Im Kern: Judenfeindschaft

Definitionsfrage Was ist Antisemitismus? Die „Jerusalemer Erklärung“ will eine neue Debatte anstoßen
Ausgabe 14/2021

Die Befassung mit dem Antisemitismus erfordert mitunter starke Nerven. Bei wenig anderen Themen fließen Gelehrsamkeit und emotionales Engagement so leicht ineinander, man denke an die Feuilleton-Schlacht um Achille Mbembe vor Jahresfrist. Außenstehende gehen – ganz weitgehend zu Recht – davon aus, es müssten sich alle einig sein in der Ablehnung dieser mörderischen Ideologie. Woher dann das notorische Rumoren auf diesem Terrain?

Im Land des Holocaust und im Staat vieler Überlebender ist Antisemitismus natürlich ein neuralgischer Punkt. Zudem trägt aber – hierzulande, in Israel und allgemein – noch ein Anderes zu diesen Dissonanzen bei. Zwei zunächst getrennte Problemlagen durchdringen sich auf eine nicht immer erkenntnisfördernde Art: der verfahrene, immer wieder gewaltförmige Konflikt in Nahost und die Bemühungen um eine wissenschaftliche Bestimmung von Antisemitismus.

Aktuell kulminiert dieses Dilemma im Streit um die „Arbeitsdefinition Antisemitismus“ der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA). 2016 verabschiedet, wurde dieses Dokument inzwischen von weltweit über 450 staatlichen und zivilgesellschaftlichen Körperschaften übernommen. Hierzulande sind darunter nicht nur mehrere Bundesländer und Kommunen, die Hochschulrektorenkonferenz und diverse Monitoring-Stellen. Auch der Bundestag hat diese Definition hervorgehoben, die Bundesregierung hat sie „indossiert“.

Das zeigt ein erfreuliches Anwachsen institutioneller Aufmerksamkeit. Doch zugleich liegt darin viel Konfliktpotenzial. Denn die IHRA-Definition ist umstritten, vor allem wegen ihrer nahostpolitischen Schlagseite: Anhand ihrer Kriterien und durch eine verbreitete, nicht immer kontextsensitive Anwendung kann recht niedrigschwellig als „israelbezogener Antisemitismus“ erkannt werden, was – eben kontextabhängig – auch als berechtigte oder zumindest durch Meinungsfreiheit geschützte Kritik an Geschichte und Praxis der Besatzung im Westjordanland gesehen werden kann. Als zwar mitunter radikale Kritik und auch Feindschaft, aber Kritik oder Feindschaft als Ausdruck eines realen Konflikts und nicht einer Verschwörungstheorie.

Derzeit sind etwa die USA und Großbritannien Schauplätze dieses Streits, der sich dort – nicht nur, aber besonders – zwischen jüdischen Personen und Gruppierungen entspinnt. In den USA wendet sich ein Netz progressiver jüdischer Organisationen wie J-Street gegen die Ankündigung der neuen Präsidialadministration, sich die IHRA-Definition zu eigen zu machen: Zu leicht sei diese für falsche Antisemitismusvorwürfe zu missbrauchen. In Großbritannien, wo der Bildungsminister 2020 mit Kürzungen für Unis drohte, die jene Definition nicht übernehmen, kam jüngst eine Kommission des renommierten University College London zu dem Schluss: Bei einer dringlichen konzertierten Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus sei die IHRA-Definition nicht hilfreich.

Zwei neue Vorschläge

Der politische Streit um die IHRA-Definition wird anhalten. Und auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ihr – eng mit der politischen verbunden – bekommt nun neuen Stoff. Im März 2021 wurden gleich zwei alternative Definitionsvorschläge für Antisemitismus vorgelegt. Erst veröffentlichte in den USA eine als „Nexus-Taskforce“ auftretende Gruppe das Papier „Antisemitismus und seine Verbindungen zu Israel und Zionismus“. Dieses interveniert vor allem dortigen Kontroversen um die Demokratische Partei sowie die Biden-Administration und erfährt im progressiven jüdischen Spektrum Unterstützung. Nun kam vor wenigen Tagen – mit einiger Medienaufmerksamkeit – die „Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus“ (JDA) hinzu, die aus Workshops am dortigen Van-Leer-Institut hervorgegangen ist und von einer beeindruckenden Vielfalt an prominenten, überwiegend jüdischen Wissenschaftspersönlichkeiten aus aller Welt unterzeichnet wurde.

Wo sind nun die Unterschiede? Im Aufbau ähnelt die neue Jerusalemer der älteren IHRA-Definition: Auf einen knappen Kernsatz folgt ein Teil mit Erläuterungen und Beispielen. Erheblich sind die Differenzen bereits im Kern. Für die JDA ist Antisemitismus „Diskriminierung, Vorurteil, Feindseligkeit oder Gewalt gegen Jüdinnen und Juden als Jüdinnen und Juden (oder jüdische Einrichtungen als jüdische).“ Bei der IHRA heißt es: „Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.“

Was darf man sagen?

Die JDA fasst also das Phänomen nicht primär als (sinnliche) Wahrnehmung, sondern umfassender als Feindschaft – mit Elementen von Ideologie und Praxis, von Einstellungen und Strukturen. Schon im Kernsatz, der einen Vorschlag des britisch-jüdischen Community Security Trust erweitert, wird sie präziser als die IHRA, die schon die Quintessenz widersprüchlich und missverständlich lässt – in Formulierungen wie „kann sich als Hass ausdrücken“, „bestimmte Wahrnehmung“ oder „jüdische und nichtjüdische Personen“.

Aber mal ehrlich: Langweilen Sie diese akademischen Erläuterungen? Warten Sie auf die Knaller-Stelle, an der steht, was man über Israel und Palästina „sagen darf“ und wie antisemitisch die BDS-Bewegung ist? Dann sind Sie schon Opfer der Misere, die sich jüngst über das Reden vom Antisemitismus legt: Ausgesprochen oder unwillkürlich wird, was so viel Geschichte hat und eine sehr umsichtige Befassung verdient, zu oft auf ein (nahost-)politisches Cui bono reduziert.

Ein solches Erkenntnisinteresse zielt auf moralische Klarheit. Dabei entzieht sich der dynamische Gegenstand fixierender Definition. Dies zeigt schon der ungewöhnliche Wandel des Wortes „Antisemitismus“ von der Selbstbezeichnung der historischen Bewegung gegen die Judenemanzipation zu einem analytischen Begriff, den heute auch die meisten Antisemiten von sich weisen. Die Wandlungen von Judenfeindschaft sind vielfältig: Lassen sich etwa Diskriminierungen im pharaonischen Ägypten und moderne antisemitische Verschwörungstheorien in eine mehr als nur lose Verbindung bringen? Manche Arbeiten tun das ausdrücklich – während etwa der Historiker David Engel bei solchen Panoramen inzwischen vom Antisemitismusbegriff abrät: Die Phänomene seien besser konkret beschrieben. Eine für jede Zeit und für jeden Ort Gültigkeit anstrebende Definition eines Begriffs wird schnell zur hohlen Phrase.

Die fortschreitende politische Erhebung der IHRA-Definition in einen quasi-rechtlichen Status suggeriert Eindeutigkeit. Tatsächlich vermehren sich aber die Perspektiven. Lange arbeitete die Antisemitismusforschung vor allem geschichtswissenschaftlich und sozialpsychologisch. Nun treten Zugänge aus der Emotions- und Ressentimentforschung sowie aus differenzierungs-, diskurs-, literatur- und kulturtheoretischen Perspektiven hinzu. Sogar die spezifisch linke Debatte um Antisemitismus in der eigenen Geschichte hat einen Begriff geprägt: der „strukturelle Antisemitismus“, der Phänomene beschreibt, die der Judenfeindschaft ähneln, aber kein jüdisches Feindbild haben.

Die verwirrende Begriffs- oder Verständnisvielfalt folgt auch aus dem Wachsen des Feldes. Allein in Deutschland hat sich die Zahl derer, die zum Thema arbeiten, in den letzten beiden Jahrzehnten vervielfacht. Bundes- und Landesprogramme haben eine lebhafte Bildungsanbieterszene hervorgebracht. Zugleich fordert eine auch durch Migrationen wachsende Vielfalt jüdischen Lebens mehr Sichtbarkeit. Die Landschaft verändert sich: Wo hier ein Zentralrat noch für alle Jüdinnen und Juden zu sprechen versucht, kennen etwa die USA längst eine bunte, streitlustige Mischung von jüdischen Positionen, Organisationen und Medien. Bei all dem hängt das Verständnis von Antisemitismus auch von Interessen und Perspektiven der Definierenden ab. Natürlich unterscheiden sich die Sichtweisen (potenzieller) Opfer einer im schlimmsten Fall mörderischen Ideologie von einer mehrheitsgesellschaftlichen Vergangenheitspolitik zwischen Erinnerung, Schuldabwehr und staatlichen Legitimationsbedürfnissen.

Eingespielte Sortierungsreflexe

Diese Gemengelage macht eine allgemein geteilte Definition so wünschenswert wie unwahrscheinlich. Die JDA will nun einen Pflock einschlagen: Ihre Kerndefinition beharrt auf „Judenfeindschaft“ als Begriffsessenz. Das signalisiert Skepsis etwa hinsichtlich des längst nicht mehr nur linken Diskurses um „strukturellen Antisemitismus“, der „verkürzter Kapitalismuskritik“ oder Feindschaft gegenüber Israel unausweichlich eigen sei. Die IHRA bleibt hier hingegen vieldeutig.

Womit wir – endlich? – an dem Punkt wären, der heute einen Artikel über Antisemitismus-Definitionen interessant macht: Antisemitismus mit Blick auf Israel und den Nahostkonflikt. In den konkurrierenden Definitionen geht es hier nicht um den Kernsatz, sondern um die Erläuterungen und Beispiele – oft genug hat man den Eindruck, es würden ohnehin nur diese gelesen. Die IHRA fordert, die Kontexte von Äußerungen zu berücksichtigen, bleibt in deren Bestimmung aber selbst zu vage. Dagegen unterscheidet die Jerusalemer Erklärung im Erläuterungsteil genauer zwischen per se antisemitischen Topoi und Einlassungen, auf die das nicht per se zutrifft, auch wenn sie generalisierte Judenfeindschaft transportieren können. Ein Beispiel für Ersteres ist die Haltung, Jüdinnen und Juden generell Israels Politik anzulasten – und für das Zweite etwa postnationale Lösungsszenarien des Nahostkonflikts. Solchen wird immer wieder pauschal Antisemitismus vorgeworfen. Egal, ob man nun einfach alle Flüchtlinge zurückholen will und sich um die jüdische Bevölkerung nicht schert oder an demokratisch-inklusiven Visionen arbeitet. Sowohl die Nexus-Gruppe als auch die JDA thematisieren antisemitische Motive in der „Israelkritik“. Im Vergleich zur IHRA wird dabei der Rahmen des Legitimen aber anders gefasst. Auch – jetzt kommt der Aufreger – zum Thema „boycott, divestment and sanctions“ steht in der JDA ein Satz, den skandalisieren kann, wer „per se“ und „potenziell“ nicht unterscheiden will. Man mochte wünschen, dass nicht schon das allein zu den üblichen Sortierungsreflexen führen würde. Doch erste Reaktionen stimmen wenig hoffnungsfroh. Die Differenzierung, es müsse nicht jede Form einer solchen Boykottkampagne unentrinnbar antisemitisch sein, wird offenbar einmal mehr als explizite Unterstützung missverstanden.

Auch wenn die Jerusalemer Erklärung ein Fortschritt ist, bleibt eine allgemeinverbindliche Definition von Antisemitismus unrealistisch. Doch braucht es für dessen dringliche Bekämpfung einen geteilten Verständnishorizont. Wenn dieser schon nicht in begrifflicher Übereinstimmung besteht, sollte wenigstens anerkannt werden, dass man im allzu harsch ausgetragen Streit viel zu oft mit dem gleichen Wort im Munde aneinander vorbeiredet. Auseinandersetzungen sollten zum Ausgangspunkt eines Brückenbaus werden, nicht bloß zum nächsten Anlass, sich tiefer einzugraben. Die JDA ist dazu Angebot.

Peter Ullrich ist Fellow am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin. An der „Jerusalemer Erklärung“ hat er mitgearbeitet

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