Die Melancholie der Grenzgänger

Spaltungsfiguren Klaus Schlesingers nachgelassenes Prosafragment "Die Seele der Männer"

Klaus Schlesinger, der vor zwei Jahren 64-jährig viel zu früh an Leukämie starb, gehört zu jenen wenigen Menschen, die einem an allen Ecken und Enden fehlen, nicht nur in Berlin, sondern auch in der so genannten "Berliner Republik". Dabei war er in beiden deutschen Staaten zeitweise ein Gejagter und musste Schläge über Schläge einstecken. "Die Wahl zwischen der BRD und der DDR war mir schon immer vorgekommen wie die Wahl zwischen Pest und Cholera. Oder zwischen der luxuriösen und der gemütlichen Grube. Was soll ich für einen Grund haben, der einen nachzuweinen oder die andere zu feiern? In beiden Ländern ist es mir bekleckert genug gegangen, und ich sehe nicht ein, warum ich die paar Freuden, die ich natürlich auch hatte, den Systemen zuschlagen soll.", resümiert er 1993.

Der bekennende Ost-68er, Erstunterzeichner der Biermann-Petition 1976, der 1979 aus dem Schriftstellerverband und ein Jahr später aus der DDR-Geschasste, der Charlottenburger Hausbesetzer in den Achtzigern, der als Anarcho-Sozialist in den neunziger Jahren subtil Beschimpfte, dieser Klaus Schlesinger strahlte etwas Kostbares aus: Seine Fähigkeit zur neugierigen Einfühlung in seine Gesprächspartner, zur analytischen Schärfe im Reflektieren von Gesellschaftsumständen war durch einen Gerechtigkeitssinn grundiert, der Vertrauensvorschüsse gegenüber anderen und das Vermögen zur Güte einschloss. Eine Güte, die nicht naiv fundiert, sondern von einer schwer erklärbaren ruhigen Weisheit getragen war, durch die heftigen Bewährungen des Lebens beglaubigt. Seinen sozialen Sinn und das Faible für die Alltagssprache der kleinen Leute allein mit seinem Herkommen aus dem Berliner Proletariermilieu zu erklären, greift sicher zu kurz. Mitzudenken ist da auch die Perspektive des jugendlichen Abenteurers im Vier-Sektoren-Berlin nach 1945, dessen "Obsessionen der Fußball und die Straßenclique, die sich auf dem Helmholtzplatz regelmäßig Bandenkämpfe mit ihresgleichen lieferte", waren, der sich amerikanischer Jazz-Musik ebenso begeistert zuwenden konnte, wie er sich erschüttert in die östlichen Aufklärungshefte zu Auschwitz vertiefte. Dass die Zusammenschau des erzählerischen Werks Schlesingers zu einer ungemein aufregenden Zeitreise einladen könnte, hatte man immer schon vermuten können, bestärkt durch eine konzis geführte Befragung zu Leben und Werk, die Jürgen Krätzer mit Hallenser Studenten 1999 für "die horen" unternahm. Deshalb sei dem Aufbau-Verlag Respekt gezollt, dieses spannende Interview mit seinem letzten Großtext-Entwurf und dem Erzählwerk aus vier Jahrzehnten zu veröffentlichen.

Die Seele der Männer ist das 90-seitige, autobiographisch eingefärbte Romanfragment überschrieben, das der Autor seiner Krankheit abgerungen hatte. Im Berliner "Literaturforum im Brecht-Haus" stellte jüngst Eduard Schreiber seinen Dokumentarfilm schlesinger. berlin vor, in dem der Schriftsteller Auskunft gibt über die Umstände, die den Oberschüler als Laboranten im Ostberlin der fünfziger Jahre in eine Weißenseer Chemiebude verschlugen. Den Jugendlichen trieb es nach der Ostberliner 1.-Mai-Demonstration zur Westberliner Kundgebung, wo er ausliegende Marshall-Plan-Glanzbroschüren abgriff und über die Sektorengrenze trug. Das Herumzeigen am nächsten Tag in der Schule reichte für eine Relegierung. Fotografien aus jener Zeit zeigen einen lebenslustigen jungen Mann mit Elvistolle, im Weißkittel des Laboranten unter Kollegen, mit Petticot-bewehrten Damen beim Tanzvergnügen oder starverdächtig posierend im Boxring der "BSG Aufbau Pankow". Dass das Leben "gewöhnlicher Leute" (Werner Bräunig) im Ostberlin zwischen 17. Juni 1953 und Mauerbau nicht nur von depressiver Geducktheit, Wirtschaftswunderneid und Fluchtgedanken geprägt war, daran ist angesichts von Guido-Knoppschen Endlosschleifen oder ARD-Telenovelas zum 17.Juni in der Manier Shdanowscher Hammer-Ästhetik unbedingt zu erinnern. Sieht man von Uwe Johnsons Werk, Christa Wolfs Nachdenken über Christa T. und Fritz Rudolf Fries´ Der Weg nach Oobliadooh einmal ab, waren die allermeisten Prosaversuche über gelebtes Leben in der DDR der fünfziger Jahre allemal kalterkriegsgefönt und schleiften stets mit den "positiven" oder "negativen" Helden die einhellige Botschaft der "richtigen Seite" mit.

Auch Schlesinger hatte vor allem interessiert, wie Lebensgeschichten mit der Geschichte kollidieren, aber er hat erstere nie zum Vehikel der Haupt- und Staatsaktionen degradiert. Schlesinger nannte sein letztes Projekt liebevoll-ironisch "Liebe in den Zeiten der volkseigenen Betriebe" oder kurz "VEB". Das ist mehr als ein nebensächliches Detail aus der Schriftstellerwerkstatt. Mit dem jungen Chemielaboranten Brehm wird der Leser in Gepflogenheiten, Riten, Geschlechterbeziehungen, die subtilen Machthierarchien in einem Ostberliner Betrieb Mitte der fünfziger Jahre eingeführt. In der Akribie, mit der der frühere Reporter längst ins Vergessen abgesunkene Gerüche und Modewörter, Haushaltsgegenstände und Musikstücke zu erinnern vermag, ist Schlesinger schwer zu übertreffen. Er führt uns in jene Zeit, in der sich die sozial-politischen Verhältnisse zu festigen begannen, die nach dem 17. Juni bis zum Ende der DDR für das Verhältnis von Führungsschicht und den gar nicht so wertneutral titulierten Werktätigen prägend sein sollten. Der Mainstream der DDR-Forschung unterschlägt aus durchsichtigen Gründen gern die Konsequenzen jenes Agreements, das in der Praxis getroffen wurde: Die politischen Machtverhältnisse erschienen fortan unangreifbar, die mikrosoziale Verfügungsgewalt aber war "arbeiterlich" (Wolfgang Engler) durchherrscht, wie auch das kulturell-soziale Zepter den Arbeitern oblag. In der Figur von "Paulchen", einem mit allen Wassern gewaschenen Gewerkschaftsfunktionär, zeigt Schlesinger die DDR-eigentümliche Transformation dieser Regelwerke: So sorgte jener dafür, "daß der Westflüchtling Konny Sander mit umgewidmeten Mitteln aus dem Kulturfonds neu eingekleidet und mit einer Anderthalb-Zimmer-Wohnung aus dem Notkontingent des Stadtbezirks versorgt wurde."

Die in Gewerkschafts- und Parteifunktionären personalisierte Verlagerung etwa von kommunalen und kulturellen Aufgaben in die Betriebe wurde in DDR-Nachbetrachtungen vor allem als Ausdruck systemischer Unterkomplexheit im Staatssozialismus interpretiert. Andererseits begann der Betrieb als Ort sozialer Kommunikation eine ganz andere Rolle zu spielen als unter Bedingungen maximaler Verwertung der Ware Arbeitskraft. Betriebskulturhaus, -ferienlager, -kindergarten, die Arztstation und der Betriebsausflug - diese in der Geschichte der DDR herausgebildeten Scheinselbstverständlichkeiten institutioneller Art wurden nicht zufällig als die ersten Burgen marktwirtschaftlicher Ineffizienz nach 1990 geschleift. Schlesingers Prosafragment liefert einfach zu viele Bezeichnungsindizien, als dass nicht auf die Intention geschlossen werden kann, Rohformen eines anderen Miteinanderumgehens in jenem Moment zu erinnern, in dem sie aus der Erfahrungsrealität in die Saga entsorgt werden. Ob in der Schilderung eines Betriebsausfluges mit der "Weißen Flotte", bei dem sich zwischen Brehm und einem "Engel namens Bea" etwas ereignet, "von dem er bisher nicht gewußt hatte, daß es existierte", ob in der Darstellung eines gewiss nicht hektischen Inspektionsganges des Laboranten durch die Chemiebude - ein eigentümlich entspanntes Selbstvertrauen zeichnet die Hauptfigur aus, das mit einem wie selbstverständlichen Eingebundensein in Betriebsintimitäten korreliert. Es steht zu vermuten, dass der Autor den sich notwendigerweise entwickelnden Konflikten kräftig Raum gegeben hätte - Andeutungen hierfür liefert die Exposition allemal. Die entspringt wie oft in Schlesingers Prosa weniger dem Bedürfnis nach sentimentalisch-idyllischer Rückbesinnung denn dem Impetus, spätere Desillusionierungen noch einmal an die Chancen des Beginnens rückzubinden. Diesen Grundimpuls im Schaffen Schlesingers noch einmal mitverfolgen zu können, gehört zu den Vorzügen des Sammelbandes.

"Die Spaltungen des Erwin Racholl", jene Hauptgeschichte aus dem Berliner Traum Fünf Geschichten, gehört ganz sicher zum bleibenden "Best of" der Literatur, die in der DDR geschrieben wurde. Dass sie überhaupt 1977 im Hinstorff-Verlag erscheinen konnten, grenzte an ein Wunder, freilich gab es eine zweite Auflage erst elf Jahre später. Die damalige Lektüre war auch deshalb erregend, weil so offensichtlich lustvoll mit Tabuthemen wie dem 17. Juni oder der Mauer gespielt wurde. Allein die Eröffnung der Geschichte, in der der höhere DDR-Angestellte Racholl mit der U-Bahn über die "Endstelle" Thälmannplatz hinaus in den Westteil der Stadt gelangt, dürfte eine der verbreitetsten Traumata-Träume der Ostberliner punktgenau getroffen haben. Was diese Geschichte aber auch heute noch so patinaarm aussehen lässt, ist das komplexe Ineinandergreifen von Zeitgeschichte und erzwungener Lebensbeichte des Protagonisten, von Tribunalgeschehen und innerer Haltungssuche. Schlesinger mischt hier Berliner Milieurealismus mit einer an Kafkas "Prozess" angelehnten Verunheimlichung der Situation und surrealen Traumsequenzen. Wie vor einem Parteigericht in einer Westberliner Kneipe die Fassaden des Funktionärs Erwin Racholl bröckeln, sich in die Spaltungsfiguren seines Ich die Spaltungen der Stadt Berlin und der Welt in dieser Zeit einzeichnen, das ist immer noch hoch erregend zu lesen. Welch phantastischer Kunstgriff, ein Parteiverfahren nach Westberlin zu verlegen und neben Oberverhörer Genossen Leo und Ostberliner Behörde-Adjudanten auch Sprecher des linken Westberliner Milieus eingreifen zu lassen. Prophetisch wird hier das ganze Dilemma der Linken in West und Ost in ein gespenstisches Tableau geführt. Die bürokratischen und pseudorevolutionären Phrasen sind ihres Ausganges in den Kämpfen um ein besseres Leben für alle bereits weitgehend enthoben: Wenn der in die Enge getriebene Racholl in höchster Verzweiflung das Wort "Seele" in den Mund nimmt, erinnert der Wertungskontext grotesk an den Marxschen Anspruch auf das Glück des einzelnen in einer emanzipierten Gesellschaft. Als Racholl schließlich aus dieser Versammlung von Beschädigten, Machtzersplissenen und Dogmatikern die Flucht ergreift, begegnet er am Ende der Dienstfahrt in der U-Bahn-Station Pankow-Vinetastraße - sich selbst, gegenüber auf der Bank sitzend. Im romantischen Topos des Doppelgängers werden nach dem Erzählungsverlauf Identität, Differenz und Lebensalternative des Individuums in der geteilten Welt im Moment der Selbstbegegnung eingefroren.

Dass von dieser Erzählung aus der Bogen zu seinem späten Doppelgänger-Roman Trug (2001) ebenso zu ziehen ist wie zur Seele der Männer, liegt auf der Hand. Wie auch die Konstellationen von Vertrauen und Verrat das gesamte erzählerische Werk durchzieht: Sie bestimmt bereits die Erzählsituation in Schlesingers erster Erzählung David, die 1960 in der neuen deutschen literatur erstabgedruckt worden war. Der Kinderkurier David fällt während des Warschauer Ghetto-Aufstandes einem deutschen Vernehmer in die Hände, der das kindliche Anlehnungsbedürfnis geschickt auszunutzen weiß, die gewünschten Informationen über Verbindungswege der Aufständischen zu entlocken. Noch erscheint die Erzählabsicht allzu durchsichtig, noch ist der Beschreibungsaufwand unverhältnismäßig, entsteht durch erkennbar angelesene Charakterisierungen mentaler Physiognomien und Mehrfachattributierungen der Eindruck einer gewissen Ungelenkheit. Die Tätigkeit als Reporter in der Aufbruchsphase der sechziger Jahre hat dem später unverkennbaren Andeutungs-, Lakonie- und understatement-Stil der Schlesingerschen Prosa sichtlich gut getan. In der Erzählung Neun 15 Jahre später gibt es eine vergleichbare Grundsituation - der Verrat des Erwachsenen an einem Kind. Hier überzeugt Schlesinger gerade in der Beschränkung, strikt auf die Sicht des Kindes einzublenden, dessen Vater sein Versprechen, ihm zum neunten Geburtstag einen Rundflug über Berlin zu schenken, vergessen hat.

Immer wieder fasziniert an Schlesingers Prosa die Leichthändigkeit, mit der er politische Kontexte im Nebensatz verpacken kann, dafür aber um so genauer den Konsequenzen in den Entscheidungsnöten seiner Figuren nachgeht und die verwickeltsten Sujets in einen echten Erzählfluss verwandelt. Genau dies macht den Unterschied aus zu jenen grobschlächtig-pappenen Erzählmustern von Neutsch bis Loest aus: Im Machtwahn ihrer Erfinder entwarfen und entwerfen sie eine gesellschaftspolitische Repräsentanz ihrer Hauptfiguren reißbretthaft mit schielendem Blick auf das jeweils Opportune.

Klaus Schlesinger: Die Seele der Männer. Die Erzählungen, Aufbau, Berlin 2003,
368 S., 17,90 EUR

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