Die E-Mail mit dem Angebot war einfach zu verlockend: „Herr A. würde dann vorbeikommen und Ihre Gedanken lesen“, Herr A. habe da so ein Gerät. Was genau Herr A. damit bezweckte und dass das Angebot vom „Junior Consultant“ einer PR-Firma kam – mir war’s egal, auch dass das Ganze offensichtlich etwas mit Marketing zu tun hatte. Gedanken lesen! Einfach so. Na klar sagte ich zu.
Zum vereinbarten Termin erscheinen die Gedankenleser zu dritt: Herr A. mit seinem Gerät, der Junior Consultant und eine Frau, ebenfalls von der PR-Firma. Herr A. erklärt, er arbeite für IQ mobile, eine Tochterfirma des japanischen Unternehmens, das den Gedankenleser entwickelt hat. Das Gerät heißt „Emotion Analyzer“ und besteht aus Kopfhörern, einem Sensor für die Stirn und einem Clip für das Ohr – eine Art Freisprechanlage für mein Gehirn, denke ich. Was dabei wohl zutage kommen wird?
Ich stelle mir vor, wie der Analyzer meinen Bewusstseinsstrom ausspuckt: „Dieser Dialekt Herr A muss Wiener sein ein Jungspund die halblangen Haare nach hinten gegelt bisschen wie Sebastian Kurz kann er das jetzt mitlesen viel Zeit hab ich nicht der Kaffee schon lauwarm habe schlecht geschlafen oder doch gut geschlafen wollte doch noch eine rauchen dieser Sessel seltsam bequem und unbequem zugleich dottergelb plüschig ...“ Und so weiter, seitenlang.
Doch daraus wird nichts: Der „Emotion Analyzer“, so stellt sich heraus, kann überhaupt keine Gedanken lesen. Stattdessen liest er Gehirnströme aus, erklärt mir Herr A., die er mithilfe von Algorithmen in fünf „Emotionen“ übersetzt. Doch auch die Emotionen sind keine: Das Gerät misst, was es misst, und drückt das Gemessene als „Stress, Mögen, Gelassenheit, Konzentration, Interesse“ aus, zeigt deren Auf und Ab dann in einer Grafik in Echtzeit auf dem Tablet, das Herr A. dabeihat.
Ich hatte mir mein Gefühlsleben irgendwie interessanter vorgestellt, vielschichtiger vielleicht und vielfältiger als bloß „toll“ und „nicht toll“, „gestresst“ oder „entspannt“ und „Gefällt mir“ oder „Finde ich kacke“, aber nun ist es einmal so. Das Ganze sei von einer japanischen Firma entwickelt worden, sagt Herr A., Dentsu Science Jam, basierend auf jahrzehntelanger Forschung.
Herr A. richtet den Analyzer auf meinem Kopf aus. „Wir haben ein Signal“, sagt er, „bitte die Augen schließen, die Kalibrierungsphase dauert nur eine Minute. Entspannen Sie sich einfach.“ Was das heißen solle, „kalibrieren“, frage ich. Herr A. sagt, erst mal müsse das Gerät ein Signal finden, in meinen Gehirnströmen. „Ich bin ja kein Handy“, sage ich, „wo das Signal auf einmal weg ist.“ Genau so ist es auch, der Analyzer kalibriert sich ein, und ich sitze da, mein „Mögen“, meine „Gelassenheit“, mein „Interesse“ und Desinteresse werden in Echtzeit angezeigt, auf einer Skala von 0 bis 100.
Ich kann meine eigenen „Emotionen“ jetzt live auf dem Tablet-Bildschirm von Herrn A. mitverfolgen, aha, das Interesse steigt sprunghaft an, während A. etwas erklärt, zum Glück, er kann es ja sehen, wenn mein „Mögen“ in den Keller sinkt, sobald ich mich ihm zuwende. Jetzt geht der Stresspegel rauf. „Ein krasses Gefühl“, sage ich. Ich bin jetzt völlig transparent. „Deswegen ging der Stress rauf“, sagt Herr A.
Japan nutzt das in der Pflege
In Japan gebe es schon einige Krankenhäuser, erklärt die Frau von der PR-Firma, die den Analyzer bei der Arbeit mit älteren Menschen einsetzen, die sich nicht mehr mitteilen können. So werde gemessen, wie sich die Menschen fühlen, wenn man sie pflegt oder wenn ihre Verwandten sie besuchen.
Ich könnte mich ja eigentlich schon noch mitteilen, trotzdem spricht jetzt mein „Bauch“ über das, was ich sage, einfach drüber. Mal sehen, wie mein Bauch sich zwischenmenschlich schlägt. Höflichkeit, Heuchelei und gespieltes Interesse dürften ja zuerst wegfallen. Jetzt, als die Frau der PR-Agentur gesprochen hat, ist die Aufmerksamkeit wieder sprunghaft angestiegen, aber wenn es anders gewesen wäre? Und war das jetzt interesseloses Wohlgefallen? Oder eher wohlfeiles Interesse? Hätten sie und Herr A. das auch mitgekriegt?
Herr A.s Akzent, das wienerische Hochdeutsch, oder das, was man in Wien für Hochdeutsch hält, weckt in meinem bewussten Ich eher zwiespältige Assoziationen. Ich sage: „Ich mag das, habe ja selbst mal in Wien gewohnt.“ Doch ich muss die ganze Zeit an Sebastian Kurz denken, hoffentlich merkt Herr A. das nicht. „Wir können gerne mal einen kleinen Test machen“, sagt er jetzt, „darf ich Sie einfach bitten, ein paar Bilder anzuschauen? Wir werden danach die Emotionen analysieren, die die Bilder bei Ihnen auslösen.“
Die Bilder sind erstaunlich öde Zufallsfundstücke aus den unendlichen Weiten des Internets: ein weißer Sandstrand in der Karibik, ein treuherzig blickender Welpe, eine Spinne mit Haaren auf den Beinen, dann mathematische Formeln auf einer Tafel, eine Schweinshaxe und ein Pärchen im Fitnesscenter.
Es stellt sich heraus: Mein Bauch ist ein Spießer. Urlaub in der Karibik findet er interessant, Welpen lassen ihn ungerührt, Taranteln lösen bei ihm Stress aus und Game of Thrones kennt er nicht. Einzig überraschend: Für Schweinshaxen interessiert er sich überhaupt nicht, stattdessen für Salat und Schokotörtchen. Vielleicht sollte ich doch endlich Vegetarier werden, denke ich, das hat auch mein Hirn in letzter Zeit immer öfter überlegt.
Was genau misst Herr A. eigentlich an mir? Das Schokotörtchen erinnert mich an jenes, das ich vor ein paar Tagen mit meiner Tante verspeist habe, wir haben nett geplaudert – denkt mein Bauch jetzt an sie oder den Zucker? Herr A. erklärt, genau darum gehe es: alle Assoziationen, die Probanden mit bestimmten Bildern verbinden, abzufragen und das rauszufiltern, was persönlich ist, darauf dann die Werbung maßzuschneidern. Weil – das Neuromarketing wisse das schon länger – Kaufentscheidungen erfolgen ja sowieso zu 90 Prozent unbewusst.
Nach dem Testbildgegucke sagt Herr A.: „Das Gerät rennt jetzt noch ein bisschen weiter mit und zeigt Ihre Emotionen live“, mein Bauch bleibt ein offenes Buch. A. erklärt, der Sinn der ganzen Sache sei es, alles, was man „abtesten“ kann, also Werbespots, Produkte, Marken, auch mit dem „Emotion Analyzer“ zu untersuchen. Dann könne man vergleichen: Wie sehen die Menschen bewusst einen Werbeclip? Wie bewerten sie ihn in Fragebögen? Was sagt ihr Bauch dazu? Das gehe teilweise schon ziemlich auseinander.
A. zeigt mir noch ein Werbevideo, wie in Australien eine Bekleidungsfirma das Gerät dazu eingesetzt hat, Kunden Entscheidungshilfe zu geben: Weil sie sich unter Hunderten von T-Shirts nicht entscheiden konnten, ließen sie ihren Bauch ran, um zu kapieren, „was sie wirklich wollen“. Manche Ergebnisse waren „toll“, manche „ziemlich fragwürdig“, ganz, wie man das erwarten würde.
Ist das das Marketing der Zukunft? Direkt in Ihrem Bauch gemessen? Und wenn der Bauch dann auch gleich Ihre Kontodaten hätte? Ich erinnere mich an eine Geschichte aus den USA: Dort hat sich herausgestellt, dass die Hälfte der Online-Shopper Dinge im beschwipsten Zustand bestellt. Eine Firma hat dann genau das zu ihrem Geschäft gemacht: „Überraschen Sie Ihr nüchternes Ich!“, mit all dem Kram, den Sie betrunken einkaufen. Hier könnte man live zugucken, wofür das eigene Unbewusste Geld auszugeben bereit wäre.
Herr A. erzählt, man habe schon einige „namhafte Kunden“ an Land gezogen, die den „Emotion Analyzer“ einsetzen, allerdings seien sie schweigsam, was das betrifft, und er könne ihre Namen jetzt auch nicht nennen. Aber da sei Verschiedenes dabei, Kommunikationsbranche, Finanzsektor, Tourismus. Vor allem in Österreich, Deutschland hinke noch etwas hinterher.
Dann bemerkt Herr A. einen kleinen Stresspeak auf dem Monitor. Kommt der daher, dass mein Kopf genug davon hat, von meinem Bauch überstimmt zu werden? Vom drängenden Redaktionsschluss? Herr A. nimmt mir das Headset meines Unbewussten ab. Es fühlt sich gut an.
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