in Ihrem Buch vertreten Sie die These, dass die Entwicklungsbilanz eines Landes im Wesentlichen davon abhängt, ob die Eliten sich in einer Art Verabredung dafür entscheiden, die Entwicklung ihres Landes als Ziel anzustreben. Fangen wir so an: Was meinen Sie mit Entwickl
Fangen wir so an: Was meinen Sie mit Entwicklung?Stefan Dercon: Ich komme aus der Armutsforschung. Deshalb ist Entwicklung für mich erst mal ein Mindestmaß an Verbesserung der Lebensbedingungen. Also dass die Menschen sich nicht mehr darum sorgen müssen, woher ihre nächste Mahlzeit kommen soll.Wir setzen oft Entwicklung mit Wirtschaftswachstum gleich.Ja, aber das ist eigentlich falsch. Wachstum ist zwar eine notwendige Bedingung, aber keine hinreichende Bedingung. Klar: Kein Land hat nachhaltig extreme Armut bekämpft ohne Wirtschaftswachstum. Das hat einfach mit der Größe des Kuchens zu tun: Wenn der Kuchen zu klein ist, gibt es nicht genug zu verteilen. Aber Wachstum allein reicht nicht, es muss eine Art von Wachstum sein, das die breite Masse mitnimmt.Ihre These ist, dass die Eliten eines Landes sich für Entwicklung entscheiden, dass sie darauf setzen. Was muss man sich darunter vorstellen?Man hat mir vorgeworfen, dass ich eine etwas zynische Sichtweise auf Eliten habe. Aber ich versuche einfach nur zu begreifen, wie sie funktionieren, egal ob in einem reichen oder armen Land. Eliten tun das, was Eliten nun mal tun: Sie versuchen, an der Macht zu bleiben und sich zu bereichern. Der springende Punkt dabei ist: Es ist nicht zwingend, dass sie dazu auch verabreden, die Entwicklung ihres Landes als Ziel anzupeilen.Machterhalt ist ihr Hauptinteresse, klar. Aber manchmal dient dem Machterhalt auch die Entwicklung des Landes?Genau. Es gibt drei Arten von Ländern, bei denen man das in letzter Zeit sehen konnte: Erstens Länder, die aus einer Phase des Konflikts kommen. Die Zeit danach ist oft davon geprägt, dass die Erwartungen an die Elite steigen. Länder wie Bangladesch oder Indonesien fallen in diese Kategorie: Die Elite hat sich in einem Konflikt durchgesetzt, aber muss nun liefern, um ihren Verbleib an der Macht zu legitimieren. Die zweite Art von Ländern wären zum Beispiel Ruanda oder Äthiopien: Diese Länder haben auch einen Konflikt durchlebt, aber noch zusätzlich den Umstand, dass die Eliten nur einen kleinen Teil der Gesellschaft, eine Minderheit, repräsentieren. Also versuchen sie, dadurch Legitimität zu erlangen, dass sie Entwicklung und steigende Lebensstandards für breitere Schichten anstreben.Ein Zyniker könnte sagen: Wenn die Elite nicht auf Gewalt zurückgreifen kann, um an der Macht zu bleiben, entscheidet sie sich für Entwicklung?Ja, man wählt Stabilität statt Gewalt. Die dritte Art von Ländern wären solche, wo das Kalkül der Eliten nicht nur darin besteht, an der Macht zu bleiben, sondern sie auch damit rechnen, dass sie von der Entwicklung der Gesamtgesellschaft selber besonders profitieren. Manche Länder Südostasiens würde ich zu diesem Typus zählen.Aber es ist doch für einige Länder einfacher als für andere, sich für „Entwicklung“ zu entscheiden, oder? Ein Land wie Bangladesch hat gar keine andere Option, während ressourcenreiche Länder wie die Demokratische Republik Kongo es sich leisten können, vom Export von Rohstoffen zu leben?Das stimmt, aber es ist nicht so einfach: In einem Land wie Bangladesch ist das immer noch eine kollektive Verabredung, die nicht von alleine passiert. Das kann man sehen, wenn man Bangladesch mit Malawi vergleicht: Malawi hat keine Rohstoffe und ist in einer ähnlichen Lage wie Bangladesch, aber trotzdem gibt es diese Art der Verabredung für Entwicklung nicht. Donald Kaberuka, der ehemalige Finanzminister Ruandas und frühere Präsident der Afrikanischen Entwicklungsbank, sagte kürzlich in einem Vortrag: „Entwicklung ist eine Entscheidung.“Das klingt nach einem sehr voluntaristischen Ansatz. Was ist mit Zwängen, Abhängigkeiten, neokolonialen Strukturen?Ich versuche nicht, die Abhängigkeiten zu leugnen, die eine lange Vorgeschichte haben. Aber es ist zu einfach, alles darauf zu reduzieren. Ich folge hier Leonard Wantchekon, einem Wirtschaftshistoriker, der mehr oder weniger sagt: „Wenn man wirklich verstehen will, warum sich ein Land so und das andere anders entwickelt, dann machen die Geschichte und die Institutionen 50 Prozent aus, während die anderen 50 Prozent aus menschlichen Entscheidungen bestehen.“ Das gefällt mir. Natürlich haben China oder Korea eine 2.000-jährige Geschichte von Bürokratie und zentralisiertem Steuerwesen hinter sich, während ein Land wie Malawi erst seit der Unabhängigkeit staatliche Strukturen hat. Aber dasselbe gilt auch für Ghana! Trotzdem haben das Land und seine Eliten einen Weg gefunden, um auf einen viel besseren Entwicklungspfad zu gelangen.Sie argumentieren, dass Entwicklungshilfe eigentlich keinen großen Einfluss darauf hat, ob ein Land einen Entwicklungskurs einschlägt oder nicht.Damit habe ich mir großen Ärger eingehandelt. Um es klar zu sagen: Es geht mir nicht darum, ob Entwicklungshilfe per se wirkt oder nicht wirkt. Mein Punkt ist der: Wir sollten viel bescheidener sein, was die Wirksamkeit der Mittel und der Maßnahmen, die wir unter dem Label Entwicklungshilfe ergreifen, angeht. Ich behaupte, dass wir damit nicht so viel bewirken, wie wir gerne glauben würden. Der Kern meines ganzen Buches ist ja der: Wenn es ein Land gibt, in dem die Eliten – wenn auch teils aus Eigeninteresse – Wachstum und Entwicklung zur Erreichung ihrer Ziele anstreben, können wir als Außenstehende mit ihnen zusammenarbeiten und sollten das auch tun. In Bangladesch und Ghana hat Entwicklungshilfe im weitesten Sinne eine sehr positive Rolle gespielt. Aber wenn man sich Nigeria oder die Demokratische Republik Kongo anschaut, dann fragt man sich, was aus den ganzen Hilfsgeldern geworden ist. Sie haben wenig bewirkt. Ich würde sagen: Dort war Entwicklungshilfe bestenfalls irrelevant, vielleicht hatte sie sogar negative Folgen.Wenn man auf die Homepage des deutschen Ministeriums für Entwicklungszusammenarbeit guckt, dann stehen dort die Entwicklungsziele der UNO im Vordergrund, die Sustainable Development Goals. Sie sehen die eher kritisch.Na ja, niemand ist gegen die SDGs (Sustainable Development Goals)! Aber wenn man sich die Leute anschaut, die sie unterschrieben haben, dann sind mehrere darunter, die wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt sind, andere sitzen wegen Korruption im Gefängnis. Der Umstand, ob ein Land die SDGs unterzeichnet hat, ist ziemlich bedeutungslos. Die Länder, die sich selbst entwickeln wollen, brauchten die UNO nicht, um ihnen zu sagen, was sie tun sollen. Und diejenigen, die andere Ziele verfolgen, machen es sowieso nicht.In Deutschland wird jetzt gefordert, Entwicklungshilfe solle Fluchtursachen bekämpfen.Es gibt nicht sehr viele Belege dafür, dass Entwicklung die Menschen davon abhalten könnte, zu uns zu kommen. Im Gegenteil: Wir wissen, dass Migration zunimmt, wenn ein Land reicher wird.Man braucht Geld, um auszuwandern.Ja, das legen die Fakten nahe. Die Ambitionen steigen, wenn die Lebensstandards steigen. Und was Flucht angeht: Menschen fliehen aus ihren Ländern, weil sie zu Hause kein gutes Leben führen können. In der Regel liegt der Grund dafür in Kriegen, entweder zwischenstaatliche wie in der Ukraine oder Bürgerkriege wie im Sudan oder in Syrien.Elon Musk schrieb vor einiger Zeit auf Twitter: Wenn jemand weiß, wie man den Hunger auf der Welt beseitigt und mich davon überzeugt, dass das funktioniert, würde ich dafür bezahlen. Was würden Sie Musk antworten?Meine Antwort wäre, dass er die Prämisse falsch verstanden hat. Er geht davon aus, dass man mit Geld alles kaufen kann. Wenn Sie mich fragen, wie viel es kosten würde, die Ziele für nachhaltige Entwicklung im Kongo zu erreichen, dann würde meine ehrliche Antwort lauten: Unendlich viel, denn Geld ist nicht das Problem. Entwicklung kann man nicht von der Stange kaufen. Man kann ausrechnen, wie groß die Armut ist, aber deswegen hat man noch keine Mechanismen, um sie zu beseitigen.Ihr Buch handelt von Entscheidungen von Eliten. Die politische Linke redet eher von ungerechten globalen Machtverhältnissen, von Ausbeutung und von neokolonialen Praktiken …Gewiss. Ich respektiere das. Diese Sichtweise ist hilfreich, wenn man kritisieren will, wie die reichen Länder des Globalen Nordens sich verhalten. Wenn ich die Vorstellung kritisch sehe, dass man mit Entwicklungshilfe und Geldtransfer einfach „Entwicklung“ kaufen kann, dann will ich nicht sagen, dass wir nicht allerhand tun könnten, um im internationalen Gefüge Dinge zu verbessern. Zum Beispiel: Länder wie Bangladesch oder Ghana konnten Armut verringern, weil sie von der Globalisierung profitiert haben. Dass die Globalisierung heute einen schlechten Ruf hat, liegt daran, dass wir hier bei uns nicht genug gegen Ungleichheit tun. Oder: Wenn man sich Länder ansieht, in denen Entwicklung am wenigsten stattfindet, dann spielt dort Korruption eine große Rolle. Diese Korruption könnte ohne Steueroasen gar nicht existieren. Auch die Art und Weise, wie reiche Länder ihre Rohstoffe einkaufen, fördert Misswirtschaft.Placeholder infobox-1